Sonntag, 31. März 2013

Oz the Great and Powerful

Das Prinzip Fan Fiction ist längst nicht mehr nur dem eingeweihten Enthusiasten vorbehalten. Mittlerweile haben auch Filmstudios das Potenzial entdeckt, das unerforschte Gelände grosser Werke aus Literatur und Kino auszuleuchten. Das aktuellste Beispiel heisst Oz: The Great and Powerful und zeigt in berückenden Bildern, wie es die Titelfigur von Victor Flemings Technicolor-Klassiker The Wizard of Oz überhaupt ins Land der magischen Kreaturen verschlagen hat.

Kansas, 1905: Viele Jahre vor Dorothys Reise durch den Tornado und "über den Regenbogen" zieht der trickreiche Zauberer und Frauenheld Oscar Diggs (James Franco) unter dem Namen "Oz the Great and Powerful" mit einem Wanderzirkus von Ort zu Ort. Als er aber eines Tages der Freundin des Zirkus-Muskelprotzes Avancen macht, ist es mit seinem geruhsamen Leben vorbei. Zwar kann er dem Streit per Heissluftballon entkommen, steuert damit aber direkt in einen Sturm hinein. Dieser trägt ihn in ein seltsames fremdes Land, wo ihm sogleich die hübsche Hexe Theodora (Mila Kunis) begegnet, die ihn im Land von Oz begrüsst und in ihm den prophezeiten Magier zu erkennen glaubt, der ihre Welt von der bösen Hexe Glinda (Michelle Williams) befreien soll. Trotz des Misstrauens von Theodoras Schwester Evanora (Rachel Weisz) kann Oscar die Illusion mit seinen Taschenspielertricks aufrecht erhalten und macht sich mit dem fliegenden Affen Finley (Stimme: Zach Braff) auf, Glinda zu töten. Immerhin winkt ein riesiger Schatz als Belohnung.

Der Moment, in dem Dorothy Gale (Judy Garland) in The Wizard of Oz ihr im Munchkinland bruchgelandetes Haus verlässt, gehört zu den Schlüsselsequenzen des klassischen Hollywood: Garland öffnet die Tür und bewegt sich, wie das Kino selbst, weg vom Monochrom, hinein in eine Welt voller satter, leuchtender Farben. Auch Oz: The Great and Powerful weiss um die Tragweite der Szene, wobei Regisseur Sam Raimi die Verwandlung dank moderner Technik in ganz neuen Dimensionen darstellen kann: Das Schwarzweiss-Bild wird von Farbe durchflutet, das alte Academy-Format weicht dem Breitbild, Stereo-Ton setzt ein. Es ist eine elaborierte, technisch einwandfrei vollzogene Verneigung des Prequels vor dem Original, die aber leider allzu deutlich darauf hinweist, dass Oz kein eigenständiges Werk ist. Raimi versucht, die Faszination von Flemings Kostüm-Musical mit den gleichen Mitteln zu reproduzieren, büsst so aber gleichzeitig seinen Individualismus ein; sein Film bleibt eine weitgehend seelenlose Aneinanderreihung von Zitaten, Querverweisen und schwelgerischen Computerbildern.

Wie alles begann: Sam Raimi lädt ein zur CGI-Reise nach Oz.
© Disney
Letztere, obgleich ein Fest fürs Auge, vermögen indes auch nicht über den fadenscheinigen Inhalt hinwegzutäuschen. Zwar orientiert sich auch die Handlung an The Wizard of Oz – der Neuankömmling wandert mit seinen zauberhaften Gefährten durch Oz, immer auf der Hut vor der bösen Hexe –, doch die Autoren David Lindsay-Abaire (Rabbit Hole) und Mitchell Kapner (The Whole Nine Yards) scheinen eher damit beschäftigt, vorsichtig Brücken zum Original zu schlagen – aus rechtlichen Gründen basiert Oz offiziell lediglich auf L. Frank Baums Büchern – als überzeugende Figuren zu entwerfen. Tragisch, Mila Kunis, ansonsten einer verlässlichen Grösse in mittelmässigen Filmen, zusehen zu müssen, wie sie schmachtend und seufzend dem vermeintlichen Magier Oscar verfällt, in ihrer Eifersucht anschliessend zur blindwütigen Furie mutiert und schliesslich in PG-13-gerechter Manier bis aufs Korsett entkleidet wird. Diesem unangenehm archaischen Frauenbild steht ein Figurenkreis gegenüber, der sich überwiegend damit begnügt, das Geschehen auf der Leinwand durch Begleitkommentar zu ergänzen.

Die Ehrenrettung des überwiegend belanglosen, schnell vergessenen Films erfolgt spät. Nach rund 110 Minuten dramatischen und emotionalen Leerlaufs, hie und da unterbrochen durch uninspirierte Schreckmomente, schöpft Raimi die Möglichkeiten, die ihm 3-D und CGI bieten, endlich aus: Oz zeichnet sich durch einen stimmigen, solide inszenierten Action-Höhepunkt aus, der ahnen lässt, was mit mehr Fantasie hätte sein können. Ob der Film dadurch aus dem Schatten des Originals getreten wäre, ist allerdings eine andere Frage.

★★

Samstag, 30. März 2013

Spring Breakers

© Praesens Film
★★★

Korine by no means condones the decadence he is conjuring up on screen. His glossy exhibition of naked bodies, phallic symbols ranging from bottles and funnels to children’s balloons, and women gleefully accepting their being reduced to mere objects of carnal desire is a furious indictment of the original advertisement’s target audience. Korine all but spits in the faces of those who – he thinks – are filling the multiplexes in the hope of seeing exposed flesh.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Freitag, 29. März 2013

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Während hierzulande gerne die Trivialisierung der Politik beklagt wird, zeigt das leichtfüssige Dokudrama No, Chiles erster für den Fremdsprachen-Oscar nominierter Film, wie man damit die Massen ansprechen und sogar eine Diktatur stürzen kann.

1988 steht Chile am Scheideweg. 14 Jahre lang ist Diktator Augusto Pinochet an der Macht, "legitimiert" durch eine gut situierte Mittelschicht, welche die Augen vor dem Preis ihres Erfolges verschliesst: Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, Proteste werden brutal niedergeschlagen, Andersdenkende verschwinden spurlos. Wegen steigenden internationalen Drucks sieht sich Pinochet gezwungen, sein Volk darüber abstimmen zu lassen, ob er sein Amt weitere acht Jahre ausüben darf. "Sí" ist eine Stimme für ihn, "No" für die Opposition. Um die ihnen an täglicher Fernsehzeit zustehende Viertelstunde optimal auszunutzen, verpflichten die No-Verfechter den Werbeexperten René Saavedra (Gael García Bernal), der eine erfolgreiche Kampagne auf die Beine stellt. Dieses Engagement bleibt allerdings nicht unbemerkt: Familie, Freunde und auch er selber geraten ins Visier des staatlichen Einschüchterungsapparates.

Tränengas liegt in der Luft, Demonstranten flüchten vor einer Armee bewaffneter Polizisten. Über die Bilder sind Texttafeln gelegt; sie zeigen, wie viele willkürliche Verhaftungen das Pinochet-Regime zu verantworten hat, wie viele Exilanten, wie viele Exekutionen. Das karge Fazit: "No". Ob sie glauben, damit die Wahl gewinnen zu können, möchte René Saavedra wissen. Nein, aber darum gehe es auch nicht, lautet die Antwort. Das Ziel sei, Aufmerksamkeit zu erregen. Wenig später legt Saavedra seine Vision vor, eingeführt mit der immer gleichen Versicherung, dass der folgende Clip "in den gegenwärtigen sozialen Kontext Chiles passt". Fröhliche Menschen singen und tanzen, alles ist bunt; Freiheit und Freude sollen fortan die Opposition inspirieren. Die neue Botschaft lautet "No más", "nicht mehr": Schluss mit der Armut, Schluss mit der Angst, Schluss mit der Diktatur.

Kreative Pause: Werbefachmann René (Gael García Bernal) übernimmt die gefährliche Aufgabe, die Fernsehkampagne gegen Diktator Pinochet zu gestalten.
© cineworx
Die Gegenüberstellung dieser beiden Interpretationen von Demokratie ist einer der Hauptkonflikte im dritten Teil von Pablo Larraíns Pinochet-Trilogie (Tony Manero, Post mortem). Ist es wirklich integrer, die Wählerschaft mit Fakten zu überzeugen, wenn griffige Slogans und lustige Ideen eher zum Ziel führen? Larraín nimmt diese Frage keineswegs auf die leichte Schulter – wie es ihm einige chilenische Kritiker vorgeworfen haben –, sondern versucht sie anhand der Entwicklung seiner Hauptfigur zu beantworten. René wandelt sich vom apolitischen Jedermann zum vorsichtigen politischen Optimisten, der schliesslich aber einsehen muss, dass der von ihm orchestrierte Erfolg der No-Kampagne einen heiklen Präzedenzfall geschaffen hat. Entertainment-Politik war ein Segen im Chile der späten Achtzigerjahre – sie "passte in den sozialen Kontext" –, doch davon auf die Allgemeingültigkeit zu schliessen, wäre falsch.

Larraíns primäres Bestreben ist es jedoch, sich vor den Helden des Plebiszits von 1988 zu verneigen. Dabei erweist sich das Medium, eine alte U-matic-Videokamera, als ideales Stilmittel: Archivaufnahmen verbinden sich nahtlos mit inszeniertem Material. Fast könnte die Illusion entstehen, No wäre aus den Archiven Santiagos gehoben worden – wären da nicht Larraíns gezielte Brüche: Dialoge werden trotz abrupter Schauplatzwechsel ohne Unterbrechung fortgeführt, sich selber spielende Protagonisten, etwa der heute 94-jährige Patricio Aylwin, Pinochets Nachfolger, erscheinen in den No-Werbespots plötzlich viel jünger. Mit Kniffen wie diesem unterstreicht Larraín seinen Anspruch, nicht Dokumentation, sondern Kunst mit hohem Unterhaltungswert machen zu wollen. Etwas mehr Substanz hätte No zwar nicht geschadet, doch über das Resultat lässt sich nicht streiten.

★★★★

Donnerstag, 21. März 2013

Like Someone in Love

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Seit gut 25 Jahren ist der Iraner Abbas Kiarostami der prominenteste Vertreter des nahöstlichen Kinos. Sein neuer Film führt ihn jedoch in fremde Gefilde: In Like Someone in Love dient ihm Japan als Leinwand für ein meditatives Drama über Liebe, Identität und Kommunikation.

Um sich ihr Soziologiestudium an einer Tokioter Universität finanzieren zu können, arbeitet die junge Akiko (Rin Takanashi) des Abends als Callgirl. Als ihr Chef sie eines Abends zu einem Auftrag in die Vorstadt abkommandiert, prallen Privatleben, Beruf und Ausbildung aufeinander: Zum einen muss sie ihren misstrauischen Freund Noriaki (Ryo Kase), dem sie ihre Nebeneinkunft verheimlicht, per Telefon beruhigen; zum anderen opfert sie für ihren Kunden, den pensionierten Professor Takashi (Tadashi Okuno), den Schlaf, den sie vor der anstehenden Prüfung bitter nötig hätte, sowie die Möglichkeit, sich mit ihrer Grossmutter zu treffen, welche kurzfristig einen eintägigen Tokio-Besuch angekündigt hat. Bei Takashi angekommen, verzichtet Akiko auf das ihr angebotene Abendessen und legt sich sogleich ins Bett. Am nächsten Morgen fährt ihr Gastgeber sie zur Universität, wo er mit Noriaki ins Gespräch kommt, der ihn für Akikos Grossvater hält.

Die Feinheiten und Fallgruben menschlicher Interaktion sind für Abbas Kiarostami (Where Is the Friend's Home?, Taste of Cherry, The Wind Will Carry Us), 72, kein Neuland: Schon Close Up (1990), sein satirisch angehauchtes Stück Cinéma vérité um eine absurde Verwechslung, zeigte die Fährnisse von Missverständnissen, die aus Höflichkeit nicht aufgeklärt werden. Seit er jedoch seinem geliebten Heimatland zumindest vorübergehend den Rücken gekehrt hat, scheint ihn dieses Thema mehr denn je zu inspirieren. Insofern ist Like Someone in Love, sein zweiter ausserhalb des Irans gedrehter Spielfilm, eindeutig ein Begleitwerk zu Copie conforme von 2010, wo das Gespräch zweier Fremder plötzlich in den Dialog eines desillusionierten Ehepaars überleitete. Hier beschäftigt sich Kiarostami mit dem Versuch – und dem Scheitern – der Kommunikation: zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen (Anklänge an Japans Filmemacher-Legende Yasujiro Ozu), zwischen den Menschen.

Akiko (die herausragende Rin Takanashi) steht vor einer wegweisenden Nacht.
© Praesens Film
Er zeigt ein zweigeteiltes Tokio, neonfarbene Glitzerwelt bei Nacht, unspektakuläre Betonwüste bei Tag, in dem die Stimmen aus Radios und Mobiltelefonen kommen, in dem stets über unsichtbare Dritte gesprochen wird, wo selbst das Gegenüber, wenn überhaupt, nur verschwommen wahrnehmbar ist. In diesem unpersönlichen Moloch aus zwischenmenschlichen Barrieren und kodierten Verhaltensregeln – warum er über den Witz lacht, möchte Akiko wissen; "Weil es eben ein Witz ist", antwortet Takashi –, den auch Wong Kar-wai schon in In the Mood for Love thematisierte, ist es, so Kiarostami, schier unmöglich, sich seinen Individualismus zu bewahren: Laut Akiko vergeht kein Tag, an dem sie nicht mit jemand anderem verglichen werde. Das gesellschaftliche Maskenspiel ist vollkommen: Als Takashi den Part des Grossvaters übernimmt, wird klar, dass auch seine jüngeren Gesprächspartner lediglich Rollen spielen – Noriaki den Ehemann, Akiko (brillant gespielt von der faszinierend ausdrucksstarken Rin Takanashi) das Escort Girl.

Das alles scheint letztlich auf die Frage hinauszulaufen, was denn die monogame Liebe eigentlich ist und ob sie in dieser in Ritualen gefangenen Welt überhaupt noch gilt. In Copie conforme konnten sich zwei wildfremde Menschen eine ganze Ehe ausdenken; hier wird eine Beziehung durch Wortlosigkeit am Leben erhalten. Der Titel ist Programm: Es herrschen Unsicherheit, Vagheit, das Fehlen klarer Bezeichnungen und Konturen. Diese Vielfalt an Motiven und Themen trägt Kiarostami mit atemberaubender Schlichtheit und visueller Eloquenz vor. Auch deshalb ist Like Someone in Love das kontrollierte, souveräne Werk eines Meisters.

★★★★★

Mittwoch, 20. März 2013

Detachment

Kontroversen, Pech und vor allem Widersprüche prägen die Filmkarriere des britischen Künstlers Tony Kaye: In eineinhalb Jahrzehnten drehte er nur vier Filme, von denen es einer nicht einmal ins Kino schaffte. Er erntete begeisterte Kritiken und wütende Publikumsreaktionen, drängte sich trotz heftig geführter Debatten nie ins Scheinwerferlicht. In Detachment versucht er nun, Dokumentation und Gesellschaftsdrama zusammenzuführen; er scheitert auf faszinierende Art und Weise.

Der Aushilfslehrer Henry Barthes (Adrien Brody) wird damit beauftragt, an einer New Yorker Problemschule einen Monat lang Englisch zu unterrichten. Dort, wo die Noten tief und die Gewaltbereitschaft hoch ist, treffen resignierte Lehrer auf wütende, frustrierte, desinteressierte und deprimierte Schüler, deren Eltern sich wenig bis gar nicht mit dem Werdegang ihrer Kinder auseinandersetzen. Während seiner Anstellung erlebt Henry, wie sich die Lehrerschaft (bestehend aus Marcia Gay Harden, Blythe Danner, James Caan, Christina Hendricks und der starken Lucy Liu) mit emotionaler Distanz, Psychopharmaka und blankem Zynismus der täglichen Sisyphusaufgabe stellt, und lernt nebenbei die junge Prostituierte Erica (Sami Gayle) kennen.

Tony Kayes Interesse an und Umgang mit Amerikas soziopolitischen Brennpunkten platziert sich irgendwo zwischen (filmischer) Fiktion und Realität; in seinen Werken trifft – und beisst – sich dokumentarische Genauigkeit mit ausschweifender Ästhetik und pointierter Dramaturgie. Zwei Spielfilme hat er gemacht, sie handeln von Neonazis (American History X) und Hurrikan Katrina (Black Water Transit – bis heute nicht fertig gestellt); seine gefeierte Monumentaldokumentation Lake of Fire gilt als unparteiisches Standardwerk zum Thema Abtreibung.

Detachment in dieses Schema einzuordnen, ist schwierig. Freilich, Kaye erzählt, nach einem Drehbuch von Carl Lund, eine gänzlich konstruierte Geschichte, die mit bekannten Schauspielern besetzt ist. Andererseits bedient sich der Film aber auch beim Stil-Katalog des Dokumentarfilms: Der Protagonist gibt einer unsichtbaren Crew ein Interview, in dem er, quasi als Gegenentwurf zu Robin Williams in Dead Poets Society, über das undankbare Leben eines Innenstadt-Lehrers spricht, über die Defizite der US-Bildungspolitik, über das Regierungsprojekt "No Child Left Behind". Detachment ist auch eine Milieustudie, verwandt mit Matthieu Kassovitz' La haine, die einen Blick hinter die Fassade der Vorzeigemetropole New York wirft und dabei aufdeckt, dass sich die Banden- und Drogenprobleme der Achtzigerjahre bestenfalls lediglich verlagert haben, dass im mardoen Bildungssystem derzeit eine neue Generation von perspektivlosen Jugendlichen heranwächst, die ohne enge Zusammenarbeit von Staat, Schulbehörden und Familien bald wieder zu Uzi und Crackpfeife greifen könnten.

Aushilfslehrer Henry Barthes (Adrien Brody) nimmt sich der depressiven Meredith (Betty Kaye) an.
© filmcoopi

Parallel dazu beschäftigen Kaye weitere gesellschaftliche Problembereiche: Henry Barthes' Grossvater (beeindruckend: Louis Zorich) siecht in einem liederlich geführten Pflegeheim vor sich hin; Erica ist, obwohl noch keine 20 (Darstellerin Sami Gayle ist 17 Jahre alt), bereits durch das soziale Fangnetz gefallen und kratzt sich ihren Lebensunterhalt auf dem Strich zusammen, wo aggressive Freier und gefährliche Geschlechtskrankheiten zum Berufsrisiko gehören. Aus diesen Szenen aus dem New Yorker Strassenleben hinter den glitzernden Wolkenkratzern New Yorks, den Einzelschicksalen Henrys und seiner Kollegen sowie den zahlreichen morbiden Kreideanimationen webt Kaye einen Flickenteppich, der letztlich nur ein tristes Fazit zulässt: Das System ist kaputt, korrodiert von den alten Strukturen und Praktiken, die man eigentlich schon überwunden und ersetzt geglaubt hat.

Was Detachment zu sagen hat, ist sicher nicht falsch; wie er das Gesagte präsentiert, ist angenehm experimentierfreudig und würde anderen Filmen mit ähnlicher Mission gut zu Gesicht stehen. Woran der Versuch aber krankt, ist das Wie. Mit hoch erhobenem Zeigefinger dozieren Kaye und Lund über den physischen und ideologischen Zerfall der öffentlichen Institutionen. Ihre Figuren halten lange, bedeutungsschwangere, deklarative Monologe – einer davon wird von einer Rede Adolf Hitlers ergänzt –, in denen sie exakt auflisten, wo die Fehler liegen, wo Verbesserungsbedarf besteht. Anders als etwa David Cronenbergs Cosmopolis, ebenfalls ein erbitterter Rundumschlag, greift Detachment aber nicht Ideen und kulturelle Mentalitäten, sondern konkrete, fassbare Probleme an. Und dort gilt die Maxime, dass mit dem Anprangern allein noch nichts erreicht ist. So zerbricht Detachment an seiner unglücklichen Heuchelei. Es ist ein Film, der sich darüber echauffiert, dass die Mächtigen für die Herausforderungen der Realität nur leere Worte übrig haben. Entgegenzusetzen hat er ihnen aber nur eines: eine wütende, eloquente, aber leider nicht minder leere Tirade.

★★

Hitchcock

Setzt sich ein Film mit der Kultfigur Alfred Hitchcock auseinander, dann kündigt sich gewichtiges Kino an, ist die britische Regie-Ikone doch als einer der bedeutendsten Filmemacher der Geschichte unbestritten. Doch diese Erwartungshaltung wird in Sacha Gervasis erstem Spielfilm mit der Nonchalance seiner Hauptfigur genüsslich konterkariert: Hitchcock ist leichtgewichtige Hollywood-Unterhaltung erster Güte.

1959: Mit North by Northwest festigt Alfred Hitchcock (Anthony Hopkins) seinen Ruf als "berühmtester Regisseur aller Zeiten", kann dessen Erfolg aber nicht lange geniessen, da er bereits wieder fieberhaft nach einem Projekt sucht. Dabei schlägt er Ian Flemings Casino Royale ebenso aus wie das aktuelle Buch von Whitfield Cook (Danny Huston), dem besten Freund seiner geliebten Frau Alma Reville (Helen Mirren). Schliesslich fällt ihm Robert Blochs Skandalroman Psycho, basierend auf dem Mörder und Grabräuber Ed Gein (Michael Wincott), in die Hände – und "Hitch" ist total begeistert. Da die Idee aber trotz der Bemühungen seines Agenten Lew Wasserman (Michael Stuhlbarg) weder vom Paramount-Studio noch von der Zensurbehörde abgesegnet wird – zuviel Gewalt, zuviel sexuelles Innuendo –, sieht sich Master of Suspense gezwungen, den Film zusammen mit Alma zu finanzieren. Mit Janet Leigh (Scarlett Johansson) und Anthony Perkins (James D'Arcy) in den Hauptrollen beginnt der Dreh.

2012 wurde das Publikum gleich doppelt mit der überlebensgrossen Figur des Sir Alfred Joseph Hitchcock konfrontiert. Im Oktober strahlte der Fernsehsender HBO den TV-Film The Girl aus, in dem Julian Jarrold zusammen mit Hauptdarsteller Toby Jones die tyrannische Seite des Regisseurs herausstrich: Er erzählt davon, wie Hitchcock, getrieben vom "Verlust" von Grace Kelly ans monegassischen Fürstenhaus, in Tippi Hedren eine neue Lieblings-Blondine findet und sich auf den Sets von The Birds und Marnie an ihr vergreift. Aus der Legende Hitchcock wurde der despotische Familienpatriarch, dessen Erfolg ihn jahrelang immun gegen die Aufdeckung seiner Untaten machte.

In Robert Blochs Roman Psycho findet Alfred Hitchcock (Anthony Hopkins) sein neues Projekt.
© 2012 Twentieth Century Fox Film Corporation
Im Dezember folgte Hitchcock, der, obwohl beileibe keine Heiligsprechung, sicher einen gütigeren Blickwinkel vertritt, jenen einer Kim Novak (Hitchcocks Muse in Vertigo) oder einer Nora Brown, der Witwe von Hitchcocks langjährigem Freund James H. Brown, die beide Jarrolds Film aufs Schärfste kritisierten. Zwar ist "Hitch" auch in Sacha Gervasis Version mindestens ein schwieriger Zeitgenosse, doch anders als in Hedrens Beschreibungen lässt er sich hier allenfalls grenzwertige Essgewohnheiten und seine berühmt-berüchtigten Set-Streiche zu Schulden kommen. Der grausame Patriarch verwandelt sich in einen exzentrischen Onkel, der über einem Glas Brandy die besten Geschichten zu spinnen weiss.

Wie es auch oft in Hitchcocks Karriere der Fall war, ist in Gervasis Film aber nicht unbedingt der Plot das stärkste Element. Drehbuchschreiber John J. McLaughlin (Black Swan) scheint sich streckenweise nicht sicher zu sein, was er mit seinem prominenten Protagonisten anfangen soll und verheddert sich allzu oft in Banalitäten und fehlgeleiteten Kunstgriffen. Die Idee, den Spiess umzudrehen und Alma Reville eine mögliche Fast-Affäre anzudichten, ist in Bezug auf The Girl und inhaltlich verwandte Literatur pfiffig, nimmt aber eindeutig zu viel Laufzeit in Anspruch. Hitchcock in Traumsequenzen zum Quasi-Komplizen Ed Geins zu machen, wirkt gestelzt und unnötig. Nur unklar umrissen bleiben derweil filmhistorische Ansätze: So hätte Hitchcock mit mehr Sorgfalt unterschwellig von der Rolle des Sterbehelfers handeln können, die Psycho für das alte Studiosystem und den Hays Code spielte. Die Höhepunkte von McLaughlins Skript sind indes ein profanes Vergnügen: Hier eine Anspielung, dort ein Filmtitel; hier Janet Leigh, die Hitchcocks Methoden denen eines Orson Welles vorzieht; dort die inspirierte Rahmenhandlung, die den Film als eine Episode von Alfred Hitchcock Presents inszeniert.

Kreative Partnerschaft: "Hitch" und seine resolute Ehefrau Alma Reville (Helen Mirren).
© 2012 Twentieth Century Fox Film Corporation
Als Gegengewicht zum nur zum Teil überzeugenden Inhalt nutzt Gervasi allerdings nicht die gleichen Techniken wie Hitchcock. Während dieser mit seiner formalen Brillanz auch mittelmässige Stoffe zu veredeln vermochte, muss sich Neuling Gervasi anderweitig behelfen. Wenn sich Hitchcock um nur etwas verdient macht, dann darum, die einzigartige Beziehung zwischen seiner Titelfigur und Alma Reville gebührend zu würdigen. Dies ist allerdings weniger auf McLaughlins Schreib- und Gervasis Regiequalitäten als auf die Besetzung der beiden Rollen zurückzuführen. Anthony Hopkins' Affektiertheit geht nach und nach in eine würdige Leinwandinterpretation des grossen Regisseurs über, die letztendlich in seinem thetralisch-virtuosen Dirigieren der Zuschauerschreie kulminiert. Ihm gegenüber steht das wahre Herz des Films: Helen Mirren spielt eine feurige Alma Reville, die in ihrer souveränen Zurückhaltung das polare Gegenteil ihres Mannes zu sein scheint, sich in den entscheidenden Momenten aber als perfekte Kontrastfigur zum spröden "Hitch" erweist.

Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Hitchcock Psycho, in einer seiner besten Untertreibungen, gerne als "our little movie" bezeichnet hat. Die Beschreibung passt auch auf Hitchcock: Er sagt nicht viel, er wagt nicht viel, er ist "Filmen nach Zahlen", das auch vor Klischees und abgedroschenen, trailerfreundlichen Dialogen nicht Halt macht. Doch er zeigt auch die nachhaltige Kraft des Meisters: Ist Hitchcock involviert, kommt nie Langeweile auf.

★★★

Sonntag, 17. März 2013

This Is 40

Der Stern des Judd Apatow ging auf, als die amerikanischen Komödie drohte, in ihrem Zweiklassensystem zu verharren, als der Markt von trivialen Nettigkeiten und geschmacklosen Machwerken bestimmt wurde. So schien denn auch die Unverfrorenheit eines Films wie The 40-Year-Old Virgin einer kleinen Revolution gleichzukommen. Sieben Jahre und drei Regiearbeiten später ist von Apatows Heilsverkündung nicht mehr viel übrig. In This Is 40 zerbricht sie endgültig.

Die Ehe von Pete (Paul Rudd) und Debbie (Leslie Mann, Apatows Ehefrau) ist schon lange zur Routine geworden. Romantik ist ein Luxus, der Valentinstagen und Wochenendausflügen vorbehalten ist; die streitenden Kinder Charlotte und Sadie (Iris und Maude Apatow – Schauspieltalent: Fehlanzeige) werden sich selber überlassen; er bemüht sich, authentische Künstler für sein Plattenlabel zu gewinnen, während sie ihren Modeladen nach bestem Wissen und Gewissen führt. Als für die beiden jedoch innerhalb einer Woche der 40. Geburtstag ansteht, bricht das Chaos aus: Debbie will sich ihr Alter nicht eingestehen, besteht auf 38 Kerzen auf dem Kuchen und zwingt den ganzen Haushalt dazu, sich gesünder zu ernähren und weniger Zeit vor den elektronischen Geräten (allesamt von Apple) zu verbringen. Derweil kämpft Pete gegen den finanziellen Bankrott.

Vieles in This Is 40 ist reine Formalität: die Namen, die Schauplätze, die Tatsache, dass es der Film tunlichst vermeidet, den Nachnamen der Familie preiszugeben, mit der sich der Zuschauer 133 Minuten lang identifizieren soll. Denn Pete ist nichts anderes als ein Stellvertreter für Judd Apatow, Frau und Kinder werden von den Leuten gespielt, mit denen der Regisseur sein Leben teilt, das prunkvolle Vorstadthaus der Sippe ist einen Steinwurf von Apatows realer Residenz entfernt. Wäre der Film ehrlich mit sich selbst und seinem Publikum, würde der Name "Apatow" weit mehr als nur den Grossteil seines Abspanns schmücken.

Stattdessen tarnt sich der Streifen als raffinierte, lebensnahe Komödie über das Phänomen der Midlife Crisis – so wie The 40-Year-Old Virgin Sex und Gruppendruck unter die Lupe nahm, Knocked Up Schwangerschaft, Funny People Beruf und Tod. Doch der neueste – und hoffentlich letzte – Eintrag in Apatows Quadrilogie des begüterten weissen Mittelschichtlebens ist der traurige Höhepunkt einer Filmreihe, die mit jedem Film, scheinbar analog zu jeder weiteren Million an den Kinokassen, aufgeblähter und selbstgerechter wurde.

Midlife Crisis zum Ersten: Debbie (Leslie Mann) will, dass sich ihre Familie gesünder ernährt.
© Universal Pictures
Die Komödie Marke Apatow, eine seltsame Mischung aus Mumblecore, Frat-Comedy und popkulturellen Anspielungen und Namensnennungen, fällt in This Is 40 buchstäblich in sich zusammen. Ja, sie hört in ihrem penetranten Möchtegern-Postmodernismus sogar auf, Komödie zu sein. An die Stelle von Pointen und gewitzten Dialogen treten angesagte Komiker wie Melissa McCarthy, Jason Segel und Chris O'Dowd, die in ihren improvisierten Monologen ohnehin zweifelhafte Gags ins Unerträgliche strecken. Banale Alltäglichkeiten wie der Anblick Petes in voller Radfahrermontur werden zum Humorelement erhoben. Die Geschmacklosigkeiten, vor einigen Jahren noch frisch und unverbraucht, sind mittlerweile zu drögen Kindereien verkommen.

Als noch schlimmer stellt sich jedoch die Familie Apatow B heraus: Nicht genug damit, dass die einzelnen Figuren unsauber charakterisierte, überkarikierte Neurotiker sind, denen jegliche menschliche Dimension zu fehlen scheint; Debbie und Pete gehören ihrerseits zu den unausstehlichsten Protagonisten seit Ashton Kutcher und Cameron Diaz in What Happens in Vegas.... Die seufzende, japsende, mit görenhaft-nasaler Stimme "Oh my God" schreiende Leslie Mann ist nicht viel mehr als ein verzogener Teenager im – von Apatow hart an der Grenze zum Sexismus in Szene gesetzten – Körper einer Vierzigjährigen. Ihrer nicht enden wollenden Nörgelei allein ist es zu verdanken, dass Pete zumindest anfänglich wie ein passabler Charakter wirkt – bis er, auf dem Rücken liegend, versucht, Fotos von seinen Hämorrhoiden zu schiessen.

Midlife Crisis zum Zweiten: Trotz Debbies Spardiktat finanziert Pete (Paul Rudd, links) weiterhin seinen Vater (Albert Brooks).
© Universal Pictures
Knapp 100 Minuten lang hält der schnoddrig geschnittene Film diesen Fokus aus. Dieser verlagert sich mit der Ankunft des klimaktischen Geburtstagsfestes auf die unzähligen Nebenfiguren, welche Apatow einzig dem Zweck zu dienen scheinen, der Welt seinen Bekanntenkreis vorzuführen: Ein unnötiger Cameo jagt den nächsten, von der praktisch unsichtbaren Lena Dunham zur verzweifelten Megan Fox, die sich nun vollends der Selbstparodie ergeben zu haben scheint. Einzig den Vätern von Pete und Debbie, gespielt von Albert Brooks und John Lithgow, gelingt es, dem Schlamassel mit einigermassen intakter Würde zu entkommen. Zwar finden die beleidigenden Humorversuche in dieser starbesetzten letzten halben Stunde endlich ein Ende, werden aber bloss durch die blanke Langeweile künstlich verlängerter Handlungsstränge ersetzt.

Apatow verdankt seine Popularität einem glücklichen Zufall. Zu einer Zeit, in der Hollywoods Komödien gegen eine Krise zu kämpfen hatten, erschien sein Stil mutig und neu. Inzwischen aber ist dieser in eben jene Form degeneriert, deren Platz er einst hätte einnehmen sollen. This Is 40 schlägt in jeder Hinsicht über die Stränge. Es ist ein verabscheuungswürdiger Film, der die Handschrift eines Regisseurs trägt, dessen Selbstbewusstsein mittlerweile in Megalomanie übergegangen ist, der der Auffassung ist, dass sein Publikum alles akzeptiert, was er ihm vorsetzt. Bleibt zu hoffen, dass er sich irrt.

Donnerstag, 14. März 2013

Night Train to Lisbon

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Peter Bieris Roman Nachtzug nach Lissabon, veröffentlicht unter dem Pseudonym Pascal Mercier, avancierte nach seiner Erscheinung 2004 zum Weltbestseller. Bille Augusts biedere Verfilmung enttarnt den Stoff, wenn auch ungewollt, als reine Hochstapelei.

Wieder einmal hat der geschiedene Lateinlehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons) eine schlaflose Nacht verbracht, wieder einmal schleppt er sich lustlos in sein Berner Gymnasium. Doch auf dem Weg dahin bewahrt er eine junge Frau davor, sich von der Kirchenfeldbrücke in den Tod zu stürzen. Dies ist für Raimund der Startschuss zu einer unglaublichen Entdeckungsreise: Im Mantel der Frau findet er nebst einem Buch des portugiesischen Philosophen Amadeu de Prado (Jack Huston) zwei Zugfahrkarten nach Lissabon. Instinktiv tritt er die Reise an und forscht in Portugals Hauptstadt nach der Geschichte de Prados, die von Liebe, Freundschaft, Verrat, Tod, Literatur und der Salazar-Diktatur geprägt war.

Nachtzug nach Lissabon wurde seit seiner Veröffentlichung in 32 Sprachen übersetzt; die deutsche Originalfassung verkaufte sich bis heute insgesamt zwei Millionen Mal. Auf dem Papier scheint die Kinoadaption diesen beachtlichen Zahlen durchaus gerecht zu werden: Fünf Produktionsfirmen ermöglichten ein stattliches Budget; mit Bille August (Pelle the Conqueror, The Best Intentions) wurde ein mehrfach preisgekrönter Regisseur mit weltweitem Renommee verpflichtet; das Schauspiel-Ensemble ist durchsetzt von grossen Namen wie Irons, Bruno Ganz, Tom Courtenay, Charlotte Rampling und Christopher Lee. Doch diese grossspurige Internationalität ist nur das erste von etlichen Mankos, welche Night Train to Lisbon belasten.

Während die Tatsache, dass im Sinne von Hauptdarsteller Irons Englisch kurzerhand zur Berner Amtssprache erhoben wird – eine Umstellung, der sich auch "unser" Hanspeter Müller-Drossaart fügen muss –, zwar noch amüsiertes Schmunzeln evoziert, zumal der Besuch der Bundesstadt recht kurz ausfällt, wiegt die Entscheidung, Engländer, Deutsche, Franzosen und Schweizer mit der Aufgabe zu betrauen, Portugiesen zu spielen, um einiges schwerer. Dies führt zu einem surreal-grotesken Panoptikum an Akzenten, in dem die ordnende Hand Augusts offenkundig versagt hat. So erhebend es sein mag, Mimen wie Christopher Lee – oder auch dem angenehm gedämpft auftretenden Jeremy Irons – dabei zuzusehen, wie sie sich trotz dieses missglückten Kunstgriffs zu entfalten wissen, so desillusionierend ist es, hochbegabte Darsteller wie Bruno Ganz, Martina Gedeck oder Tom Courtenay als geradezu lächerliche Fehlbesetzungen zu erleben.

Im Bann der Literatur: Lateinlehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons) reist wegen eines Buches nach Lissabon.
© Frenetic Films
Unterstützt wird dieses schauspielerische Scheitern durch die blutleere Erzählung, welche die Autoren Greg Latter und Ulrich Herrmann aus den Tiefen von Bieris 500-seitigem Wälzer gehoben haben. Night Train to Lisbon kettet sich an seine Vorlage: Dialogzeilen werden verbatim übernommen – daran leidet besonders die Darbietung Charlotte Ramplings –, die Handlung wird Punkt für Punkt abgearbeitet, den Figuren fehlen Motivation und Schattierungen. Wäre die Geschichte nicht auf zwei Zeitebenen gestellt, stünde die Handlung wohl komplett still.

In diesem unfilmischen Rahmen zeigen sich dann auch die Schwächen von Bieris Prosa. Plötzlich erscheinen seine philosophischen Exkurse, getarnt als die Gedanken de Prados, über das Leben und die grausame Ewigkeit als banale Allgemeinplätze. Die melancholische Suche des schöngeistigen Gregorius nach dem Unantastbaren erinnert auf einmal an The Words und The Woman in the Fifth – genauso hochgestochen, genauso aufgeblasen, genauso leer. So ist der wohl grösste Wert, der sich aus Night Train to Lisbon ziehen lässt, die Ermutigung, seine Vorlage neuerlicher kritischer Evaluierung zu unterziehen.

★★

Dienstag, 12. März 2013

Frankenweenie

In einem zeitgenössischen Hollywood, dem es an Egomanen wahrlich nicht mangelt, ist es vor allem einem Regisseur gelungen, seine Ichbezogenheit in ebenso bestechendes wie unprätentiöses Filmmaterial zu übersetzen. Seit den Achtzigerjahren ist Tim Burton aktiv, Alter Egos bevölkern sein Werk. Nach zuletzt zwei kritisch umstrittenen Adaptionen ist er in seinem neuen Projekt zu seinen Wurzeln zurückgekehrt: Frankenweenie ist die animierte Neuauflage seines eigenen Kurzfilms aus dem Jahr 1984 und verdient es, unter Burtons beste Arbeiten eingereiht zu werden.

Selbstreflexivität ist eine feste Grösse in den Filmen des mehrheitsfähigen Sonderlings aus Burbank. Seine Filme quellen über vor Selbstporträts und -karikierungen; seine Avatare nehmen die Formen von historischen, literarischen und verfremdeten Figuren an; in ihnen spiegelt sich Burtons eigene Vita. Oft werden sie von seinem Seelenverwandten Johnny Depp verkörpert, der sich über die Jahre zur etablierten Leinwandinkarnation Burtons gewandelt hat. Doch von Anfang an spielte sich in diesen Filmen eine tiefer gehende Selbstreflexion ab, die weit über die profane Freude an der Selbstdarstellung hinaus geht.

Denn in Burtons Universum figuriert er nicht als Mensch, sondern als Filmemacher; immer und immer wieder geht es in seinem Œuvre darum, über die Natur des bewegten Bildes nachzudenken. Für Burton ist der Schöpfer dieser Bilder ein ewiger Querkopf: ein Tüftler, ein Erfinder, ein Künstler, ein Wissenschaftler, ein Theoretiker, ein Lügenbaron, ein Dieb. Warum sonst nutzt der Protagonist von Edward Scissorhands seine Monstrosität zur kreativen Entfaltung? Was beweist Mars Attacks!, wenn nicht, dass auch Kaugummi-Sammelkarten einen Film inspirieren können? Was ist das unlogische Durcheinander in Dark Shadows anderes als eine Verneigung vor dem Format der täglichen TV-Seifenoper? Bedient Big Fish nicht die Auffassung, dass jeder grosse Künstler sein Publikum schamlos belügt? Ist der Kurzfilm Vincent nicht deren natürliche Erweiterung: dass jener Künstler auch sich selber hinters Licht führen muss?

Filmabend bei Frankensteins.
In Frankenweenie, dem schwarzweissen, in Stop-Motion animierten 3-D-Remake des gleichnamigen Kurzfilms, in dem sich Burton mit dem Tod seines geliebten Hundes auseinandersetzte, treten alle diese Stränge nun dichter denn je auf, angefangen mit der allerersten Einstellung: Das Bild ist unscharf, die Umrisse einiger Gebäude sind schwach zu erkennen. Des Rätsels Lösung: Victor Frankenstein (Stimme: Charlie Tahan) führt seinen Eltern (Catherine O'Hara, Martin Short) seinen neuesten Super-8-Film vor, ein 3-D-Monsterabenteuer mit Harryhausen-Effekten, in dem sein bester Freund, Hund Sparky, einem mutierten Pterosaurier Einhalt gebietet. Mr. und Mrs. Frankenstein sind beeindruckt, stellen aber besorgt fest: "He's just in his own world".

Damit ist Victor im ewig wolkenverhangenen New Holland allerdings nicht allein. So zählt er eine ins Leere starrende Katzennärrin, einen buckligen Igor-Verschnitt (Atticus Shaffer), einen vorpubertierenden Boris Karloff und einen grössenwahnsinnigen Japaner (James Hiroyuki Liao) zu seinen Klassenkameraden, während Sparky ein Auge auf die Pudeldame von Victors gleichaltriger Nachbarin Elsa (Winona Ryder), selber ein Goth, wirft. Der Plot kommt ins Rollen, als Sparky überfahren wird und Victor, inspiriert durch den exzentrischen Lehrer Mr. Rzykruski (Martin Landau – Bela Lugosi in Burtons Ed Wood – mit einer fantastischen Darbietung), sich in seiner Verzweiflung die Macht der Elektrizität zu eigen macht, sein totes Haustier wieder zum Leben erweckt und damit seine Heimatstadt ungewollt ins Chaos stürzt.

Er lebt! Victor (Stimme: Charlie Tahan) holt seinen überfahrenen Hund Sparky ins Diesseits zurück.
Woran es auch liegen mag – der Tatsache, dass Burton diesen Film schon einmal gemacht hat; dem Umstand, dass er sämtliche Facetten seiner Kino-Persona in seiner Hauptfigur vereint –, Frankenweenie fühlt sich natürlicher und unangestrengter an als alle seine Vorgänger seit Corpse Bride. Trotz seiner allgegenwärtigen Träumereien über das Filmemachen und den kreativen Prozess behält Burton konsequent jene kindliche Perspektive bei, die ihn zu einem derart aussergewöhnlichen Regisseur macht. Wie in Wes Andersons Moonrise Kingdom spielt auch hier die Welt der Erwachsenen über weite Strecken nur eine untergeordnete Rolle. Während die blindwütige Elternschaft wie ein engstirniger Mob von religiösen Fanatikern den unglückseligen Mr. Rzykruski aus dem Amt schreien, verändern ihre Kinder mit ihrer Fantasie die Welt. New Holland, ein Ort ausserhalb von Zeit und Raum, ist Burtons makabre Utopie einer von hochbegabten Aussenseiter-Kindern regierten Welt, einer Welt, in der sich schlussendlich auch die Erwachsenen dem scheinbar Widersinnigen fügen müssen ("Sometimes adults don't know what they're talking about"). Denn am Ende, ungeachtet jeglicher pädagogischer Bedenken, obsiegt der kindliche Wunsch nach dem Unmöglichen.

Die Schulstunden des exzentrischen Mr. Rzykruski (Martin Landau) inspirieren die Kinder von New Holland.
Diese an Big Fish erinnernde Emotionalität wird ergänzt durch einen reichen Fundus an bald offensichtlichen, bald subtilen Filmanspielungen und -zitaten, wie ihn Burton seit Ed Wood nicht mehr bemüht hat. Was in anderen Händen zum uninspirierten Selbstzweck verkommen wäre, entwickelt in Frankenweenie, auch dank der vorzüglichen Animation und Danny Elfmans Score – sein bester seit Jahren –, eine wunderbare Eigendynamik; sie unterstützt die Illusion, das Ganze sei das Produkt einer Kinderfantasie, deren Bezugspunkte die Horror-Nachtprogramme aus der Frühzeit des Fernsehens sind. In diesem Zusammenhang erweist sich Burton einmal mehr als Meister der Mehrfachkodierung: Der Reiz von Boris Karloff Junior wäre nicht komplett, würde er im Laufe des Films nicht in ein passendes Filmkostüm gesteckt. Sparkys Wiederauferstehung folgt sogleich eine Verneigung vor Bride of Frankenstein. Beschwört Victors Nemesis Toshiaki seine dahingeschiedene Schildkröte Shelley (!), genügt es nicht, lediglich ihr Aussehen Ishiro Hondas Gojira nachzuempfinden: Auch ihre abgehackten Bewegungen erweisen dem japanischen Klassiker ihre Reverenz.

Obgleich Alice in Wonderland und Dark Shadows besser als ihr Ruf sind, bestätigt Burtons neuester Film, was sich über die vergangenen acht Jahre angekündigt hat: Tim Burton ist dann am besten, wenn er seine eigenen Stoffe bearbeiten kann. Diese tragen seine unverkennbare Handschrift und erlauben ihm den unbegrenzten Spielraum, welchen er braucht, um seine einzigartige Vision auszuleben. Frankenweenie handelt mehr denn je von ihm selbst und ist gerade deshalb einer seiner bezauberndsten Filme. Es ist die Geschichte von einem Jungen, der auszog, um das Unmögliche zu erschaffen. Also machte er Filme.

★★★★★

Donnerstag, 7. März 2013

Sightseers

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Der britische Humor, ein zentrales Element der nationalen Identität, ist längst zum international bekannten kulturellen Stereotypen geworden. Diesen dreht Regisseur Ben Wheatley in seinem neuen Film, dem zynischen Roadmovie Sightseers, nun genüsslich durch den Fleischwolf.

Seit drei Monaten sind Mauerblümchen Tina (Co-Autorin Alicia Lowe) und Möchtegern-Literat Chris (Co-Autor Steve Oram) ein Paar. Die beiden schweben nach wie vor auf Wolke sieben – trotz der missbilligenden Kommentare von Tinas Mutter – und beschliessen, zu einer einwöchigen Wohnwagentour aufzubrechen. Von den heimischen Vorstädten Birminghams aus soll es nach Derbyshire und Yorkshire gehen, wo die touristischen Verlockungen alles andere als dünn gesät sind: Es stehen viktorianische Viadukte, Tropfsteinhöhlen, keltische Steinkreise sowie Tram- und Bleistiftmuseen auf dem Programm. Doch die Freude an der Reise wird durch unhöfliche Proleten, nervige Teenager und arrogante Nachbarn im Wohnwagenpark getrübt. Bald entwickeln Tina und Chris ihre eigenen, gewalttätigen Methoden, mit den Störungen umzugehen.

John Major, der ehemalige Premierminister Grossbritanniens, definierte sein Land einmal als "Ort der langen Schatten auf Cricket-Feldern, des warmen Biers, der uneinnehmbaren Vororte, der Hundeliebhaber, der alten Jungfern, die mit ihren Fahrrädern den Morgennebel durchbrechen". Es ist eine nostalgische Perspektive auf ein Land, das sich seit Jahren in einer Identitätskrise zu befinden scheint: Sind Fish and Chips wirklich englischer als Curry? Ist es möglich, sich guten Gewissens auf das sprachliche Erbe William Shakespeares zu berufen, wenn im United Kingdom heute mehr Sprachen als in jedem anderen europäischen Land gesprochen werden? Dass im Angesicht von Globalisierung und kulturellem Umbruch sprichwörtliche Tugenden wie Höflichkeit und Fairplay oft nur noch Fassade sind, wurde im jüngeren englischen Kino bereits mehrfach abgehandelt, etwa in Stephen Frears' Tamara Drewe. Ben Wheatley zieht diesen Ansatz in Sightseers jedoch weiter und zeigt: Mittlerweile sind jene Markenzeichen nicht einmal mehr eine Fassade. Aus den herausragenden Charaktereigenschaften sind unübersehbar leere Floskeln und Rituale geworden.

Es ist was faul im Staate England: Chris (Steve Oram) und Tina (Alicia Lowe) stossen auf ihrer Wohnwagenreise bald an ihre Grenzen.
Wheatley stellt dieser zynischen Dekadenz eines Volkes, das zur Karikatur seiner eigenen
Stereotypen geworden ist, eine geradezu penetrant britische Kulisse entgegen. Die Reise von Chris und Tina führt sie durch das Herz Britanniens – ein veritables "Heart of Darkness" –, wo der Sommer grau ist, wo die Ortschaften Redditch, Kidderminster, Bromsgrove, Crich und Ribblehead heissen, wo jedem Alltagsgegenstand ein Museum gewidmet ist, wo Mittel- und Arbeiterklasse via Motorway das eigene Land erkunden. In dieser Umgebung sind die beiden Hauptfiguren Barbaren unter Barbaren, die sich einzig durch ihren zunehmend an Bonnie und Clyde erinnernden Fatalismus von der Masse abzuheben scheinen. Motivation schimmert nur sporadisch hindurch – als wäre er ein General des einstigen Empires, murmelt Chris "I just want to be feared and respected"; ansonsten inszeniert Wheatley sie als Vertreter eines düstereren, archaischeren Englands, wo Konflikte mit Waffen gelöst werden, unterlegt mit William Blakes Gedicht "And Did Those Feet in Ancient Time".

Doch obwohl Sightseers mit seinem rabenschwarzen Humor und seinen die Grenzen des guten Geschmacks immer wieder aufs Neue auslotenden Bildern – der Einfluss der Anarcho-Komikertruppe The League of Gentlemen ist spürbar – durchgehend zu faszinieren weiss, so verfehlt es Wheatley, es seinen Vorbilderwerken, Lindsay Andersons Doppelschlag If... und O Lucky Man!, in Sachen Wucht und Aussagekraft gleichzutun. Zu ziellos irrt die Handlung umher, zu viel will er aufgreifen und zerlegen.Was bleibt, ist ein provokanter Angriff auf die Sehgewohnheiten des Publikums, ein hintersinniges Porträt eines postmodernen Grossbritanniens. Doch nebst alledem scheint Laurie Roses Kameraarbeit sagen zu wollen: England ist so schön wie eh und je. Nur die Menschen sind verrückt geworden.

★★★

Mittwoch, 6. März 2013

The Impossible


★★★

While it does not violate the memory of the tsunami victims, it never rings unconditionally true either. It has all the makings of an English-language debut of a filmmaker who already has an acclaimed work under his belt: the cracks in the structure are visible but they do not prove catastrophic because the matter is held together by an affecting and engaging narrative.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).