Samstag, 2. Februar 2013

Flight

Nach mehr als einem Jahrzehnt hat sich Robert Zemeckis mit Flight wieder dem Realspielfilm zugewandt. Zwar kann das vielschichtige Drama seinen hohen Ansprüchen nicht ganz gerecht werden, doch der Regisseur von Forrest Gump kombiniert Versatzstücke des Hollywoods der Neunzigerjahre zu einem soliden Stück Kino.

Es tagt in Orlando und William "Whip" Whitaker (Denzel Washington) hat wieder einmal kaum geschlafen. Zum Frühstück genehmigt er sich einen Schluck Bier und eine Linie Kokain, danach verlässt er das Hotel und schleppt sich zum Flugzeug, welches er gleich als Pilot nach Atlanta manövrieren soll. 52 Minuten wird der Flug voraussichtlich dauern, das Wetter ist garstig, doch Whip ist ein erfahrener und geachteter Pilot, der, wie es scheint, schon Übleres gemeistert hat. Doch etwa nach der Hälfte der Reisezeit, bei klarem Wetter, zerfällt die Maschine buchstäblich in ihre Einzelteile. Dank einiger gewagter Massnahmen gelingt es Whitaker, das Flugzeug in einem Feld aufzusetzen. Eine Bruchlandung, ja, aber fernab jeglicher Wohngebiete; von 102 Passagieren überleben 96. Während Whip sich von seinen Verletzungen erholt und von den Medien als stiller Held gefeiert wird, bricht neues Unheil über ihn herein: Eine Blutprobe hat ergeben, dass er während des Flugs alkoholisiert war. Gemeinsam mit seinem Anwalt Hugh Lang (Don Cheadle) und seinem Freund Charlie (Bruce Greenwood) kämpft er gegen die Justiz, während er versucht, seinem Alkoholproblem Herr zu werden, wobei ihm die Ex-Drogenhabhängige Nicole (Kelly Reilly) zur Seite zu stehen versucht.

Der Titel ist in Flight gleich in mehrfacher Hinsicht Programm: Die ersten 25 Minuten des Films beschäftigen sich mit Whip Whitaker "Flug" ins Unglück, brillant gefilmt, packend inszeniert; fast glaubt man die sturmbedingten Turbulenzen im Kinosessel zu spüren. Auf beängstigende Art und Weise zeigen Robert Zemeckis und Drehbuchautor John Gatins, dass Flugzeuge, obwohl dies in der Welt nach 9/11 zur Marginalie geworden sein scheint, auch ohne menschliches Zutun abstürzen können. Doch diese furiose Eingangssequenz, eines hochkarätigen Katastophenfilms würdig, bleibt die einzige im ganzen Film, die Zemeckis' Gespür für die Inszenierung von Action erahnen lässt. Action ist hier bloss als der Stein des Anstosses für die menschliche Tragödie, Whitakers "Flucht" – vor Verantwortung, vor der Justiz, vor Schuldgefühlen, vor der Realität, vor den leer getrunkenen Flaschen.

Ein Trio von Rechtsverdrehern: Gewerkschafter Charlie Anderson (Bruce Greenwood, links), Anwalt Hugh Lang (Don Cheadle, Mitte) und der alkoholabhängige Pilot Whip Whitaker (Denzel Washington).
Hand in Hand mit dieser multiplen Flucht geht eine Vielfalt an Tönen, die Gatins anschlägt. Wie in den gewichtigen Dramen der Neunzigerjahre folgt Genre auf Genre: Während Whip in mehreren Tausend Metern Höhe um das Überleben seiner Passagiere kämpft, setzt sich Nicole in ihrer Wohnung einen Schuss. Whips Krankenhausaufenthalt erhält plötzlich eine fröhlichere Dimension, als sein Freund und Drogendealer, die aalglatte Quasselstrippe Harling auftaucht (John Goodman – das schiere Vergnügen, wie immer). Szenen erfolglosen Alkoholverzichts wechseln sich ab mit juristischen Besprechungen, alles verflochten mit der schwierigen Beziehung zwischen Whip und Nicole. Die Fülle an Aspekten bringt Flight, wie schon andere Filme von Zemeckis (Forrest Gump, Contact), auf eine übermässige Laufzeit von gut 140 Minuten. Langeweile kommt zwar nie auf, aber auch nicht Stringenz und uneingeschränkte Überzeugungskraft. Weder Zemeckis noch Gatins gelingt es gänzlich, Genres und Handlungsstränge zusammenzuführen, schon gar nicht mit dem allzu blitzsauberen Ende aller Ebenen – trotz eines unerwarteten (unbeabsichtigten?) Bob-Dylan-Zitats aus Pat Garrett and Billy the Kid.

Entsprechend ist es auch nicht explizit Zemeckis' Verdienst, dass Flight dennoch funktioniert. Was der womöglich allzu konstruierten Handlung die nötige Tiefe und Glaubwürdigkeit verleiht, ist eine Gruppe von talentierten und stellenweise überragend agierenden Schauspielern, angeführt von einem abgeklärten und durch und durch überzeugenden Denzel Washington, der das moralische Zwielicht seiner Figur punktgenau zu vermitteln weiss. Trotz Whips Zustand ist Washington nicht geneigt, dem theatralischem Schauspiel zu verfallen; Subtilität prägt seine Darstellung. Auch Kelly Reilly und Melissa Leo, die nur auf dem dramatischen Höhepunkt des Films zu sehen ist, hinterlassen einen starken Eindruck, wobei die intensivste Nebenrolle aber einer eher unerwarteten Quelle zuzuschreiben ist. James Badge Dale (The Departed) spielt einen namenlosen Krebskranken, der sich im Krankenhaus von Atlanta eine Zigarette lang mit Nicole und Whip unterhält. Er ist ein Enigma, er geht so plötzlich wie er gekommen ist, sein Schicksal ist unbekannt – und doch ist sein Kurzauftritt nur schwer zu vergessen. Dales feurige Performance ist eine Miniatur schauspielerischer Klasse in einem makellos gespielten Film.

Trautes Heim? Nicole (Kelly Reilly) versucht, Whip bei seinem Entzug beizustehen.
Schon oft wurde Robert Zemeckis mit Steven Spielberg verglichen, bei Erfolgen war er sein "Erbe", bei Flops sein "Nachahmer". Auch in Flight scheint sich die Gegenüberstellung aufzudrängen. Es ist durchaus möglich, dass Spielberg mit dem vorhandenen Stoff ein runderes, stimmigeres Drama gelungen wäre. Doch angetrieben von einer interessanten Prämisse und einem herausragenden Cast, vermag auch Zemeckis' neueste – unvollkommene – Regiearbeit zu überzeugen.

★★★

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