Freitag, 31. Januar 2014

Philomena

Angesichts der emotionalen, von haarsträubendem Unrecht und bitteren Enttäuschungen durchsetzten Geschichte, die in Philomena erzählt wird, ist es verblüffend, dass sich die Verfilmung von Martin Sixsmiths Tatsachenbericht The Lost Child of Philomena Lee ausgerechnet durch Zurückhaltung und Balance auszeichnet. Auf einen internationalen Trailer voller Tränen und anschwellender Orchestermusik, der ein erhebendes "Inspired by true events"-Märchen versprach, folgt ein durch und durch wohl temperierter Film mit feinem Sinn für die Platzierung von heiteren und ernsteren Tönen, geschrieben von Steve Coogan und Jeff Pope und von Stephen Frears mit stiller Anmut inszeniert.

Ein Grund dafür mag der neu ausgerichtete Fokus sein, den Coogan und Pope nicht auf das eigentliche Buch Sixsmiths legen – die von ihm recherchierte Biografie des amerikanischen Polit-Anwalts Michael A. Hess, der als Kind seiner unverheirateten Mutter, der Titel gebenden Philomena Lee, entrissen wurde –, sondern auf die Reise, in deren Zug sein Buch entstanden ist. Diese beginnt, als er (gespielt von Coogan), ein ehemaliger BBC-Journalist, aus dem öffentlichen Dienst entlassen wird und sich dazu bereit erklärt, für ein Klatschmagazin eine "Geschichte aus dem Leben" über Philomena Lee (Judi Dench) und ihre Suche nach ihrem Sohn zu schreiben.

Manch einen wird der zeitgeschichtliche Hintergrund, vor dem sich Frears' Film abspielt, zu Vergleichen mit Peter Mullans The Magdalene Sisters verleiten. Denn auch Philomena ist als junge Erwachsene den "Magdalene Laundries" anheim gefallen, jenen katholischen Institutionen, in die in Irland bis ins späte 20. Jahrhundert "gefallene" Frauen eingeliefert wurden, um sich die Sünden aus dem Leib zu arbeiten; hatten sie uneheliche Kinder geboren, wurden diese zur Adoption freigegeben. Akten und Belege über diese Machenschaften wurden, das müssen Sixsmith und Lee feststellen, systematisch beseitigt, und auch die Nachfolger der verantwortlichen Priester, Nonnen und Äbtissinnen zeigen sich alles andere als bereit, darüber Auskunft zu geben.

Doch obwohl der Film durchaus auf diese Umstände hinweist – und im Abspann anführt, dass weiterhin Tausende von Frauen Philomenas Schicksal, das ihr weggenommene Kind nicht aufspüren zu können, teilen –, ist seine Haltung zum Geschehen weniger entsetzt als ausgeglichen, ausbalanciert, besonnen. Während Martin mit zunehmendem Furor die Menschen journalistisch zur Rechenschaft ziehen will, die Mutter und Sohn voneinander getrennt haben, lässt seine Begleiterin Milde walten: "I don't want to hate people, like you", sagt sie zu ihm, vergibt ihrer einstigen Peinigerin und ermutigt Martin schlussendlich dennoch, seinen Bericht zu veröffentlichen.

Ein seltsames Paar: Ex-BBC-Journalist Martin Sixsmith (Steve Coogan) hilft Philomena Lee (Judi Dench) dabei, ihren verschollenen Sohn aufzuspüren.
© Pathé Films AG
In Ansätzen widmet sich Philomena auch dem Thema der irischen Diaspora – erkennbar in den Momenten, in denen sich die Titelfigur fragt, ob ihr Sohn wohl jemals an seine Heimat dachte –, doch Frears, Coogan und Pope widmen sich hauptsächlich dem reichen Wechselspiel zwischen Philomena und Martin, das sich als überaus ergiebige Quelle sowohl für Charakterkomödie als auch für legitimes Drama erweist. Die Konstellation lebt von ihrer "Odd Couple"-Dynamik, vom Kontrast zwischen dem weltgewandten Intellektuellen und seinem ländlich-katholisch geprägten Gegenüber. Das Hauptdarsteller-Duo Dame Judi Dench und Steve Coogan harmoniert dabei prächtig miteinander.

Erstere ist es auch, die Philomena in den entscheidenden Momenten die nötige Gravitas verleiht. Ohne sichtliche Mühe schlüpft Dench in die Rolle der Philomena Lee – makelloser Dialekt mit inbegriffen – und vermag so auch dann zu überzeugen, wenn Frears kurzzeitig ins allzu offensichtlich Dramatische verfällt (was hier jedoch kaum je ein Problem darstellt); ihre Leistung in der letzten Szene allein ist eine beeindruckende Demonstration ihrer schauspielerischen Klasse. Sie ist die Krönung eines jener seltenen Filme, die sich keinen Fehltritt erlauben – und dabei keinerlei Anstrengung zu erkennen geben.

★★★★

Donnerstag, 30. Januar 2014

12 Years a Slave

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Der britische Fotograf und Videokünstler Steve McQueen nimmt sich in seinem dritten Langspielfilm des Themas der Sklaverei an. Wie kaum einem anderen Regisseur vor ihm ist es ihm in 12 Years a Slave gelungen, die Ungeheuerlichkeit dieses Unrechtssystems greifbar zu machen.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der aus einer grenadischen Familie stammende McQueen mit einer dornenvollen Materie beschäftigt. So behandelte er in seinem Debüt, dem 2008 erschienenen Hunger, den bis heute kontrovers rezipierten Hungerstreik, welchen irische Republikaner 1981 in einem nordirischen Gefängnis veranstalteten, um gegen ihre Haftbedingungen zu demonstrieren. Auch Shame, sein bislang einziges nicht faktenbasiertes – und zugleich schwächstes – Projekt, das 2011 folgte, eckte an mit seiner Darstellung eines Sexsüchtigen.

Rein inhaltlich bewegt sich McQueen in 12 Years a Slave, der Verfilmung der gleichnamigen Memoiren des frei geborenen Afroamerikaners Solomon Northup (hier gespielt vom starken Chiwetel Ejiofor), welcher 1841 entführt und als Sklave in die Südstaaten verkauft wurde, also auf besser beackertem Boden als in seinen beiden vorangegangenen Filmen. Im US-Kino hat sich über die Jahre ein nicht unerheblicher Sklaverei-Kanon etabliert, zu dem allein Steven Spielberg im Laufe seiner Karriere drei Werke beigesteuert hat (The Color Purple, Amistad, Lincoln). Formal wiederum ist sich McQueen, ein Jünger der russischen Montage-Pioniere Sergei Eisenstein und Dziga Vertov und ihrer Idee der funktionalen, zweckgebundenen Ästhetik, treu geblieben (wenngleich die radikalen Kniffe, welche etwa Hunger zu einem magistralen Experiment machten, fehlen): Die Einstellungen sind lang; das kunstvoll geschichtete Tondesign verleiht dem Film eine dichte, nachvollziehbare Atmosphäre; bei der Darstellung gepeinigter Sklaven wird keines der hässlichen Details ausgespart.

Northups Leidensweg beginnt, als ihn zwei Männer, vorgeblich beeindruckt von seinen musikalischen Fähigkeiten, aus seiner Heimat im Staat New York nach Washington lotsen, von wo aus er nach New Orleans verschifft wird. Gekauft wird er zunächst vom mitfühlenden Pfarrer Ford (Benedict Cumberbatch). Doch nach einem Scharmützel mit einem Knecht (Paul Dano) – eine grandiose, in ihrer Einfachheit erschütternde Szene – wird er an den sadistischen Plantagen-Besitzer Epps (Michael Fassbender) weitergereicht.

1841 wird der gebildete Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) entführt und als Sklave auf die Plantage von Pfarrer Ford (Benedict Cumberbatch) verkauft.
© Ascot Elite
Die grosse Leistung, die McQueen hier erbringt, liegt aber nicht ausschliesslich in seiner schonungslosen Wiedergabe von Northups 1853 veröffentlichtem Tatsachenbericht, sondern ebenso in der gekonnten Vermischung von Form und Inhalt, deren Resultat eine ungemein perzeptive Meditation über die gesellschaftlichen und historischen Implikationen der Sklaverei ist, angefangen bei Kameramann Sean Bobbitts atemberaubenden Aufnahmen: Die überwältigende Schönheit, die er in der Natur von Louisiana findet, steht in scharfem, geradezu ironischem Kontrast zu den Gräueltaten, die Menschen vor diesem Hintergrund verüben. Auch in seinen Charakterisierungen beweist 12 Years a Slave Scharfsinn. Insbesondere der vordergründig sympathische Ford erweist sich als die vielleicht problematischste Figur des ganzen Erzählung, dessen Akte der Güte – Akte, wie sie in (nichtsdestoweniger hervorragenden) Filmen wie John Fords Judge Priest oder dem Selznick-Klassiker Gone with the Wind allzu triumphal inszeniert wurden – letztlich nicht weit von der Scheinheiligkeit entfernt sind. Mit 12 Years a Slave ist Steve McQueen womöglich der definitive Film über das düsterste Kapitel der amerikanischen Historie gelungen.

★★★★★

Donnerstag, 23. Januar 2014

The Wolf of Wall Street

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Ohne jemals die Moralkeule zu schwingen, rechnet Meisterregisseur Martin Scorsese in seiner rabenschwarzen Satire The Wolf of Wall Street mit der absurden Welt der Hochfinanz ab. Drei Stunden der Ausschweifungen, der Exzesse, der Bacchanale – eine brillante cineastische Tour de Force.

Wollte man dieses wilde Treiben, dieses atemberaubende Spektakel, dessen schiere Energie im Filmjahr 2013 wohl nur mit Paolo Sorrentinos Rom-Fellineske La grande bellezza und Spring Breakers, Harmony Korines giftigem Angriff auf die amerikanische Party-Kultur, zu vergleichen ist, mit einem Satz zusammenfassen, so böte sich wohl am ehesten Bob Dylans legendärer Aphorismus "Money doesn't talk, it swears" aus dem Song "It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding)" an – und das nicht nur aufgrund der Tatsache, dass im 179-minütigen The Wolf of Wall Street geschlagene 569 Mal das Wort "fuck" fällt (Weltrekord). Scorsese und Drehbuchautor Terence Winter (The Sopranos, Boardwalk Empire), dem als Vorlage die selbstherrliche und -verherrlichende Autobiografie des ehemaligen Börsenmaklers Jordan Belfort diente, erzählen in ihrem sardonisch lustigen Film von der moral- und menschenverachtenden Gier, mit der an der New Yorker Börse operiert und nach immer grösseren Summen getrachtet wird.

Doch die Frage bleibt, ob man Scorseses unbändigem Epos gerecht wird, wenn man es in einem einzigen Satz resümiert. Denn The Wolf of Wall Street lebt von seiner Ausführlichkeit, von seiner auf einen stringenten Plot verzichtenden Aneinanderreihung immer haarsträubenderer Anekdoten, welche in Retrospektive zu einem Fiebertraum voller Sex, Drogen und Geld verschwimmen. Die Rolle des Zeremonienmeisters – zusammen mit der des Erzähler und des (Anti-)Helden – fällt Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) zu, der, wie einst Nick Carraway in F. Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby (in dessen letztjähriger Verfilmung DiCaprio als die ikonische Titelfigur zu sehen war), 1987 als junger, noch unverdorbener Makler an die Wall Street pilgert, um sein Glück zu machen. Anders als Carraway findet er dort jedoch nicht die kühl-elegante Dekadenz der Zwanzigerjahre, sondern das infernalische Chaos des entfesselten Kapitalismus vor.

Herrschaft des Geldes: Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) steigt rasch zu einem mächtigen Wall-Street-Makler auf.
© Universal Pictures Switzerland
Unter seinem Mentor (Matthew McConaughey) wächst Jordan selber zu einem gnadenlosen Spekulanten heran, dem daran gelegen ist, ahnungslosen Kunden Aktien – erlogenes Geld – zu verhökern, während er die realen Moneten selber einstreicht. Nach dem "Black Monday"-Börsencrash im Oktober 1987 gründet Jordan mit dem Junior-Partner Donnie (Jonah Hill) eine Privatfirma, welche wertlose Aktien zu möglichst hohen Preisen verkauft, um von der hohen Provision zu profitieren. Doch wie Jordan, der sich immer wieder direkt an den Zuschauer wendet, stets betont: Wichtig ist nicht, wie, sondern dass das Geld fliesst.

Und obwohl der Film formal Scorseses Mafia-Panoptiken – GoodFellas (1990) und Casino (1995) – ähnelt, hebt er sich doch von beiden durch seine subversive Leichtfüssigkeit ab: Im Stakkato-Rhythmus wird das Publikum mit famosen Dialogen und abseitigen Szenarien bombardiert, deren oft versteckt unbehagliche Implikationen jeder Kinogänger selbst erwägen muss. The Wolf of Wall Street dürfte somit als Scorseses lustigstes Werk in die Filmgeschichte eingehen, auch dank einer fantastischen Darbietung Leonardo DiCaprios, der sich mit der Verve eines berserkernden evangelikalen Predigers mit erstaunlichem Körpereinsatz in Belforts Exzesse hineinversetzt; sein klimaktischer Quaaludes-Trip ist mit der Beweglichkeit eines Slapstick-Veteranen vorgetragen. Damit stellt Scorsese die Macht der Komödie unter Beweis: Dass sich am Ende seines Films nichts geändert hat, dass die Welt immer noch zum Verkauf steht, dass sich die Menschen immer noch vom Versprechen des schnellen Geldes verführen lassen, ist effektiver als jeder erhobene Zeigefinger.

★★★★

Mittwoch, 22. Januar 2014

A Touch of Sin

In vier aufeinander folgenden, sich dramaturgisch weitestgehend nicht entscheidend kreuzenden Episoden – eine Struktur, die man im ostasiatischen Kino in ähnlicher Form etwa schon in Wong Kar-wais Chungking Express gesehen hat – erzählt der chinesische Regisseur Jia Zhangke (The World, Still Life, 24 City) in A Touch of Sin von den tief greifenden wirtschaftspolitischen Umwälzungen im modernen China und jenen grossen Teilen der Bevölkerung, welche in diesem blindwütig expandierenden Land das Nachsehen haben.

Der Film setzt ein in einer grauen Kleinstadt, die sich in Shanxi, Jias Heimatprovinz, um eine Kohlegrube herum gebildet hat; als Protagonist dient der hochschulgebildete Gewerkschafter Dahai (Wu Jiang). Vor gut zehn Jahren wurden die lokalen Erwerbszonen privatisiert und den Arbeitern wurde eine stattliche Gewinnbeteiligung versprochen. Doch das Geld wird nicht ausbezahlt; Fabrikboss und Bürgermeister lassen die Gewinne in die eigene Tasche fliessen, fahren ungeniert in Maseratis und Audis vor. Frustiert über die Passivität seiner Kameraden – die, entweder eingeschüchtert von den Schlägern der Chefetage oder in Sorge um das eigene Schmiergeld, lediglich darüber scherzen, der illegal erworbene Audi des Industriemagnaten sei doch "Kollektiveigentum" und dürfe somit nicht verkauft werden –, macht sich Dahai daran, gegen die unverhohlene Korruption vorzugehen.

Er verfasst eine Klageschrift, die er jedoch nicht nach Peking abschicken kann, da auf dem Umschlag die Postleitzahl fehle. Den nächsten Versuch startet er, als die versammelte Arbeiterschaft, in der Hoffnung, einen Mehl-Bonus zu erhalten, ihren "geliebten Chef" mit Gesang und Kotaus am Flughafen begrüsst: Dahai spricht den seinem neu erworbenen Privatjet entstiegenen Oligarchen auf die Missstände an und wird sogleich von einem Handlanger mit einer Schaufel verprügelt. Verletzt in seiner Ehre und seinem Stolz, greift er zuletzt zu seinem Gewehr; wie eine Figur aus einem Wuxia-Film (Jia erweist mit dem Titel seines Films dem Wuxia-Klassiker A Touch of Zen seine Reverenz) oder einem Corbucci-Western streift er in famos komponierten Bildern durch das Kohlegruben-Nest und rächt sich an seinen Peinigern.

Gewerkschafter Dahai (Wu Jiang) greift zur Waffe, um gegen die Korruption in seinem Dorf vorzugehen.
© filmcoopi


Diesen Feldzug, der, wie alle Episoden in A Touch of Sin, auf einem wahren Fall beruht, inszeniert Jia weder als marxistisch verklärten Triumph noch als ungeheuerliches Kapitalverbrechen. Vielmehr sieht er darin einen letztlich hilflosen Akt der Verzweiflung eines Mannes, der zwischen die Räder der kommunistischen Bürokratie und der in China um sich greifenden kapitalistischen Profitwirtschaft geraten ist. Maos Mythos der Kollektivherrschaft, so die Andeutung, wurde ersetzt durch die westliche Legende des privatwirtschaftlichen Erfolgs. Für Menschen wie Dahai hat sich aber kaum etwas geändert; sie bleiben gefangen in einem gesichtslosen System, in dem niemand zur Verantwortung gezogen kann und sie stets das Nachsehen haben.

Zugegeben, die Wucht dieser ersten 35 Minuten, welche auch als isolierter Kurzfilm – ein Genre, das Jia keineswegs fremd ist – hervorragend funktionieren würden, vermag A Touch of Sin im weiteren Verlauf nicht mehr einzufangen. Das hat allerdings weniger mit einem Makel in Jias starkem, verbittert-satirischem Drehbuch zu tun als mit der kontinuierlichen Abstraktion, die sein Film vornimmt. Dahais Geschichte lässt sich am leichtesten mit dem überspannenden Motiv des chinesischen Wirtschaftswandels verknüpfen; sie ist politischer, expliziter und abgeschlossener als alles, was folgt.

Da wäre etwa der Wanderarbeiter Zhou San (Wang Baoqiang), der mit seinem Motorrad auf der Suche nach Arbeit das Land durchquert und schliesslich zu seiner Frau am Stadtrand von Chongqing zurückkehrt. Zhou ist ein bizarres Produkt von Chinas ökonomischer Öffnung: Aus anonymen Menschenmengen sticht er dank seiner Chicago-Bulls-Pudelmütze heraus; zu seiner Pistole pflegt er eine enge Beziehung; kaltblütig erschiesst er jugendliche Wegelagerer; mit willkürlichen Raubüberfällen bricht er für kurze Zeit aus der Wanderarbeiter-Tristesse aus.

Zhou San (Wang Baoqiang) durchstreift China als Wanderarbeiter.
© filmcoopi
Ihm folgt Xiao Yu (Zhao Tao), eine Sauna-Rezeptionistin, deren Wut über die Unentschlossenheit ihres verheirateten Liebhabers – ein Szenario, das mitunter an In the Mood for Love erinnert – sich entlädt, als sie von neureichen Kunden angepöbelt wird, nach deren Auffassung der Satz "Wir haben Geld!" genügt, nach Belieben Frauen zur Prostitution zu zwingen. Der vierte von Jias Leidtragenden ist der knapp 20-jährige Xiao Hui (Luo Lanshan), ein Mitglied jener Generation, welche nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 geboren wurde und mit Chinas aufstrebender Drachen-Ökonomie aufgewachsen ist. Xiao entflieht einer ungerechten Doppelschicht in einer Fabrik und heuert in einem edlen Bordell-Hotel im südchinesischen Dongguan als Kellner an, wo er sich ins Escort-Girl Lianrong (Meng Li) verliebt.

Politik ist, anders als bei Dahais Kampf gegen die Windmühlen der korrupten Bürokratie, in diesen Miniaturen kein vordergründiger Akteur; oft liegt es beim Zuschauer zu ergründen, welche Verbindung Jia zwischen den einzelnen Vignetten sieht. Manche enthalten universelle Beobachtungen, so etwa jene Szene, in der Lianrong die neuesten Nachrichten von ihrem iPad abliest und Xiao sie bei jeder Geschichte dazu animiert, den Kommentar "Fick deine Mutter" zu hinterlassen. Jia zeigt eine global vernetzte Jugend, deren Mitsprachebedürfnis auf absurd anmutenden Prioritäten beruht. Auch der Umgang mit der eigenen Geschichte ist ein Thema, für das sich Jia interessiert: Auf dem Weg zur Arbeit trifft Xiao Yu auf einen Marktschreier, der seine Landsleute ins Zelt einer "traditionellen" Schlangen-Wahrsagerin locken will, während im Bordell von Dongguan die Edel-Huren zum Vergnügen ihrer Freier aus Taiwan und Hongkong, begleitet von der chinesischen Nationalhymne, in Militäruniformen aufmarschieren.

"In the Mood for Love": Xiao Yu (Zhao Tao) unterhält eine unbefriedigende Beziehung zu einem verheirateten Mann.
© filmcoopi
Doch A Touch of Sin handelt in seinem Kern, gerade in diesen abstrakteren Episoden, davon, wie tief Chinas ungezügeltes Wachstum bereits in die Gesellschaft eingedrungen ist: Man mag sich im internationalen Vergleich inzwischen mit den USA und der EU messen können, doch parallel dazu verlieren persönliche Bindungen an Bedeutung. Beziehungen werden durch das Eindringen der Wirtschaft in die Privatspähre vergiftet: Xiao Hui verdient nicht genug, um mit Lianrong eine Zukunft gestalten zu können; seine Mutter beschwert sich über die zu kleinen Beträge, die er in die Heimat schickt. Zhou San ist durch seine lange Abwesenheit zum Fremden in der eigenen Familie geworden. Jias Film erzählt von einem China, wie es heute existiert – ein Realismus, der ihm nun den Zorn der staatlichen Zensur eingetragen hat –, doch A Touch of Sin reicht auch über die Grenzen der Volksrepublik hinaus: Ob das System nun Kommunismus oder Kapitalismus heisst, ob Planwirtschaft oder unsichtbare Hand – die Macht liegt in der Hand der Reichen, Mächtigen und Korrupten. Womöglich sind Ost und West doch nicht so verschieden.

★★★★

Dienstag, 21. Januar 2014

Nebraska

Irgendwo in Nebraska vermischt sich die europäische Tradition des absurden Theaters mit dem melancholischen Ende-einer-Ära-Fatalismus, den man aus dem amerikanischen Kino kennt, etwa in Form der Western-Spätwerke eines John Ford – The Searchers, The Man Who Shot Liberty Valance – oder Peter Bogdanovichs Texas-Elegie The Last Picture Show (dessen Schwarz-Weiss-Ästhetik einer US-Kleinstadt Kameramann Phedon Papamichael hier wohl als Inspiration diente).

Wie in den Werken Becketts und Ionescos ist es das Nichts, welches die Figuren in Alexander Paynes grandioser Tragikomödie umtreibt: eine Werbeaktion einer Firma in Lincoln, Nebraska, die den Rentner Woody (Bruce Dern) aus Billings, Montana, glauben lässt, er habe eine Million Dollar gewonnen. Als Woodys unwilliger Sohn David (Will Forte) schliesslich einwilligt, ihn nach Nebraska zu fahren, landen die beiden zunächst in Hawthorne, der alten Heimat von Woody und seiner Frau (June Squibb), wo einstige Bekannte den vermeintlichen Millionär um Geld zu bitten beginnen.

Doch Bob Nelsons Drehbuch erzählt von einer ganz speziellen Art von Nichts: Nebraska, passend unterlegt mit einem simplen, elegischen musikalischen Motiv, ist ein Film über den Zerfall des Mittleren Westens, dem sprichwörtlichen Herzen Amerikas, wo in den Dreissigerjahren Sandstürme die Landwirtschaft ruinierten und danach zahlreiche andere Industrien Fuss fassten, nur um selber, bedingt durch Krisen und Strukturwandel, wieder zu verschwinden. Das Land, welches Woody und David auf ihrer zum Scheitern verurteilten Reise durchstreifen, ist gezeichnet von den Schatten einstiger Grösse, geschunden von dem Untergang geweihten Kohlebergwerken; an den Gebäuden bröckelt der Verputz; selbst der legendäre Mount Rushmore verliert in dieser Landschaft an Grandeur: "It's not even finished", moniert Woody (richtigerweise), als sein Sohn ihn zu einem Zwischenhalt überredet.

Paynes Interesse galt schon immer dem Puls der Zeit: Menschlich anregende, zugleich aber hintergründig satirische Werke bestimmen seine Filmografie, von seinem Debüt Citizen Ruth (1996) über die überraschend erfolgreichen About Schmidt (2002), Sideways (2004) und The Descendants (2011), jenem diskreten Meisterwerk des jüngeren US-Kinos. Sie alle drehen sich, ob direkt oder implizit, um Beziehungen und die Frustration, die ihnen aufgrund gestörter Kommunikation entwächst. Zum einen vertieft Nebraska diesen Fokus; zum anderen erweist sie sich aber auch als Paynes unterschwellig politischste Regiearbeit seit Election (1999).

Woody (Bruce Dern) und sein Sohn David (Will Forte) durchqueren auf ihrem Weg nach Lincoln, Nebraska, das zerfallene Herz Amerikas.
© Ascot Elite
Die Tragödie vom geschundenen, in seinem Pionier-Stolz verletzten Herzen der USA bildet den Hintergrund, vor dem die jahrelang unausgesprochenen Probleme zwischen Vater Woody und Sohn David angesprochen und ausgebreitet werden. Dies hat unübersehbaren Symbolcharakter: Woody, welcher trotzig am Strassenrand entlang geht, um die 800 Meilen zwischen Billings und Lincoln zu Fuss hinter sich bringen, und sich immer wieder auf Dinge beruft, die er "zurückholen" will, wirkt wie ein Relikt aus vergangenen Tagen, in denen Sturheit Entschlossenheit genannt wurde und zu den Kerntugenden des amerikanischen Helden zählte. Nun jedoch schlägt ihm kein Applaus mehr entgegen, sondern das Unverständnis von Frau ("I never even knew the son of a bitch wanted to be a millionaire") und Nachwuchs ("You got enough money to get by. What's the point?") sowie Neid, Gier und Hohn alter Kameraden entgegen.

Aber Nebraska ist nicht zuletzt deshalb der vielleicht beste amerikanische Film seit The Descendants, weil Payne bei aller scharfen Ironie stets die menschliche Komponente von Nelsons Geschichte im Auge behält und dabei Sozialkommentar und legitimes Charakterdrama nahtlos ineinander übergehen lässt, womit er stets sowohl Mainstream- wie Indie-Publikum zu begeistern weiss. Der ungebrochene Optimismus Woodys, sein Wunsch, im Leben noch einmal ein Ziel zu erreichen und seiner Familie dereinst etwas Handfestes hinterlassen zu können, ist so zugleich der Triumph des Pioniergeistes über den zersetzenden Zynismus, der Hawthorne im Würgegriff hält, und ein emotional nachhallendes Element der Erzählung.

In seiner einstigen Heimatstadt trifft Woody auf alte Kameraden, die in seinem angeblich gewonnenen Vermögen die grosse Chance wittern.
© Ascot Elite
Insgesamt ist Nebraska ein stilles Wunderwerk voller perzeptiver, ergreifender und oftmals urkomischer Momente, getragen von herausragenden schauspielerischen Leistungen – sowohl Bruce Dern als auch Will Forte glänzen mit subtilen, nuancenreichen Darbietungen – und Phedon Papamichaels grossartiger Schwarz-Weiss-Fotografie. Alexander Payne einen Platz im Filmemacher-Pantheon zu verwehren, ist mit Nebraska zum Ding der Unmöglichkeit geworden.

★★★★★

Donnerstag, 16. Januar 2014

La vie d'Adèle

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

La vie d'Adèle, Abdellatif Kechiches skandalumwittertes, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes Coming-of-Age-Epos, fasziniert sowohl mit seinen Qualitäten als auch mit seinen Defiziten: Hier behandelt ein virtuoser Cineast ein Thema, welches ihm nur bedingt liegt.

"Je suis femme et je raconte mon histoire" – so lautet einer der ersten Sätze, die im Film gesprochen werden, und er entbehrt, streng genommen, jeglicher Berechtigung. Denn Regisseur und Co-Autor Kechiche ist ein Mann und als solcher, so scheint es zumindest auf dem Papier, nicht die ideale Person, um den Graphic Novel Le bleu est une couleur chaude (2010) auf die Leinwand zu bannen. Verfasst wurde das Werk von Julie Maroh, einer homosexuellen Feministin; es handelt von einer Frau und der Entdeckung ihrer Weiblichkeit und Sexualität sowie von ihrer mehrjährigen Beziehung zu einer anderen Frau. Doch der notorisch umstrittene Kechiche, dessen letzter Film (Vénus noire) sich um Sarah Baartman, die Ikone des afrikanischen Feminismus, drehte, ist ein besonnener Künstler: "Je suis femme et je raconte mon histoire" ist ein Zitat aus dem Roman La vie de Marianne, geschrieben zwischen 1731 und 1745 von Pierre de Marivaux, dessen Geschlecht ihn nicht daran hinderte, eine der stärksten weiblichen Ich-Erzählungen der französischen Literatur zu schaffen.

Als solche ist denn auch La vie d'Adèle angelegt. Über drei Stunden hinweg zeigt Kechiche, hauptsächlich mittels Nahaufnahmen von Gesichtern, wie sich Adèle (Adèle Exarchopoulos) als Lycée-Schülerin in die blauhaarige Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) verliebt und sich im Laufe der Jahre wieder von ihr entfremdet. Doch so sehr der Film darum bemüht ist, sich als intime "Autobiografie" im Sinne Marivaux' zu gerieren, es gelingt ihm nicht, sich gänzlich von der männlichen Perspektive Kechiches zu befreien. Bestes Beispiel dafür sind die ausgedehnten, detaillierten heftig diskutierten Sexszenen zwischen den beiden weiblichen Hauptfiguren, welche zwar als ultimative Akte der Befreiung inszeniert werden, in ihrer Ausführung aber stets Männerfantasie bleiben; Julie Marohs Kritik, sie ähnelten Pornografie, ist nicht kategorisch von der Hand zu weisen. (Im Gegensatz dazu stehen etwa vergleichbare Szenen in Alain Guiraudies L'inconnu du lac, deren Offenheit merklich nüchterner gehalten war.)

"Entre adultes": Adèle (Adèle Exarchopoulos, links) verliebt sich in die Kunststudentin Emma (Léa Seydoux).
 © Frenetic Films
Ein weiteres diesbezügliches Problem stellen die schwachen Charakterisierungen von Kechiche und Mitautorin Ghalia Lacroix dar. Weder Adèle noch Emma sind vollumfänglich profilierte Figuren mit scharfen Konturen – der bewusste Verzicht auf ausformulierte Hintergründe trägt sein Übriges dazu bei –, wobei sich dies bei Ersterer besonders bemerkbar macht: Bis zum Schluss bleibt Adèle eine flache Figur, die sich lediglich durch ihre diversen romantischen Partner – einen Schulkameraden, Emma, einen Arbeitskollegen – definiert. Ihr Verlangen, symbolisiert durch die omnipräsente Farbe Blau, hat kein festes Ziel; vielmehr wird es auf alle möglichen Objekte – Wände, Jacken, Parkbänke, Bettdecken – projiziert. Emmas Entscheidung, ihre Haare nicht mehr zu färben, verliert somit jegliche metaphorische Relevanz.

Und dennoch ist La vie d'Adèle ein hervorragend realisiertes Liebesdrama von selten gesehener Intensität. Das hat zwar zum einen mit Kechiches Regie und seiner Gabe zu tun, packende Sequenzen zu komponieren, zum andern mit den bisweilen brillanten naturalistischen Dialogen. Doch die grösste Anerkennung sei Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux vorbehalten: Ihr schlichtweg grandioses Schauspiel erfüllt ihre unbefriedigenden Figuren mit einem Leben, das ihnen das Drehbuch niemals zu verleihen vermag. Wie so vieles in diesem Film enttäuscht die Konzeption, während die Ausführung begeistert.

★★★

Sonntag, 12. Januar 2014

Diana

Es könnten – und sollten – zahllose Artikel, Studien und Abhandlungen über die Person und, was wohl noch ergiebiger wäre, das Phänomen Lady Di verfasst werden; die Wirkung, welche die Princess of Wales auf ihre Untertanen hatte, dürfte Psychologen, Anthropologen und Kulturtheoretiker gleichermassen faszinieren. Geboren in eine alte englische Adelsfamilie, erlangte sie nach ihrer Vermählung mit Prinz Charles den Status einer volksnahen "People's Princess" und wurde, insbesondere nach ihrer Scheidung, zu einer ebenso mächtigen wie verehrten Fürsprecherin der Menschenrechte. Ihr Unfalltod 1997 erschütterte das Vereinigte Königreich bis ins Mark; das Bild des Blumenmeeres vor den Toren des Buckingham Palace ist legendär.

Auch im Kino könnte die fatal verzahnte Geschichte dieser Persönlichkeit und der ihr entgegen schwappenden, beinahe fanatischen Ehrerbietung, die in Stephen Frears' The Queen angeschnittene Asurdität der Situation – "Sleeping in the streets and pulling out their hair for someone they never knew?", wetterte James Cromwells Prinz Philip – ergründet werden. Man stelle sich vor, welche Ergebnisse ein Regisseur mit einem Sinn für (britische) Zeitgeschichte und dem nötigen Mut zur analytischen Schärfe – ein Loach, ein Wheatley, ein Winterbottom – der Materie zu entlocken wüsste.

Doch Diana, entstanden unter der Regie Oliver Hirschbiegels, eines vormals wagemutigen Filmemachers (Das Experiment, Der Untergang), den inzwischen jegliche Courage verlassen zu haben scheint, ist nicht interessiert an einem nüchternen Blick auf seine Titelfigur. Stattdessen bedient sich dieses als tragische Romanze zwischen Diana (Naomi Watts) und dem Herzchirurgen Hasnat Khan (Naveen Andrews) verpackte Biopic bei jenen verklärenden Gemeinplätzen, welche in den 16 Jahren seit Lady Dis Tod beharrlich durch den Boulevard-Blätterwald geistern, in der Hoffnung, der geneigten Leserschaft das Erlebnis einer royalen Klatschkolumne in Spielfilmlänge bieten zu können.

Diana (Naomi Watts), Prinzessin der Herzen.
© Ascot Elite
Dass ein derartiges Vehikel weder inhaltlich noch formal überzeugt, kann nicht überraschen. Geleitet von Stephen Jeffreys' grässlichem Drehbuch, pflügt Hirschbiegels Film durch die letzten zwei Jahre in Dianas Leben – ohne dramaturgische Zugkraft und ohne eine präzise Vorstellung davon, wie ihre Figur in Szene zu setzen ist. Machen sich im einen Moment die elitären Anwandlungen eines Mitglieds der Königsfamilie bemerkbar – "I'm a princess, and I get what I want" –, feiert der Film seine Protagonistin wenig später wieder als feministische Ikone, als modebewusstes Quasi-Model, dem auch in Verkleidung noch nachgepfiffen wird, als Verfechterin der Menschlichkeit ("I want to help people"), als bemitleidenswertes Opfer ihrer Umstände ("I've never been accepted by any family I've been a part of", "Is there anyone who can stay with me?"), als idealistische Liebhaberin, als strahlende Heilsbringerin, deren Antlitz die Kamera in den Anfangsminuten bewusst ausweicht. In einer besonders irritierenden Sequenz lässt sie ihr Gesicht von einem blinden Bewunderer befühlen, welcher darob in einen Zustand tränenreicher Glückseligkeit versetzt wird.

Anders als etwa Joshua Michael Sterns geradezu beleidigend hagiografischer Jobs belässt es Diana aber zumeist bei ungeschickten Regie-Entscheidungen und einem Mangel an legitimem Drama, sodass sich das Filmerlebnis weniger entnervend als ermüdend erweist. Grossen Anteil daran hat die Beziehung zwischen Di und Hasnat: Watts und Andrews sind beides gestandene Schauspieler, doch ihnen werden Äusserungen und Dialoge aufgehalst, die jegliches Aufkommen von Chemie – oder gar Romantik – verunmöglicht, und welche dermassen dicht gesät sind, dass willkürliche Kostproben – "You don't perform the operation, the operation performs you", "So hearts can't actually break?" – das Ausmass der Misere nur ungenügend zu skizzieren vermögen. Von der Szene abgesehen, in der das Paar Hand in Hand über ein Feld hüpft (sic), begleitet von Jacques Brels "Ne me quitte pas", ist das Bild Dianas, die sich nach einem Zwist wieder in Hasnats Arme wirft, das nachhaltigste dieser angeblich grossen Liebe – und auch das nur aufgrund seiner steten Wiederholung.

Im Herzchirurgen Hasnat Khan (Naveen Andrews) findet Diana eine neue Liebe.
© Ascot Elite
Endgültig Schiffbruch erleidet der Film im dritten Akt, in dem sich Jeffreys vollends in seiner schizophrenen Darstellung der Geschehnisse verheddert. Zwar legt sein Skript richtigerweise Wert darauf, Dianas kalkulierenden Umgang mit der Presse – die raffinierte Selbstinszenierung, der enge Kontakt zu ausgewählten Boulevardblättern – und auch die Perfidie der Medien – Vertragsbüche, verzerrte Darstellungen von Dis IKRK-Missionen – aufzuzeigen, stellt sich aber letztlich mit seiner Interpretation von Dianas Affäre mit Dodi Fayed (Cas Anvar, auf Ähnlichkeit mit Hasnat geschminkt) selber ein Bein. Die enthüllende Berichterstattung über ihren Aufenthalt auf Fayeds Yacht war, so Jeffreys, einerseits eine Konzession an ihr nahe stehende Paparazzi, um Fleet Street dazu zu bewegen, ihre Anti-Landminen-Kampagne ins rechte Licht zu rücken, andererseits aber ein verzweifelter Versuch, Hasnats Aufmerksamkeit zu erlangen.

Es ist eine gewagte These, der Diana nicht gewachsen ist; der Film zerbricht daran, den daraus folgenden Implikationen mit seinem beschränkten Angebot an cineastischen Mitteln – das Teleobjektiv im Scharfschützengewehr-Koffer, Hasnats schicksalhaftem Zögern am Telefon in der Nacht von Dianas Tod, der triumphale Abspann-Verweis auf den Fortschritt bei der Landminen-Bekämpfung – beikommen zu wollen. Diana beginnt boulevardesk und endet boulevardesk – scheint zum Schluss aber überzeugt davon zu sein, sich dazwischen zu investigativem Journalismus weiterentwickelt zu haben.

Donnerstag, 9. Januar 2014

The Secret Life of Walter Mitty

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Mit wilden Satiren wie Reality Bites oder Tropic Thunder hat sich der Komiker Ben Stiller auch als Regisseur einen Namen gemacht. Mit der ambitionierten Tragikomödie The Secret Life of Walter Mitty, seiner fünften Regiearbeit, legt er seinen bislang reifsten und persönlichsten Film vor.

Obwohl die Figur schon längst ihren Weg in den Kanon der amerikanischen Populärkultur gefunden hat, existieren mittlerweile drei sich markant voneinander unterscheidende Walter Mittys: derjenige, welcher in James Thurbers Kurzgeschichte The Secret Life of Walter Mitty (1939) versucht, mittels aufregender Tagträume der Langeweile einer Einkaufstour entgegenzuwirken; derjenige, welcher sich in Norman Z. McLeods gleichnamiger Verfilmung aus dem Jahr 1947, gespielt von Danny Kaye, aus seinem tristen Alltag hinweg träumt, bis er unversehens in ein echtes Abenteuer stolpert; und derjenige, den Ben Stiller in seinem neuesten Film, dem Resultat eines gut 20 Jahre dauernden Produktions-Marathons, hinaufbeschwört. Anders als der Mitty von Thurber und McLeod/Kaye eträumt sich dieser, ein Fototechniker beim der Digitalisierung geweihten Life-Magazin, nicht etwa eine entrückte Alternative zur frustrierenden Realität, sondern eine Welt, in der er dazu fähig ist, die Initiative zu ergreifen und sich eine eigene Identität zu schaffen.

Das Finden – oder das Schaffen – der eigenen Identität entspricht im Zeitalter der sozialen Medien und der zunehmenden Technologisierung des Alltags ganz dem Zeitgeist und bildet den thematischen Kern von Stillers The Secret Life of Walter Mitty, welcher sprechenderweise damit beginnt, dass die Titelfigur (gespielt von Stiller selbst) versucht, eine Arbeitskollegin auf einer Online-Dating-Website zu kontaktieren. Der Versuch scheitert nicht etwa aus technischen Gründen, sondern weil Walters Lebenslauf, so die Telefonauskunft (der wunderbare Patton Oswalt), unspektakulärer als erlaubt ist. Auf die Herausforderungen des Alltags – etwa das Ansprechen der charmanten Cheryl (Kristen Wiig) oder die Gemeinheiten des neuen Vorgesetzten (Adam Scott) – vermag Walter nur imaginär zu reagieren. (Einige dieser fantasierten Sequenzen – allen voran die fehlgeleitete The Curious Case of Benjamin Button-Referenz – überzeugen nur teilweise.) Doch Stiller und Autor Steven Conrad (Wrestling Ernest Hemingway, The Pursuit of Happyness) gehen weiter und tiefer als ihre Vorgänger Thurber und McLeod: Nach rund der Hälfte der Laufzeit lässt ihr Mitty seine Träumereien hinter sich und bricht auf in die grosse weite Welt, um sich bei einem Fotografen (Sean Penn – hervorragend) nach jenem verschwundenen Schnappschuss zu erkundigen, der das Titelblatt der letzten gedruckten Ausgabe von Life zieren soll.

Der Tagträumer Walter Mitty (Ben Stiller) bricht auf in die grosse weite Welt.
© 2013 Twentieth Century Fox Film Corporation
Zugegeben, es ist eine hemmungslos idealisierte Welt, auf die Walter hier trifft – eine Welt, in der liebenswerte Betrunkene problemlos Hubschrauber fliegen können, afghanische Warlords Kuchen als Wegzoll gelten lassen und Sprachbarrieren mit Gesten, Tauschgeschäften und Fussballspielen überwunden werden. Doch es fällt schwer, nicht von der Leidenschaft und der Verve dieses virtuos komponierten, eindrücklich bebilderten, assoziativ-diskursiv aufgezogenen Films mitgerissen zu werden, welcher in seiner schwelgerischen Romantik nicht selten die Werke eines Ernst Lubitsch evoziert. The Secret Life of Walter Mitty ist eine faszinierende, über ihre unübersehbaren Defizite erhabene Ode an das Leben, das Opus magnum eines vielleicht nicht ganz grossen, wohl aber sehr talentierten Regisseurs.

★★★★

Samstag, 4. Januar 2014

Das Jahr 2013

- About Time
★★★½

- After Earth
★½

- Los amantes pasajeros
★★★½

- Before Midnight
★★★★★½

- Behind the Candelabra
★★★★½

- Beyond the Hills
(După dealuri)

★★★★★☆

- The Big Wedding
★★☆☆☆☆

- Blancanieves
★★★★☆☆

- The Bling Ring
★★★★½

- Blue Jasmine
★★★★★☆

- Boys Are Us
★★☆☆☆☆

- The Broken Circle Breakdown
★★★★★½

- The Butler
★★★☆☆☆

- Captain Phillips
★★★★★☆

- Cesare deve morire
★★★★★☆

- Children of Sarajevo
(Djeca)

★★★★½

- Child's Pose
(Poziția copilului)

★★★★☆☆

- The Company You Keep
★★★½

- The Congress
★★★☆☆☆

- The Counselor
★★★☆☆☆

- Despicable Me 2
★★★½

- Detachment
★★★☆☆☆

- Django Unchained
★★★★☆☆

- Don Jon
★★★★☆☆

- L'écume des jours
★★★½

- Elle s'en va
★★★½

- Elysium
★★★★☆☆

- End of Watch
★★★★★☆

- An Episode in the Life of an Iron Picker
(Epizoda u životu berača željeza)

★★★★☆☆

- Ernest et Célestine
★★★★★½

- Une Estonienne à Paris
★★★★☆☆

- The Fifth Estate
★★★½

- Filth
★★★★☆☆

- Flight
★★★★☆☆

- Frances Ha
★★★★☆☆

- Frankenweenie
★★★★★½

- Frozen
★★★★☆☆

- Gambit
★★½

- Gangs of Wasseypur – Part 1
★★★★★☆

- Gangs of Wasseypur – Part 2
★★★★★☆

- Gangster Squad
★★½

- Gloria
★★½

- A Good Day to Die Hard
★★☆☆☆☆

- La grande bellezza
★★★★★☆

- The Grandmaster
(一代宗師, Yī Dài Zōng Shī)

★★★★½

- Gravity
★★★★½

- The Great Gatsby
★★½

- Der grosse Kanton
★★★½

- Hannah Arendt
★★★★☆☆

- Harry Dean Stanton: Partly Fiction
★★★½

- Hitchcock
★★★½

- The Hobbit: The Desolation of Smaug
★★★★☆☆

- The Hunger Games: Catching Fire
★★★★★☆

- Hyde Park on Hudson
★★½

- I Give It a Year
★★★☆☆☆

- The Impossible
★★★½

- L'inconnu du lac
★★★★☆☆

- Inside Llewyn Davis
★★★★★☆

- Les invisibles
★★★★½

- Iron Man 3
★★★☆☆☆

- Jagten
(The Hunt)

★★★★★☆

- Jeune & Jolie
★★★★★☆

- Jobs
★★☆☆☆☆

- Kon-Tiki
★★★★½

- The Last Stand
★★★½

- A Late Quartet
★★★★☆☆

- Laurence Anyways
★★★★☆☆

- Leviathan
★★★★★☆

- Like Someone in Love
★★★★★☆

- Lincoln
★★★★½

- The Lone Ranger
★★★★☆☆

- The Look of Love
★★★★☆☆

- The Lunchbox
★★★★½

- Le magasin des suicides
★★☆☆☆☆

- Malavita
(The Family)

★★★½

- Man of Steel
★★½

- Mary, Queen of Scots
★★★☆☆☆

- The Master
★★★☆☆☆

- Les Misérables
★★½

- Monsters University
★★★★½

- Nairobi Half Life
★★★★★☆

- Night Train to Lisbon
★★½

- No
★★★★½

- Now You See Me
★★★☆☆☆

- Oblivion
★★½

- Oh Boy
★★★★★☆

- Only God Forgives
★★★★★½

- Only Lovers Left Alive
★★★★★½

- Oz the Great and Powerful
★★½

- Pacific Rim
★★★★☆☆

- Pain & Gain
★★★½

- Paradies: Glaube
★★★★½

- Paradies: Hoffnung
★★★★½

- Paradies: Liebe
★★★★½

- Le passé
★★★★½

- The Patience Stone
(سنگ صبور)

★★★½

- Paul Bowles: The Cage Door Is Always Open
★★★★☆☆

- The Place Beyond the Pines
★★★★★☆

- Planes
★★★½

- Post Tenebras Lux
★★½

- Prisoners
★★★★½

- Quartet
★★★★☆☆

- Quelques heures de printemps
★★★★★½

- Rebelle
★★★★½

- Rush
★★★★☆☆

- The Sapphires
★★★★☆☆

- Schlafkrankheit
★★★☆☆☆

- The Sessions
★★★☆☆☆

- Side Effects
★★★★☆☆

- Sightseers
★★★★☆☆

- Silver Linings Playbook
★★★★★☆

- Spring Breakers
★★★★☆☆

- Star Trek Into Darkness
★★★★½

- Le thé ou l'electricité
★★★☆☆☆

- This Is 40
★☆☆☆☆☆

- Thor: The Dark World
★★★½

- Trance
★★½

- La Vénus à la fourrure
★★★★★☆

- Vous n'avez encore rien vu
★★★★★☆

- Wadjda
(وجدة)

★★★★☆☆

- White House Down
★★☆☆☆☆

- The Wolverine
★★★★☆☆

- World War Z
★★★½

- Zero Dark Thirty
★★★★★½