Freitag, 30. März 2012

The Hunger Games

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Obwohl es sicherlich weniger dankbare Filmstoffe als die sehr cinematischen Hunger Games-Romane von Suzanne Collins gibt, blieben bis zur Premiere Zweifel an der Qualität von Gary Ross' Adaption. Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet; The Hunger Games ist ein durchschlagender Erfolg.

Eine unbestimmte Zukunft. Kriege und Naturkatastrophen haben Nordamerika verwüstet. Aus der Asche erhob sich Panem, ein totalitärer Staat, bestehend aus 13 Distrikten – zurzeit unter der Ägide von Präsident Coriolanus Snow (Donald Sutherland) –, und vom dekadenten Capitol aus gelenkt. Nach einem Aufstand wurde Distrikt 13 dem Erdboden gleich gemacht. Als Warnung an die restlichen zwölf finden jährlich die "Hunger Games" statt. Bei der sogenannten "Ernte" wird aus jedem Distrikt, nicht aber aus dem Capitol, je ein Junge und ein Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren ausgelost. Dies sind die "Tribute", welche sich anschliessend in einer künstlichen Naturarena gegenseitig bekämpfen müssen, bis nur noch ein Jugendlicher am Leben ist – während Panem sich das unterhaltsame Spektakel im Fernsehen ansieht. Als der Name der kleinen Prim Everdeen (Willow Shields) gleich bei ihrer ersten Ernte aus dem Topf gezogen wird, meldet sich ihre grosse Schwester Katniss (eine tolle Jennifer Lawrence) frewillig, sie zu ersetzen. Mit dem zweiten 12er-Tribut, dem Bäckerssohn Peeta (Josh Hutcherson), wird die versierte Jägerin von der Staatsangestellten Effie Trinket (Elizabeth Banks) und dem ehemaligen Hunger-Games-Sieger, dem versoffenen Haymitch Abernathy (Woody Harrelson), ins Capitol überführt, wo nach einem ausgedehnten Training die grausamen Spiele beginnen sollen.

Die "Tribute" Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) und Peeta Mellark (Josh Hutcherson) werden fernsehtauglich herausgeputzt.
Wie jede neue Vorstellung einer dystopischen Zukunftsgesellschaft mussten auch Suzanne Collins' Erfolgsbücher die ewig gleichen Vergleiche über sich ergehen lassen: George Orwell, Aldous Huxley und William Golding aus der Literatur, die Romanverfilmungen The Running Man (1987) und Battle Royale (2000) aus dem Kino. Tatsächlich weist The Hunger Games Ähnlichkeiten mit gewissen ikonischen Dystopien auf – Huxleys Brave New World, Goldings Lord of the Flies, Filme wie Terry Gilliams Brazil oder Fritz Langs Metropolis –, doch Gary Ross' dritten Film auf diese Vorläufer zu reduzieren, täte ihm Unrecht. Die Adaption steht mühelos auf eigenen Füssen und schafft es hervorragend, die Visionen von Collins, die auch am Drehbuch mitschrieb, wiederzugeben. Die praktisch unsichtbaren Effekte, Tom Sterns atmosphärische Kamera – obwohl in den brutaleren Momenten etwas allzu wacklig – und die überwiegend gelungene Austattung entführen den Zuschauer in eine faszinierende Fantasy-Welt, welcher der Bezug zur Realität aber zu keinem Zeitpunkt abgeht.

Überhaupt ist dies kein Film, der von seinen Schauwerten getragen wird. The Hunger Games ist ein Abenteuer, wo die fesselnde Story und die grossartigen Charaktere die treibenden Kräfte sind und von der (effizient eingesetzten) Action lediglich unterstützt werden. Katniss ist der emotionale Anbindungspunkt des Zuschauers: Sie ist eine starke, wenngleich unvollkommene Persönlichkeit auf der Suche nach Identität in einer gleichgeschalteten Welt – eine wahre Heldin, der man gerne durch die Hölle der Hungerspiele folgt. Vor allem, da sich die dekadente Spielleitung den Kinogänger geschickt zum Komplizen macht, indem sie seinen Voyeurismus gnadenlos aufdeckt. Selten verliess man eine Jugendbuchverfilmung dermassen fasziniert – bitte mehr davon!

★★★★

Mittwoch, 28. März 2012

Take Shelter

Egal zu welchen verblüffenden Leistungen CGI und Makeup in Zukunft noch getrieben werden, die besten und effektivsten Filme aus den Horror- und Psychothrillergenres werden immer auf der subtilen Aufarbeitung von Urängsten und dem Schrecken der menschlichen Psyche aufgebaut sein. Einen neuerlichen Beweis hierfür liefert der junge amerikanische Regisseur Jeff Nichols, der 2007 mit seinem eindringlichen Familiendrama Shotgun Stories in der Indie-Szene für Aufsehen sorgte. Sein zweiter Film hat nichts von der Intensität seines Vorgängers eingebüsst. Im Gegenteil, Take Shelter glänzt durch eine sorgfältig aufgebaute, von faszinierenden Mystery- und Horrorelementen durchsetzte Geschichte, deren Atmosphäre tiefsten Unbehagens einen so schnell nicht mehr loslässt.

In Zeiten von Finanz- und anderen Krisen lebt Curtis LaForche (Michael Shannon) ein beneidenswertes Leben. Er ist glücklich mit Samantha (Jessica Chastain) verheiratet, ihre kleine Tochter Hannah (Tova Stewart) ist zwar hörbehindert, kann sich aber durch Gebärdensprache gut verständigen; sein Haus in der Suburbia einer Stadt im US-Staat Ohio ist ein Traum; und von seiner Arbeit als Bauarbeiter kommt die ganze Familie ansprechend über die Runden. Doch plötzlich wird Curtis Nacht für Nacht von apokalyptischen Träumen heimgesucht: Am Horizont braut sich ein gewaltiger Sturm zusammen, dem als Vorboten ölige Regentropfen vorausgehen. Sein ansonsten friedlicher Hund beisst ihm fast die Hand ab. Menschen wollen ihm und seiner Familie an den Kragen. Vogelschwärme fliegen in bizarren Formationen. Ohne Samantha davon zu berichten, begibt er sich in psychologische Therapie, denn er weiss um seine familiäre Vorbelastung: Bei seiner Mutter (Kathy Baker) wurde vor 25 Jahren paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Getrieben von seinen Träumen und Vorahnungen, beschliesst Curtis zudem, den alten Tornadobunker im Garten auf Vordermann zu bringen. Doch wovor will er seine Familie beschützen – vor einem drohenden Sturm oder vor sich selbst?

Stürme und Gewitter sind eine Trope, welche in der Kunst schon seit Jahrhunderten eifrig als Metapher benutzt werden – am bekanntesten wohl in William Shakespeares The Tempest. In Take Shelter kommt dieser Symbolik eine interessante Doppelrolle zu: Einerseits steht sie als phyische Manifestation für Curtis' dunkle Gedanken, andererseits als reale Bedrohung seines glücklichen Lebens. Beides kann als Kommentar auf die Kehrseite des uramerikanischen Mantras, des "Strebens nach Glück", verstanden werden. Hat man einen gewissen Grad persönlichen Glücks erreicht, dann bringt das ganz von allein auch die Angst mit sich, dieses wieder zu verlieren. Entsprechend sind Curtis' Träume, selbst wenn der dräuende Sturm nicht im Zentrum steht, ganz vom Verlust geprägt; sei es der Hund, der ihn plötzlich angreift; die Zerstörung von Hab und Gut; das gewaltsame Ende einer Freundschaft; die fremden Hände, die sich zu keiner klar umrissenen Person zuordnen lassen, die nach Hannah und Samantha greifen. Take Shelter mag primär ein psychologisches Mysterydrama um einen Familienvater sein der den Tücken seiner Psyche anheim fällt, doch unter der fiktiven Oberfläche befindet sich Jeff Nichols' kraftvolle Abhandlung über ein Amerika, dessen Bevölkerung von Angst und existentieller Verunsicherung geprägt ist.

Curtis LaForche (Michael Shannon) sieht einen Sturm aufziehen – echt oder imaginär?.
Doch auch ohne den hochaktuellen Subtext vermag der Film zu überzeugen. Nichols konstruiert eine ruhige Atmosphäre, in der Bedrohung und Unruhe aber eindeutig spürbar sind, angeheizt durch die äusserst stimmige Musik, Adam Stones vielfach beunruhigend starre Kamera und die wahrlich beängstigenden Träume seiner Hauptfigur. In dieser Rolle verdient sich Michael Shannon, Hollywoods ewiger Nebendarsteller, der in Filmen wie Before the Devil Knows You're Dead oder Revolutionary Road für unvergessliche Momente sorgte, einmal mehr nur das höchste Lob. In den manchmal nur minimalen Bewegungen seines von tiefen Sorgenfalten durchzogenen Gesichts findet sich ein intelligenter, rationaler, eigentlich besonnener Mann, der von seinem erratischen Verhalten selbst am meisten gequält wird, sich selber aber aus sozialen wie finanziellen Gründen nicht helfen kann. Und obwohl er lange seine Fassung behält, zeichnet sich schon früh ein im Innern aufziehendes Gewitter ab, das, als es dann schlussendlich losbricht, umso intensiver wütet.
 
Neben Shannon, der, wenn er wie hier in Bestform agiert, in der Lage ist, seine Castkollegen an die Wand zu spielen, vor der Kamera zu stehen und in Erinnerung zu bleiben, fällt entsprechend schwer. Doch Jessica Chastain, deren Auftritt in Take Shelter übrigens ihr siebter (!) in einem in den USA 2011 erschienenen Film war und deren bisherige Leistungen, von The Tree of Life bis The Help, oft von der eher weniger subtilen Sorte waren, brilliert als Ehefrau Samantha, der die Sorgen und die Anstrengungen, die der Zustand ihres Mannes ihr bereitet, buchstäblich ins Gesicht geschrieben stehen. Ihr Blick, der die antiklimaktischen, mit stiller Fulminanz vorgetragenen Schlusssekunden einleitet, ist alleine Beweis genug für ihr beachtliches schauspielerisches Talent. Dass bei einer cineastischen Tour de force dieses Kalibers die Liste der Vorbehalte recht kurz ausfällt, überrascht also nicht. Wenn man Jeff Nichols überhaupt etwas vorwerfen kann, dann wohl am ehesten die Tatsache, dass sein Film mit einer Länge von zwei Stunden minimal zu lang ist, wodurch sich das Ganze stellenweise etwas episodenhaft anfühlt, was der Spannung aber niemals abträglich ist.

Bedrohtes Familienglück: Curtis mit Tochter Hannah und Frau Samatha (Jessica Chastain).
Auch wenn Nichols sich in Take Shelter oberflächlich auf anderes Terrain als in Shotgun Stories begibt, bleiben die übergeordneten Themen die gleichen: Existenzangst, Bedrohung, Familienwerte und -verhältnisse, das zeitgenössische "Heartland" Amerikas. Verpackt sind diese in einer fesselnden Geschichte, in der das Geheimnisvolle und das Bedrohliche in bester Poe'scher Manier mit maximaler Wirkungskraft eingesetzt wird. Wenn die Zukunft des amerikanischen Films von Leuten wie Jeff Nichols bestimmt wird, kann man sich zweifelsfrei darauf freuen.

★★★★

Samstag, 24. März 2012

The Best Exotic Marigold Hotel

Der Reisebericht gilt als einer der frühesten Anwendungsbereiche des Mediums Film. Das künstliche Besuchen exotischer Orte erfreute sich besonders in den 1910er Jahren grosser Beliebtheit, da es der breiten Masse trotz angespannter Wirtschaftslage möglich war, fremde Länder billig und sicher im Kino zu bereisen. In gewisser Hinsicht hat dieser "virtuelle Tourismus" bis heute überlebt, auch ausserhalb des Dokumentarfilms. Zwar wird in diesen Werken mittlerweile eine Geschichte erzählt – oft sogar eine sehr gute –, doch das Prinzip, die Reisegelüste des Zuschauers gleichzeitig zu befriedigen und anzuheizen, ist dasselbe geblieben. Auf eben dieser Schiene bewegt sich der neue Film von John Madden, dem vielseitigen Regisseur von Romanzen wie Shakespeare in Love (sieben Oscars) oder Captain Corelli's Mandolin und Thrillern wie Killshot oder The Debt. Mit einem stargespickten Cast begibt sich Madden im sympathischen, wenngleich unterdurchschnittlich geschriebenen The Best Exotic Marigold Hotel, der Verfilmung von Deborah Moggbachs Roman These Foolish Things, ins nordwestindische Jaipur, wo er eine Gruppe von englischen Rentnern das Leben neu entdecken lässt.

Evelyn (Judi Dench) hat soeben ihren Mann verloren, der ihr nichts als Schulden hinterlassen hat; Madge (Celia Imrie) hat mehrere Ehen hinter sich und ist es leid, von ihrer Tochter herumkommandiert zu werden; Norman (Ronald Pickup) ist trotz seines Alters noch eifrig auf der Suche nach schönen Frauen; Graham (Tom Wilkinson) geht nach einer langen Karriere als Richter in Rente; Douglas (Bill Nighy) und Jean (Penelope Wilton) können sich in England keine zufriedenstellende Wohnung leisten; und Muriel (Maggie Smith) braucht ein neues Hüftgelenk. Aus diesem und jenen Grund stossen alle diese Menschen aus der Altersgruppe "65 plus" im Internet auf die Website des in der indischen Metropole Jaipur gelegenen Best Exotic Marigold Hotel, wo der junge Besitzer Sonny (Dev Patel) den "Älteren und Schönen" eine luxuriöse Unterkunft verspricht. Bald schon finden sich alle Beteiligten vor dem Etablissement ein, wo sie allerdings feststellen müssen, dass Sonny den Zustand seines Hotels etwas beschönigt hat. Doch Indien ist kein Land, wo man mit Sturheit weiterkommt, also macht die Mehrheit der sieben Rentner das Beste aus der Situation und passt sich an das Leben im heissen, lauten und bunten Subkontinent an – allen Vorurteilen zum Trotz.

Warten auf das neue Leben: Die englische Rentnertruppe am Flughafen.
Komödien und komisch angehauchte Dramen machen gerne von einer speziellen Taktik Gebrauch: Gelingt es ihnen nämlich, charmant und sympathisch zu wirken, ist das Publikum eher geneigt, über gewisse Schwächen hinwegzusehen. In den schlechtesten Fällen macht das einen Film nur noch erbärmlicher, da der Versuch allzu offensichtlich ist. In den besten jedoch können ganze Projekte dadurch gerettet werden. Während es sicher vermessen wäre, The Best Exotic Marigold Hotel zur Gruppe der Letzteren zu zählen, hat John Maddens neunter Film dem Charme seiner Darsteller sicherlich einiges zu verdanken. Die Charaktere, welche in die sehr simpel gestrickte Geschichte geworfen werden, sind fast ausnahmslos liebenswert und amüsant, wenn auch etwas unausgewogen. Es finden sich zwar Figuren mit einer gewissen Tiefe – insbesondere Tom Wilkinsons Graham –, doch es sind die Stereotypen, die hier in der Überzahl sind. Darin zeigt sich jedoch auch die Klasse der einzelnen Mimen: Selbst wenn sie sich mit einer klischierten Charakterisierung konfrontiert sehen, nehmen sie die Herausforderung an und arbeiten mit beachtlicher Grazie damit – vor allem Maggie Smith, die aus dem Rollenmuster der "rassistischen alten Dame" ein Maximum an Glaubwürdigkeit herausholt. Allerdings zeigen ihre Mitstreiter ebenso, warum sie zur Elite der britischen Schauspielerriege gehören: Judi Dench verleiht ihren gestelzt-philosophischen Voice-Overs die nötige Prise Würde und Bill Nighy überzeugt als angestaubter Beamter, hin- und hergerissen zwischen Alltagstrott und Aufbruch.

Leider bleibt der Charme des Films aber primär den Charakteren und der grossartigen Szenerie, brillant eingefangen von Ben Davis, vorbehalten. Das Drehbuch zeichnet sich zwar durch einen guten Erzählfluss – die 124 Minuten Laufzeit ziehen überraschend schnell vorüber – und ein paar wirklich gute Linien aus ("A place for old people!" – "Like the Costa Brava?" – "Yeah, but with more elephants"; "Mr. Maruthi..." – "Please! Call me Bhanuprakash!"), es krankt aber an seinen abrupten Verschiebungen des Tonfalls und seinen vorhersehbaren Entwicklungen und Botschaften, die, obwohl richtig und wichtig, alles andere als neu sind. Dass man Menschen und Orte nicht pauschal verurteilen sollte; dass es im Leben manchmal einen radikalen Schritt, einen Bruch braucht; dass Liebe das Recht hat, mit Traditionen zu brechen – das alles sind Botschaften, die man als Zuschauer schon unzählige Male zuvor gelernt hat und inzwischen auswendig aufsagen kann. Auch gelingt es Ol Parker nur ansatzweise, die verschiedenen Handlungsstränge zu Ende zu führen. Dabei stören weniger die finalen Entscheidungen als die kitschige Art, mit der die ohnehin etwas süsslichen Schlusspunkte gesetzt werden.

Angekommen im Getümmel: Evelyn (Judi Dench) entdeckt Jaipur auf eigene Faust.
The Best Exotic Marigold Hotel ist insofern ein interessanter Film, als er im Grunde genommen nicht viel Neues bietet, dafür aber mit gut aufgelegten Darstellern und herrlichen Bildern punkten kann. John Madden lädt ein zu einer visuell anregenden, inhaltlich aber nicht sonderlich anspruchsvollen Indienreise, auf die man sich aber letztendlich gerne einlässt. Es gibt schlechtere Arten, zwei Stunden zu verbringen.

★★★

Intolerance


★★★★★

Considering the spotlight Andrew Stanton’s John Carter is in at the moment for becoming one of Disney’s biggest flops of all time, it seems like now would be a good opportunity to talk about one of the biggest box office bombs in the entire history of cinema, D. W. Griffith’s Intolerance from 1916. When this film came out in cinemas, it didn’t come anywhere near making back its enormous budget (two million dollars) and Griffith, whom you might know as the director of the 1915 silent Civil War epic The Birth of a Nation, spent the rest of his life paying back the debts his opus magnum left behind. However, Intolerance is probably the best example that viewers’ tastes don’t always do a movie justice.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 22. März 2012

Chico & Rita

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Der neue Film des spanischen Oscar-Preisträgers Fernando Trueba (Belle époque) ist einer seiner grossen Leidenschaften, der lateinamerikanischen Musik, gewidmet. Mit beschwingten Klängen unterlegt, erzählt Chico & Rita eine berührende Geschichte im Stil des Boleros.

Im Jahre 1948 ist Havanna das wohl beliebteste Reiseziel der Karibik. Reiche amerikanische Touristen tummeln sich in den Luxushotels und im weltberühmten Tropicana Club, während die Einheimischen es sich in den Hinterhöfen der kubanischen Hauptstadt gut gehen lassen. Darunter befinden sich auch der junge Pianist Chico (Stimme: Eman Xor Oña) und sein Freund Ramón (Mario Guerra). Eines Nachts tritt in einer der Freiluftkneipen die schöne Rita (Limara Meneses) auf, deren Stimme Chico total verzückt. Nach einigen fehlgeschlagenen Annäherungsversuchen finden die beiden zueinander. Doch ihre Liebe wird stets durch das Leben und seine Wendungen unterbrochen: Während Rita als Sängerin und Schauspielerin in den USA erfolgreich ist, tourt Chico mit den grossen Jazz-Combos seiner Zeit um die Welt.

Obwohl die turbulente, von Rückschlägen und Enttäuschungen geprägte Beziehung zwischen Rita und Chico das Zentrum von Chico & Rita bildet, ist sie nicht der alleinige Fokus des Films. Die Regisseure Fernando Trueba, Tono Errando und Javier Mariscal, der für die wunderschöne und zugleich simple Animation – derjenigen Sylvain Chomets (Les Triplettes de Belleville, L'illusionniste) nicht unähnlich – zeichnet, erweisen auch den kulturell wie wirtschaftlich boomenden Nachkriegsjahren und den Glanzzeiten des Jazz ihre Reverenz. So treffen die Protagonisten an ikonischen Orten wie New York, Hollywood oder Paris auf Kultfiguren der Epoche wie Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Thelonious Monk, Tito Puente, Chano Pozo oder auch Marlon Brando und, in einer scheinbar den 1980er Jahren entsprungenen Traumsequenz, Humphrey Bogart. Diese Anspielungen wirken zwar teilweise ein wenig gezwungen – vor allem wenn sie, wie in Brandos Fall, mehr als Wegwerfwitz denn als Storyelement dienen –, verleihen dem Ganzen aber die wirkungsvolle Atmosphäre einer liebenswerten Hommage.

Leidenschaft am Klavier: Chico und Rita finden über die Musik zueinander.
Als übergeordnete Einheit fungiert jedoch die Musik selber, deren Pendeln zwischen Liebesglück und -kummer, ganz in der Tradition des Bolero, zum Spiegel der Liebesgeschichte von Chico und Rita wird und so der mitunter etwas zu einfach gestrickten Beziehung zusätzliche emotionale Stärke verschafft. Trueba und Co-Autor Ignacio Martínez de Pisón verzichten auf längere Dialoge und lassen die Musik sprechen. Den hervorragenden Soundtrack dazu steuerte der 93-jährige Kubaner Bebo Valdés bei, einer der Mitbegründer der Folklore seines Landes, auf dem überdies die Figur Chico lose basiert. So ist Chico & Rita letztlich auch eine unverkennbare Verneigung vor den Bewohnern und der Kultur der grössten Karibikinsel, ja dem Land Kuba selber.

Mit seinem ersten Animationsfilm hat Fernando Truebas eine faszinierende Mischung aus A Star Is Born und Buena Vista Social Club kreiert, welche zwar an einer etwas allzu dünnen Story leidet, deren Charme zu widerstehen aber äusserst schwer fallen dürfte. Chico & Rita trifft mit seiner lockeren Art und seiner feinen Melancholie mitten ins Herz – wie ein gutes Stück Musik.

★★★

Donnerstag, 15. März 2012

John Carter

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Andrew Stanton greift in seinem ersten Realspielfilm auf die Wurzeln des Science-Fiction-Genres zurück. John Carter, die Verfilmung des 1912 erschienenen ersten Teils von Edgar Rice Burroughs' Barsoom-Serie, mag alles andere als makellos sein, liefert aber wunderbar altmodische Unterhaltung.

Als der Abenteurer, Exzentriker und Bürgerkriegsveteran – er kämpfte auf Seiten des Südens – John Carter (Taylor Kitsch) 1881 urplötzlich stirbt, geht sein ganzer Besitz, einschliesslich seines Tagebuchs, an seinen Neffen Edgar Burroughs (Daryl Sabar) über. Darin erzählt er von einem unglaublichen Erlebnis, welches ihm 1868 widerfahren ist. Auf der Flucht vor Indianern findet John eine Höhle voller Gold, von welcher aus er in eine Wüstenlandschaft, in der er zu riesigen Sprüngen fähig ist, transportiert wird. Bald wird er von seltsamen grünen Wesen, den Tharks, aufgegriffen, deren Anführer, der Krieger Tars Tarkas (ein herausragender Willem Dafoe), Gefallen am Fremdling findet. Nach und nach stellt sich heraus, dass John auf dem Planeten Mars – oder Barsoom, wie er von den Marsianern genannt wird – gelandet ist. Der, obwohl nur noch eine trockene Einöde, von zahlreichen Völkern besiedelte rote Himmelskörper ist seit Jahren Schauplatz eines erbitterten Bürgerkrieges zwischen den Städten Zodanga, die unter dem Schutz hinterhältiger Weiser steht, und Helium, angeführt von Prinzessin Dejah (Lynn Collins).

Im Jahr 2012 einen Film zu machen, der auf der Idee aufbaut, dass der Mars ein (gerade noch) bewohnbarer, von verschiedenen Spezies bevölkerter Planet sein soll, ist ein beträchtliches Risiko, ist doch gerade das junge Sci-Fi-Genre in letzter Zeit stark um Realismus und technische Glaubwürdigkeit bemüht – man denke an Filme wie Danny Boyles Sunshine (2007), Cargo (2009), den gefloppten "Blockbuster" aus Schweizer Produktion, oder natürlich James Camerons Avatar aus demselben Jahr, seines Zeichens erfolgreichster Streifen aller Zeiten. Gerade mit diesem wurde Andrew Stantons (WALL-E) vierte Regie-Arbeit oft verglichen, selten positiv. Dabei ist John Carter ein in mancherlei Hinsicht besserer Film als Camerons CGI-Orgie, welche sich schamlos bei anderen Werken bedient hat – von Dances with Wolves bis Ferngully.

Brüder im Geiste: Der Marsianer Tars Tarkas (Willem Dafoe) und der Erdling John Carter (Taylor Kitsch) kämpfen Seite an Seite.
Zwar kommt auch die von den Pixar-Leuten Stanton und Mark Andrews sowie dem Romancier Michael Chabon geschriebene Burroughs-Adaption nicht ohne Probleme aus. Die Humorversuche scheitern teils schon im Ansatz; gewisse Charaktere erweisen sich als inkonsistent; 3-D wäre nicht nötig gewesen; und der Schauplatz Mars wird seinem Potenzial nie ganz gerecht. Doch der Film versucht sich nicht an gestellter Plausibilität, sondern bleibt der Vorlage, entstanden in einer Zeit, in der Gedanken über interstellares Reisen noch wahrhaftig fantastisch waren, konsequent treu. Auch die Designs können sich sehen lassen, insbesondere die vierarmigen Tharks. Darüber hinaus erreicht die Titelfigur eine ungeahnte Tiefe. Sinnbildlich dafür steht sein Kampf gegen die wilden Artgenossen der Tharks – die beste Actionszene des Films –, der mit Johns Erinnerung an den gewaltsamen Tod seiner Frau verwoben wird – eine visuell wie emotional furiose Szene.

Auch wenn er in die eine oder andere Genre-Falle tappt, gelingt es John Carter überraschend gut, die Mythologie der Vorlage in einem 130-minütigen Film, bei dem vor allem die ausgezeichnete Schlussviertelstunde nachhallen wird, einigermassen flüssig zu erzählen. In der inzwischen auf Realismus getrimmten Kinowelt ist es erfrischend, eine Weltraum-Saga aus einer Zeit zu sehen, in der "Fiction" in Science-Fiction noch hochgehalten wurde.

★★★★

Donnerstag, 8. März 2012

The Iron Lady

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Kaum eine Figur in der jüngeren Geschichte Grossbritanniens polarisiert so stark wie die konservative Ex-Premierministerin Margaret Thatcher. Es gehört also eine gehörige Portion Mut dazu, ihr ein Biopic zu widmen, besonders wenn es, wie im Falle von The Iron Lady, grundsätzlich unpolitisch ist.

Der neue Film von Phyllida Lloyd (Mamma Mia!) wurde schon nach ersten Vorführungen scharf kritisiert, wobei die politischen Aspekte häufig im Vordergrund standen. Rechte warfen Lloyd vor, die Ikone Thatcher zu stark auf das Bild der dementen alten Frau zu reduzieren und ihre Erfolge in ein schlechtes Licht zu rücken. Vertreter der Linken wiederum waren der Meinung, The Iron Lady würde die negativen Seiten seiner Protagonistin schönfärben. In Wahrheit jedoch findet Lloyd in ihrem Film die goldene Mitte, indem sie von ideologischen Interpretationen absieht und Thatcher als durchaus fehlbare, aber auf ihre eigene Art beeindruckende Person darstellt. Die von Autorin Abi Morgan entworfene Geschichte setzt dabei 2008 an: Die Eiserne Lady (Meryl Streep, als Greisin mit tollem Make-Up ausgestattet) leidet nach einer Serie leichter Schlaganfälle an Demenz. Sie lebt zurückgezogen in einer Londoner Wohnung, wo sie von ihrem Personal und ihrer Tochter Carol (Olivia Colman) umsorgt wird. Oft führt sie mit ihrem verstorbenen Ehemann Denis (der grossartige Jim Broadbent), von dessen Hab und Gut sie sich nicht trennen will, imaginäre Gespräche, was ihre Betreuer sehr besorgt. Als Carol einen Arzt alarmiert, erinnert sich Margaret an ihr ereignisreiches Leben: von ihren ersten Gehversuchen in der Politik, über ihre Wahl ins britische Unterhaus, bis hin zu ihren elf Jahren als Premierministerin.

Eine Frau in der Männerdomäne: Premierministerin Margaret Thatcher (Meryl Streep) bei einer Debatte im britischen House of Commons.
The Iron Lady ist nicht der einzige aktuelle Film, der eine umstrittene Persönlichkeit ihr Leben assoziativ Revue passieren lässt. Ähnlich wie in Clint Eastwoods ebenfalls unterschätztem J. Edgar, inspirieren hier Kleinigkeiten elaborierte Rückblenden. Der passende Rhythmus dazu wird zwar erst nach der etwas zu ausgedehnten Exposition gefunden; dann aber schöpfen Lloyd und Morgan aus dem Vollen: Die einzelnen Episoden, stets mit den dazugehörigen Archivaufnahmen verknüpft, sind virtuos inszeniert – Stichwort: Falkland – und zeichnen ein faszinierendes, teils auch leicht karikiertes Bild der, so der Film, von verstockten Männern dominierten britischen Politik, in welcher sich Margaret Thatcher als quasi-feministische Pionierin hervortut. Dabei driftet das Ganze aber nie ins Formelhafte ab, sondern bleibt ein ausgewogenes und überraschend bewegendes Porträt einer Einzelkämpferin, die sich der Einsamkeit, die Macht mit sich bringt, schmerzlich bewusst wird. In dieser Rolle brilliert die zurecht mit einem Oscar ausgezeichnete Meryl Streep, deren Darbietung weit über das blosse Imitieren einer historischen Figur hinausgeht. Ihr gelingt das Kunststück, Thatcher in ihrer ganzen Bandbreite darzustellen; sie vereinigt ihre gewitzte, mitunter überaus sympathische Seite hervorragend mit ihrer überheblichen, Kollegen und Konkurrenten gegenüber gleichermassen tyrannischen Art.

Obwohl sich The Iron Lady den einen oder anderen formalen Fauxpas leistet, präsentiert sich Phyllida Lloyd als gereifte Regisseurin und liefert einen spannenden Film über eine, wenn nicht grossartige, so doch unbestritten starke Persönlichkeit ab.

★★★★½

Donnerstag, 1. März 2012

Atmen

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Wenn Schauspieler auf dem Regiestuhl Platz nehmen, ist das immer eine heikle Angelegenheit. Nicht aber in Karl Markovics' Fall. Mit Atmen, einem naturalistischen Drama, durchsetzt von klassisch österreichischem Schalk, ist ihm ein fulminantes Debüt gelungen.

Vier Jahre schon sitzt der 19-jährige Roman Kogler (Thomas Schubert) in einer Jugendstrafanstalt bei Wien. Doch das stört den in Heimen aufgewachsenen jungen Mann überhaupt nicht. Während sich seine Mitinsassen darum bemühen, eine Arbeit zu finden und so frühzeitig entlassen zu werden, zeigt Roman nicht das geringste Interesse an einem Leben in Freiheit. Nach einigen harschen Worten seines Bewährungshelfers jedoch meldet er sich auf ein Stelleninserat eines Bestattungsinstituts. Nicht nur muss er dort anfängliche Berührungsängste mit Leichen ablegen, er muss sich auch an den rauen Umgangston seiner Kollegen, etwa dem distanzierten Rudolf (Georg Friedrich), gewöhnen.

Obwohl das Schreiben und Inszenieren von Filmen für Karl Markovics, der als Hauptdarsteller im bemerkenswerten, mit einem Oscar ausgezeichneten Kriegsdrama und Moralstück Die Fälscher internationale Bekanntheit erlangte, Neuland sind, legt er in Atmen eine beeindruckende Reife und Abgeklärtheit an den Tag. Mit spärlichen Dialogen, einigen durchaus warmen Momenten, durch rechtzeitige Schnitte ausgesparten Erörterungen – einem Nicolas Winding Refn (Drive) nicht unähnlich – und Martin Gschlachts langen Einstellungen, eingefangen von einer oft starren, dafür in ungewöhnlichen Positionen platzierten Kamera, erzählt er eine atmosphärische und enorm anregende Geschichte, der auch eine komische Komponente nicht abgeht. Markovics begibt sich dabei mehrmals auf die Spuren von Wolfgang Murnbergers Verfilmungen der Wolf-Haas-Krimis – speziell Komm, süsser Tod –, wo zwischen dem düsteren Thema Tod und der nonchalanten Art, mit der beruflich damit verbundene Menschen damit umgehen, ein ironischer Kontrast gebildet wird. Überdies besitzt Markovics ein ausgesprochenes Flair für elegante Bildsprache, die sich in beinahe magisch anmutenden Szenen wie die eines aus einem Metallsarg entfliegenden Vogels, dem daraufhin die Tür zur Freiheit geöffnet wird, oder eines unter Wasser verharrenden Roman niederschlägt.

Jungdelinquent Roman Kogler (Thomas Schubert) versucht, im Berufsleben Fuss zu fassen.
Und ebendieser Roman Kogler bildet das dramaturgische und emotionale Zentrum des Films, allerdings ohne je mehr als einen Satz am Stück von sich zu geben. Zwar wirkt der junge Mann auf den ersten Blick wie eine normale, wenn auch etwas unnahbare Figur, doch die Frage, die sich dem Zuschauer unweigerlich stellt, ist die nach seiner Vergangenheit, denn sein langer Verbleib im Gefängnis entbehrt sicherlich nicht eines triftigen Grundes. Dieses Rätsel ist eines der vielen Spannungsfaktoren des Films. Darsteller Thomas Schubert, ansonsten Stunt-Double, erweist sich als Idealbesetzung für die Rolle, da er mit einem einzigen melancholischen Blick viel mehr viel natürlicher zu sagen vermag, als Worte dazu in der Lage wären.

Filme wie Die Fälscher oder Der Knochenmann haben längst den Beweis für die ausserordentliche Qualität von Österreichs zeitgenössischer Filmindustrie erbracht. Mit dem grossartigen Atmen hat sich nun Karl Markovics ebenfalls in die Reihe von Austrias grossen Regietalenten eingefügt. Man darf gespannt sein, wie sich seine Zukunft als Regisseur und Drehbuchautor entwickeln wird.

★★★★★½