Donnerstag, 30. Juli 2015

Ant-Man

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Marvels Film-Avengers Iron Man, Captain America, Thor und Hulk legen eine Pause ein, um einem der originalen Comic-Avengers aus den Sechzigerjahren sein Kinodebüt zu gewähren. Ant-Man sorgt für willkommene Abwechslung und erweist sich als bislang lustigster Eintrag ins Marvel Cinematic Universe.

Im Internet kursiert seit einiger Zeit folgende Anekdote: Als Paul Rudd, welcher den meisten wohl aus den Komödien Judd Apatows (The 40-Year-Old Virgin, Knocked Up, This Is 40) bekannt sein dürfte, seinem Sohn eröffnete, dass er von den Marvel-Studios dazu verpflichtet wurde, in Ant-Man den Titel gebenden Superhelden zu spielen, hielt sich dessen Begeisterung angeblich in sehr überschaubarem Rahmen. "Who?", soll er seinen Vater erst gefragt haben, nur um Rudds Erklärung anschliessend mit einem "I can’t wait to see how stupid that’s gonna be" ("Ich kann’s kaum erwarten, zu sehen, wie blöd das wird") zu quittieren.

Ant-Man, der Ameisenmann, ist, mehr noch als Helden wie Captain America oder DCs Superman, ein aus der Zeit gefallenes Kuriosum. Seine Fähigkeiten haben keine dramatische Hintergrundgeschichte; er bezieht sie nicht aus einer Körperanomalie, sondern aus einem speziellen Anzug; sie sind nicht spektakulär genug, um, wie Superman dies im Film Man of Steel getan hat, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen. Ant-Man kann, dank eines von Dr. Hank Pym (hier gespielt von Michael Douglas) entwickelten Serums, auf die Grösse einer Ameise schrumpfen, wobei er aber über die gleichen Kräfte verfügt, als wäre er normal gross. Die Idee ist ein simples Relikt aus dem frühen Atomzeitalter, wo durch wissenschaftliche Manipulation veränderte Grössenverhältnisse ein beliebtes Motiv waren – seien es riesige Spinnen (Tarantula, 1955) oder Ameisen (Them!, 1954) oder schrumpfende Menschen (The Incredible Shrinking Man, 1957).

Regisseur Peyton Reed (Yes Man) – das Studio nahm ihn als Ersatz für Edgar Wright (Shaun of the Dead, Hot Fuzz, Scott Pilgrim vs. the World) unter Vertrag – und die beiden Drehbuchautoren-Duos (Edgar Wright/Joe Cornish und Adam McKay/Paul Rudd) sind diesem im Vergleich mit den neueren Abenteuern von Iron Man oder Captain America etwas kindlicheren Geist in ihrer Adaption klugerweise treu geblieben. Die Geschichte kommt, von ein paar der Exposition dienenden Szenen abgesehen, weniger schwerfällig und ambitiös daher als etwa die von Avengers: Age of Ultron: Hank Pym befürchtet, dass sein einstiger Protégé Darren Cross (Corey Stoll) seiner Schrumpf-Formel auf der Spur ist und diese an Terroristen verkaufen könnte. Also lässt er den frisch aus dem Gefängnis entlassenen Einbrecher Scott Lang (Rudd) seinen Ant-Man-Anzug stehlen, um ihn zum neuen Ant-Man werden zu lassen, sodass sie gemeinsam gegen Cross vorgehen können.

Klein, aber oho: Gemeinsam mit echten Ameisen kämpft Scott Lang alias Ant-Man (Paul Rudd) gegen einen Geschäftsmann, der die Macht des Schrumpfens missbrauchen will.
© Marvel Studios
Es ist nicht nur die Freude, der Entstehungsgeschichte eines neuen Marvel-Leinwandhelden beizuwohnen, die Ant-Man zu einer so vergnüglichen Angelegenheit macht. Komiker Paul Rudd, wie Chris Pratt in Guardians of the Galaxy, macht aus Scott Lang einen wunderbar selbstironischen, sarkastischen Protagonisten, welcher vom Prinzip Ant-Man noch weniger überzeugt scheint als mancher skeptische Kinobesucher. Seine Auseinandersetzungen mit Michael Douglas‘ stoischem Dr. Pym gehören, zusammen mit Michael Peñas Auftritten als Scotts Freund Luis, zu den lustigsten Momenten in einem fast durchgehend höchst amüsanten Film. (Weniger überzeugend agiert David Dastmalchian als Luis‘ Kumpel Kurt, dessen russischer Akzent selbst für diesen Film zu antiquiert wirkt.) Doch auch in der Action-Abteilung hebt sich Ant-Man von vielem ab, was Marvel bis dato produziert hat: Reed macht sich die Kräfte seines Helden mit originellen Szenarien und viel Sinn für visuellen Witz optimal zu Nutze; Scotts Abenteuer in Ameisengrösse evozieren Jack Arnolds Incredible Shrinking Man und Joe Johnstons Honey, I Shrunk the Kids auf die bestmögliche Art. So stiehlt der kleine Ant-Man den grossen Avengers die Show.

★★★★

Freitag, 24. Juli 2015

Amy

In seiner 2011 erschienenen Rezension zu Asif Kapadias Formel-1-Dokumentation Senna schrieb der legendäre Filmkritiker Roger Ebert: "Senna is a documentary that does the job it sets out to do. I wish it had tried for more. It is a competent sports doc, the sort you'd expect to see on ESPN."

Es lässt sich natürlich darüber diskutieren, ob es statthaft ist, einen Film basierend auf persönlichen Erwartungen zu beurteilen, – der Text erntete nach seiner Veröffentlichung entsprechend Kritik –, doch Eberts Einschätzung trifft in ihrer Essenz auch auf Kapadias Nachfolgewerk zu, einem Porträt der britischen Singer-Songwriterin Amy Winehouse. Amy erzählt seine Geschichte ohne Schnörkel und Ausschweifungen, wobei es letztlich kaum einen Unterschied macht, ob man den Film nun im Kino oder in ein paar Monaten im Fernsehen im Rahmen eines Themenabends sieht.

Doch Kapadias erst zweite Dokumentation ist ein Musterbeispiel für die These, dass Qualität auch in der Konvention existiert; was ihr an innovativer Kraft fehlt, kompensiert sie mit journalistischer Gründlichkeit und handwerklicher Verve. Angesichts eines Themas, welches auch vier Jahre nach Winehouses Tod durch Alkoholvergiftung – im "verfluchten" 27. Lebensjahr, in dem auch Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison und Kurt Cobain starben – ein heikles bleibt, steckt Amy zudem einen gangbaren Mittelweg zwischen minutiöser Recherche und befangenem Betroffenheitskino ab.

Erzählt wird eine klassische Rockmusiker-Vita: Das typische "Jewish North London girl", zu deren Helden Tony Bennett, Thelonious Monk, Carole King und James Taylor gehören, macht als Teenager mit ihrer starken Jazz-Stimme auf sich aufmerksam, erhält 2003 mit nur 19 Jahren einen Plattenvertrag, produziert das Album Frank und steigt darauf in Grossbritannien zur bekannten Grösse auf. Begleitet wird diese Entwicklung jedoch von einem turbulenten Privatleben, das von den Medien zunehmend genüsslich breit getreten wird. Alkohol- und Drogenexzesse sowie die wilde Beziehung zum heroinsüchtigen Blake Fielder-Civil gefährden ihre musikalische Karriere. Ihr zweites und letztes Album, das zig-fach preisgekrönte, als Meisterwerk der 2000er Jahre geltende Back to Black, mit dem sie endgültig internationalen Star-Status erreicht, erscheint erst 2006. Es folgen gescheiterte Entzüge, zahlreiche gesundheitliche Probleme – von Bulimie über Depression bis hin zu Atem- und Herzrhythmusstörungen –, abgesagte Konzerttouren, eine sechsmonatige Rückzugskur in der Karibik, die Scheidung von Fielder-Civil und, laut Freundin Juliette Ashby, sogar Einsicht, bevor Winehouse am 23. Juli 2011 von ihrem Leibwächter tot in ihrem Bett aufgefunden wurde.

Schon als Teenager fiel Amy Winehouse (rechts) mit ihrer bemerkenswerten Stimme auf.
© filmcoopi
Kapadia muss sich den Vorwurf gefallen lassen, in seiner Aufarbeitung von Winehouses Leben allzu bereitwillig den Zeigefinger zu erheben und mögliche "Schuldige" an ihrem zweifellos tragischen Schicksal auszumachen. Solche finden sich in stattlicher Zahl: Jugendfreund und Ex-Manager Nick Shymansky weist auf die fatale Entscheidung hin, ihn durch den PR-Agenten Raye Cosbert zu ersetzen, da diesem, laut Shymansky, vor allem an nervenzehrenden, erschöpfenden Touren gelegen war. Fielder-Civils Einfluss wird wiederholt – wahrscheinlich zu Recht – als erschwerender Umstand genannt. Und Vater Mitch Winehouse wird gleich in doppelter Hinsicht zum Mitschuldigen erkoren – einmal, weil er 1993 Frau und Tochter verliess, und einmal, weil er während der Arbeit an Back to Black Amy von einem Entzug abriet. Die meisten dieser Schuldzuweisungen mögen persönliche Eindrücke sein, doch Kapadia verdichtet sie zu einem Narrativ, das dem Zuschauer nicht als subjektive Einschätzung, sondern als Fakt verkauft wird.

Die triftigste Anklage, die der Film erhebt, ist jene gegen die sensationslüsternen Medien, die sich jahrelang gierig auf jeden neuen Akt im Drama Amy Winehouse stürzten. Besteht der Film zunächst vor allem aus privaten Foto- und Filmbildern – verwackelte, verpixelte Handkamera-Aufnahmen, die im Familien- und Freundeskreis oder auf der überschaubaren, amateurhaft organisierten ersten Albumtour entstanden sind –, werden diese mit zunehmender Laufzeit durch Fernsehmaterial und Paparazzi-Fotos ersetzt. Werden Privataufnahmen aus der Ära nach Back to Black eingespielt, dann zeigen sie primär das grelle Blitzlichtgewitter, dem Winehouse täglich ausgesetzt war. Amy zeigt auf eindrückliche Art und Weise, wie mediale Aufmerksamkeit ein Leben quasi zum öffentlichen Gut erklären kann – bis zu einem Punkt, wo selbst seriöse Vertreter wie BBC oder CNN es für nötig halten, Diskussionsrunden darüber zu veranstalten, wie Winehouse mit ihren Problemen fertig werden sollte. (Besonders erschreckend ist auch das Bild, welches Komiker Jay Leno abgibt: Nur wenige Jahre liegen zwischen Winehouses beklatschtem Auftritt in seiner Sendung und Lenos bösartigen Witzen auf ihre Kosten.)

Winehouses Musik erntete begeisterte Kritiken; ihr turbulentes Privatleben war ein gefundenes Fressen für die Klatschpresse.
© filmcoopi
Letztlich ist Amy aber vor allem eines: informativ. Kapadia arrangiert aus Hunderten von Stunden an Interview- und Archivbild-Material eine umfassende, oftmals faszinierende Collage, die in rund 130 Minuten einen detaillierten, emotional mitnehmenden Blick hinter die Kulissen der Karriere von Amy Winehouse erlaubt. Von seiner Medienkritik sowie einem kleinen Exkurs über die Renaissance von Camden als musikkulturelles Zentrum in London abgesehen, konzentriert sich der Film ganz auf seine Titelfigur und ihre – ausgezeichnet eingesetzte – Musik, was wohl auch ganz im Sinne der leidenschaftlichen Musikliebhaberin Winehouse gewesen wäre. Bleibt die Hoffnung, dass ihre Songs dem kollektiven Gedächtnis ebenso erhalten bleiben wie die tragischen Geschichten dahinter.

★★★★

Donnerstag, 23. Juli 2015

Far from the Madding Crowd

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Thomas Vinterberg, Mitbegründer der dänischen Dogma-Bewegung, versucht sich an der Verfilmung eines britischen Literaturklassikers. Seine Adaption von Thomas Hardys feministisch angehauchtem Roman Far from the Madding Crowd aus dem Jahr 1874 wird der Vorlage mehr als nur gerecht.

Vorbei sind die Zeiten, als die grossen englischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts, insbesondere der viktorianischen Ära, die Zuschauer in Scharen in die Kinos lockten. Filmische Interpretationen von Werken von Dickens, den Brontë-Schwestern, George Eliot, Elizabeth Gaskell oder eben Thomas Hardy sind, wenn überhaupt, fast nur noch im Fernsehen zu sehen, der nimmermüden Kultivierung des eigenen literarischen Erbes durch die britische BBC sei Dank. Die Gründe dafür dürften bei der signifikanten Diskrepanz zwischen finanziellem Aufwand – man denke nur an Kostüme und Ausstattung – und dem kommerziellem Ertrag zu suchen sein, beim elitären Ruf älterer Literatur, bei den Kritikern, die den Stoffen nicht selten mangelnden Aktualitätsbezug und verstaubte Wertvorstellungen vorhalten. Dabei wäre gerade ein Thomas Hardy – 1840 als Zeitgenosse Wordsworths und Dickens' geboren, gestorben 1928, nach der Erfindung des Tonfilms – reif für eine Neuentdeckung durch ein breiteres Publikum, schlagen seine von scharfer Kritik an der viktorianischen Gesellschaft durchsetzten Werke doch oft überraschend moderne Töne an; sein letzter Roman, Jude the Obscure, sorgte nach seiner Veröffentlichung 1895 wegen angeblicher Obszönität sogar für einen Skandal. Auch Far from the Madding Crowd (1967 bereits von John Schlesinger stimmig verfilmt) war seiner Zeit in gewisser Hinsicht voraus; im Kleinen sind hier bereits die Vorwürfe ans Frauen herabsetzende Patriarchat erkennbar, die im diesbezüglich konsequenteren Tess of the d'Urbervilles (1891; 1979 von Roman Polanski verfilmt) schliesslich ihre Vollendung fanden.

Diesen emanzipatorischen Kern unterstreichen Thomas Vinterberg (Festen, Jagten) und Drehbuchautor David Nicholls in ihrer Version von Anfang an. Ist Hardys Erzähler ein allwissender, der in der dritten Person von den Vorgängen im ländlichen Dorset – im Buch als "mystisches Wessex" beschrieben – berichtet, beginnt der Film mit einem Voiceover der Protagonistin Bathsheba Everdene (grossartig: Carey Mulligan). Mehr noch als in der Romanvorlage ist die unabhängige Bäuerin eine aktive Figur, die in jeder Situation darum bemüht ist, ihre eigene Freiheit zu bewahren. So lehnt sie schon in den Anfangsminuten von Vinterbergs Far from the Madding Crowd – eine der schönsten, filmsprachlich poetischsten Eingangssequenzen der jüngeren Vergangenheit – die Avancen des Schäfers Gabriel Oak (Matthias Schoenaerts) mit der Begründung ab, sie sähe keinen triftigen Grund, ihn heiraten zu müssen. Dieselbe Erfahrung macht, nachdem Bathsheba die weitläufigen Ländereien ihres Onkels geerbt hat, ihr schweigsamer Nachbar, der etwas ältere Junggeselle William Boldwood – dessen Nuancen, von Hardy noch ausgeschrieben, Michael Sheen mit stiller Intensität vermittelt. Als jedoch der charmante Sergeant Troy (Tom Sturridge) auch anfängt, um Bathshebas Hand zu buhlen, bröckelt die rigorose Entschlossenheit der Heldin.

In Thomas Vinterbergs Romanverfilmung kämpft die Bäuerin Bathsheba Everdene (Carey Mulligan) um ihre Unabhängigkeit.
© 2015 Twentieth Century Fox Film Corporation
Vinterberg legt mit Far from the Madding Crowd ein eindrückliches Beispiel für eine gelungene Klassiker-Verfilmung vor. Der Plot wird – überwiegend erfolgreich – an das zeitgemässe Spielfilm-Format angeglichen, Hardys reichhaltiges Figuren-Kompendium wird ökonomisch reduziert; die direkte Inszenierung, die herausragende Bildsprache – jede Einstellung ein kleines Kunstwerk – sowie die grandiose Musik von Craig Armstrong rücken die Feinheiten, die düstereren, im Originaltext nur implizierten Abgründe der Geschichte subtil in den Vordergrund. Somit lässt sich auch leicht über die mitunter etwas unfilmischen Dialoge hinweg sehen – zu denen der ausdrucksstarke Kernsatz des Werks definitv nicht gehört: "It is difficult for a woman to define her feelings in a language chiefly made by men to express theirs."

★★★★

Dienstag, 21. Juli 2015

While We're Young

Mit seinen desillusionierten, misanthropischen Figuren, seinen absurden Vignetten und seiner Nähe zur New Yorker Intelligenzija bewegt sich Noah Baumbach – seit The Squid and the Whale (2005) eine feste Grösse im anspruchsvollen amerikanischen Independentkino – im Grunde schon seit dem Beginn seiner Karriere auf den Spuren Woody Allens. Dass man ihm mit dem Vergleich aber kaum einen Gefallen tut, das zeigt While We're Young aufs Neue.

Schlecht ist der Film zwar nicht, genauso wenig wie Greenberg (2010) oder Frances Ha (2012) schlecht waren. Im Gegenteil: Baumbachs Neuester ist nachvollziehbarer als Ersterer, bescheidener als Letzterer und vergnüglicher als beide. Doch bleibt hier vieles Stückwerk; die einzelnen Elemente harmonieren stellenweise nur schwer miteinander, die Aussage bleibt vage; der Film verheddert sich in seinem eigenen Geflecht aus Subtext und Meta-Kommentaren auf das problematische Verhältnis zwischen Wahrheit und Kunst.

Der Vergleich mit Baumbachs letzten zwei Filmen ist insofern angebracht, als sich While We're Young an der Oberfläche wie eine Mischung der beiden geriert – woraus sich wiederum die Assoziation mit Woody Allen ableitet. Die Protagonisten wirken wie ein Überbleibsel aus Greenberg; mit Ben Stiller teilen sich die beiden Tragikomödien sogar den Hauptdarsteller. Josh Schrebnick (Stiller mit einer seiner besten "ernsten" Darbietungen) ist Mitte 40 und arbeitet seit acht Jahren erfolglos an einem epischen Dokumentarfilm über den spröden Intellektuellen Ira Mandelstam (Peter Yarrow). Seine Lebenspartnerin Cornelia (Naomi Watts) unterstützt ihn nach Kräften, obwohl er nicht nur ein unverbesserlicher Pedant ist, sondern sich auch partout weigert, finanzielle und kreative Hilfe von ihrem reichen Vater (Charles Grodin) anzunehmen. Und auch privat könnte es besser laufen: Joshs Arbeitswut ist Gift für Romantik und Intimität. Der gemeinsame Kinderwunsch ist nach diversen Fehlgeburten erloschen; derweil sich bei den engsten Freunden des Paars alles nur noch um ihr neues Baby dreht. Wie in Greenberg ist es auch hier die Midlife-Crisis, welche die hochschulgebildete Gesellschaftsschicht heimsucht, welche Baumbach an- und umtreibt.

Doch dieses Mal bleibt sie nicht der isolierte Fokus des Films. Nach einer Vorlesung treffen Josh und Cornelia auf das junge Ehepaar Jamie (Adam Driver) und Darby (Amanda Seyfried) – Figuren, welche direkt dem Hipster-Milieu von Frances Ha entnommen scheinen. Jamie ist ein Bewunderer von Joshs Debütfilm; Cornelia wiederum findet in Darby eine Freundin, deren Welt sich nicht um volle Windeln und infantile Kinderlieder dreht.

Josh (Ben Stiller) und Cornelia (Naomi Watts) entdecken ihre Jugend wieder.
© Pathé Films AG
In seiner ersten Hälfte evoziert While We're Young somit die Allen'sche New-York-Komödie im besten Sinne; die "Stadtneurotiker" Cornelia und Josh lernen eine Welt kennen, die ihnen bislang fremd geblieben ist. Die Szenen, in denen die beiden an spontanen Strassen-Strandpartys teilnehmen, auf Bahngleisen spazieren oder sich an einer esoterischen Läuterungszeremonie versuchen – die minimalistisch-tranceartige Inszenierung erinnert an die klimaktische Party in Greenberg –, scheint von Alvy Singers aussichtslosen Annäherungsversuchen an Annie Halls hippe Freunde im gleichnamigen Film nicht allzu weit entfernt zu sein.

Zudem vollzieht Baumbach in dieser Kulturschock-Variation eine anregende kleine Subversion, indem er dem abgedroschenen Mythos der "Digital Natives" mit gesunder Skepsis begegnet: Während Josh im Gespräch über Musik auf seine CD- und iTunes-Sammlung verweist, besitzen Darby und Jamie Hunderte von Schallplatten; klicken sich die Mittvierziger abends durchs Netflix-Angebot, sehen sich ihre jüngeren Pendants Videokassetten von Achtzigerjahre-Kultfilmen an. Diese Gegenüberstellungen sind, wenn auch streckenweise etwas plump, durchaus amüsant und provozieren mitunter sogar interessante Gedanken über die Rolle von Nostalgie in der Bewertung von Kultur: "When did The Goonies become a good movie?“, fragt einer von Joshs Altersgenossen, während er sich daran stört, dass Jamies Band ihren Namen von einer Werbefigur aus Joshs Kindheit übernommen hat.

Massgeblichen Anteil daran haben Jamie (Adam Driver) und seine Ehefrau Darby (Amanda Seyfried), mit denen sich Cornelia und Josh anfreunden.
© Pathé Films AG
Schon in diesen Szenen jedoch läuft der Film Gefahr, seinen Botschaften zu viel Nachdruck zu verleihen. Was als raffiniertes Spiel mit den Konventionen beginnt – die Illusion der techniksüchtigen Jugend –, wandelt bald schon gefährlich nahe an der Grenze zur Verallgemeinerung. Auch das Dilemma zwischen Kinderlosigkeit und traditionellem Familienentwurf wird in While We're Young mit irritierend groben Strichen gezeichnet. Nicht eine von Cornelias Freundinnen trägt ein Baby auf dem Arm, als sie sie auf der Strasse trifft, sondern gleich drei davon; man wähnt sich nicht in einem Film des Milieu-Porträtisten Baumbach, sondern einer Budget-Komödie im Stile von What to Expect When You're Expecting.

Gerade in diesen wenig subtilen Momenten macht sich ein grundlegender Unterschied zwischen Baumbach und Allen bemerkbar: Der eine weiss mit "banaler" Komik – und das ist nicht im negativen Sinne gemeint – umzugehen, was er in Filmen wie Bananas oder Sleeper bewiesen hat; der andere scheint zu sehr in seiner akademischen Herangehensweise an Humor und Geschichtenerzählen gefangen zu sein.

Da überrascht es auch nicht, dass While We're Young nach seiner locker vorgetragenen ersten Hälfte in einen allzu ambitionierten Plot hinein stolpert, in dem Josh Jamie des unethischen Dokumentierens überführen will. Zwar mündet auch dieser Abschnitt, dem – wie auch Joshs (sechseinhalbstündiger) Doku – eine Kürzung nicht geschadet hätte, in eine gewitzte Untergrabung der konventionellen Erzählung; doch dies entschädigt nicht ausreichend für die allzu ambitiösen Sphären, in die sich Baumbach dabei begibt. Meditationen über die Moral des dokumentarischen Filmemachens und die Frage nach Bedeutung in der postmodernen Welt liegen weit ausserhalb der Reichweite dieser unvollkommenen, unterhaltsamen, aber letztlich unwesentlichen Komödie.

★★★

Sonntag, 19. Juli 2015

Mr. Holmes

© Ascot Elite Entertainment Group

★★★★★

"But the movie never overplays its hand or succumbs to cloying sentimentality. It moves through its three parallel plot lines, which are reminiscent of Condon’s Gods and Monsters, in well-measured, stately strides; its tale of physical and mental decline – and the problematic and fleeting notion of memory in general – does not descend into hopelessness and gloom, but is rather counterbalanced by moments of tender wit and glimpses of what Holmes’ mind, even in its reduced capacity, is still capable of achieving."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 16. Juli 2015

Terminator Genisys

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Was 1984 mit einem kaum prestigeträchtigen Science-Fiction-Actionstreifen eines noch jungen James Cameron begann, hat inzwischen sein viertes Sequel erreicht. Doch Überdruss stellt sich in Terminator Genisys, in dem Arnold Schwarzenegger wieder in seine wohl ikonischste Rolle schlüpft, dennoch nicht ein.

"I'm old, not obsolete", grummelt T-800 (Arnold Schwarzenegger) nach nur wenigen Minuten auf der Leinwand. Tatsächlich, es gibt ihn schon lange: 1984 war er der Titel gebende Terminator – ein Killerroboter mit menschlicher Hülle –, der im Auftrag des bösartigen Computerprogramms Skynet, welches nach der atomaren Apokalypse die verbliebenen Reste der Menschheit unterwarf, aus dem Jahr 2029 in die Achtzigerjahre reiste, um Sarah Connor, die Mutter eines zukünftigen Rebellenführers, umzubringen. 1991 folgte Terminator 2: Judgment Day – die Quelle des legendären "Hasta la vista, baby"-Einzeilers –, in dem sich ein umprogrammierter T-800 auf die Seite von Sarah und deren Sohn schlug, um sie vor Skynets neuestem Schergen zu bewahren. Schwarzeneggers politische Ambitionen führten zu einem verkürzten Auftritt des T-800 in Rise of the Machines (2003) sowie einem weiteren – quasi in absentia – in Terminator Salvation (2009), wo das Gesicht des "Governators" per CGI auf Roland Kickinger projiziert wurde.

Und jetzt sind also Schwarzenegger und sein steifer, wortkarger T-800, den Sarah Connor (Emilia Clarke) hier liebevoll "Pops" nennt wieder da – alt, aber nicht obsolet. Dies stellt er schon während seines ersten Auftritts in Terminator Genisys unter Beweis. Durch die diversen Zeitreisen, welche die Figuren seit dem Original über sich haben ergehen lassen müssen, verschoben sich im Franchise-Universum die Zeitebenen, weshalb der umprogrammierte, "gute" Terminator hier zuallererst den bösen Terminator, den jungen Schwarzenegger, aus dem ersten Film aus dem Weg räumen muss – eine sowohl in Sachen Inszenierung als auch Subtext mitreissende Szene. Es folgt ein etwas verworrener Plot um Kyle Reese (Jai Courtney), die rechte Hand von Sarahs Rebellen-Sohn John (Jason Clarke), der sich in der Zeit zurück bewegt, sich dort Sarah und dem guten T-800 anschliesst und mit ihnen ins Jahr 2017 reist, wo sie versuchen, die Aufschaltung des Betriebssystems "Genisys" verhindern, mit dem Skynet (Matt Smith) in der alternativen Chronologie die Macht an sich reissen will.

The Governator back in action: Der Terminator T-800 (Arnold Schwarzenegger, Mitte) hilft Sarah Connor (Emilia Clarke) und Kyle Reese (Jai Courtney) beim Kampf gegen das schurkische Computerprogramm Skynet.
© Paramount Pictures Switzerland
Ob man aus dieser Synopsis nun schlau wird oder nicht, spielt letztlich kaum eine Rolle. Terminator Genisys steht auf seinen eigenen Beinen und funktioniert grösstenteils unabhängig von seinen Vorgängern – mit Ausnahme der obligaten Referenzen und Hommagen, mit welchen Regisseur Alan Taylor (Thor: The Dark World) ein gewitztes Spiel treibt. Über alle Zweifel erhaben ist sein Film zwar nicht: Immer wieder rutschen die Dialoge ins Pathetische oder Gestelzte ab, und die feministisch angehauchte Neubewertung von Sarah Connor – seit jeher eine Figur, deren Wichtigkeit nicht sie selbst, sondern ihre Mütterlichkeit ist – wird durch eine aus Kontinuitätsgründen in die Handlung eingeflochtene Liebesgeschichte ein wenig unterminiert. Doch Genisys ist nichtsdestoweniger ein Sommer-Blockbuster der bekömmlichen Art; die Action-Sequenzen und -Szenarien sind ebenso variantenreich wie gekonnt in Szene gesetzt, die visuelle Gestaltung ist überaus ansprechend.

Und dann wäre da noch der überzeugendste Faktor in einem ansonsten vielleicht etwas allzu gesichtslosen Film. "I'm old, not obsolete" lässt sich nämlich auch als Plädoyer für den oft kritisierten Rückgriff auf bewährte Stoffe lesen, ist Terminator Genisys doch eine "späte" Fortsetzung im Stile eines Jurassic World oder eines Mad Max: Fury Road, ein Film, der alte Fäden wieder aufnimmt, alte Ideen nicht rezikliert, sondern sie weiterentwickelt. Versinnbildlicht wird dies hier insbesondere durch den T-800, das unbestrittene emotionale Zentrum des Films. 31 Jahre nach seinem ersten Auftritt erhält der Terminator dank der minimalistischen Darbietung Schwarzeneggers – alles andere als ein begnadeter Schauspieler, doch richtig eingesetzt zu Grossem fähig (wie vor ihm schon Charles Bronson) – in kleinen, feinen Momenten neue Tiefe.

★★★

Donnerstag, 9. Juli 2015

Minions

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Das erste Solo-Kinoabenteuer der "Minions", der tollpatschigen, Kauderwelsch sprechenden Superschurken-Lakaien, die in Despicable Me die Herzen des Publikums eroberten, nutzt das Potenzial seiner gelben Helden zunächst optimal, bevor es an seiner eigenen Ambition zerbricht. Ein Film, zwei ungleiche Hälften.

Nicht jedes Format profitiert von einem klassischen Plot, jenem Grundpfeiler der Hollywood-Unterhaltung. Dort, wo hemmungslos Schabernack und Unfug getrieben wird, wirkt eine allzu umständlich eingebaute Geschichte oft wie ein Störfaktor – Monty Python and the Holy Grail wäre noch besser ohne seine "dramatischen" Elemente; die The Naked Gun-Reihe ist dann am lustigsten, wenn sie sich ungezwungen ganz dem sinnfreien Slapstick hingibt. Dass die Minions als Figuren auch in diese Kategorie eingeordnet werden können, zeichnete sich bereits während ihrer ersten beiden Auftritte – als Assistenten des bösen Protagonisten Gru (Stimme: Steve Carell) in Despicable Me (2010) und Despicable Me 2 (2013) – ab. Sie brabbeln eine nur halbwegs verständliche Fantasiesprache (mit wundervoller Variation gesprochen von Despicable Me- und Minions-Co-Regisseur Pierre Coffin), bestehend aus englischen, französischen und spanischen Satzfetzen, sorgen mit ihrer ebenso enthusiastischen wie ungeschickten Natur unentwegt für heilloses Chaos und in ihren actionfreien Momenten pflegen sie einen eher kindlich-simplen Humor.

Dieser Tatsache trägt Minions während seiner ersten 45 Minuten gebührend Rechnung. Eine Herkunftsgeschichte, unterlegt mit einem köstlichen Voiceover von Geoffrey Rush, zeigt die Evolution der trotteligen gelben Schergen, welche es sich seit Anbeginn der Zeit zur Aufgabe gemacht haben, den bösesten Kreaturen des Planeten zu dienen. Doch das Problem, wie der Erzähler es so schön formuliert, "was not finding a new master, but keeping one" – denn so mancher historische Schurke ist an der Hilfe der Minions zu Grunde gegangen. Entmutigt durch ihre Misserfolge, ziehen sich die Titelhelden in eine Eishöhle zurück, wo sie der Langeweile und der Antriebslosigkeit zum Opfer fallen – bis im Jahr 1968 die drei tapferen Minions Kevin, Stuart und Bob in die weite Welt hinaus ziehen, um einen neuen Meister für ihren Stamm zu finden.

Nach Jahren der Langeweile suchen die Minions Bob (links, gesprochen von Pierre Coffin), Kevin (Mitte, ebenfalls Pierre Coffin), und Stuart (Pierre Coffin zum Dritten) einen neuen Schurken, dem sie folgen können.
© Universal Pictures Switzerland
Bis zum Kulturschock, den das Trio in New York, Orlando und schliesslich London erleidet, bleibt der Film dem komödiantischen Potenzial seiner Protagonisten treu; die episodisch-lose Struktur der Handlung passt hervorragend zum gut funktionierenden Slapstick. Auch die Anspielungen auf die Sechzigerjahre-Kultur wissen zu gefallen, obgleich man sich doch fragen muss, welches Publikum die Regisseure Coffin und Kyle Balda hier im Auge hatten, wird doch wohl kaum ein Kind mit einem Witz über Richard Nixon etwas anfangen können. (Erschwerend hinzu kommen diverse Szenen, deren handfeste, ja direkt brutale Natur einen an der tiefen Altersbeschränkung des Films zweifeln lassen – zu Buche stehen ein gebrochenes Genick, ein eingeschlagener Yeti-Schädel und eine als Spielplatz gebrauchte Folterkammer, an deren Galgen die Minions besondere Freude zeigen.) Mit einem Funken akademischen Eifers könnte man in der optimitischen Amerikareise der Hauptfiguren gar eine Parabel auf die Hoffnungen mexikanischer Immigranten in die USA erkennen. Doch als Kevin, Stuart und Bob in Form von Scarlet Overkill (eine gut aufspielende Sandra Bullock) eine neue Gebieterin finden, verliert sich Minions in einem buchstäblich aufgeblähten Plot, wo der einfache Spass der ersten Hälfte einem halbgaren Durcheinander aus in die Länge gezogenen Verfolgungsjagden und der urplötzlich wichtig werdenden Artus-Sage weicht. Wo zunächst noch herzhaft gelacht werden konnte, stellt sich nach und nach ungläubiges Kopfschütteln ein. Schade, wäre doch den Minions mit anarchischer Plotlosigkeit am besten gedient gewesen.

★★★

Sonntag, 5. Juli 2015

Men & Chicken

Nachdem Anders Thomas Jensen in Adam's Apples (2005) einen Neonazi zum Protagonisten beförderte, bricht der Däne in seiner neuesten Groteske, dem äusserst treffend betitelten Men & Chicken zu neuen Gestaden des Tabubruchs auf.

Per Videobotschaft erfahren die beiden ungleichen Brüder Gabriel (David Dencik), Schriftsteller und Philosophieprofessor, und Elias (Mads Mikkelsen mit einer einmal mehr hervorragenden Darbietung), ein sexsüchtiger Nichtsnutz, nach dem Tod ihres vermeintlichen Vaters, dass sie mit ihm gar nicht verwandt waren. Ihr leiblicher Vater, mittlerweile fast 100-jährig, lebt auf der abgeschiedenen Insel Ork mit seinen Söhnen Franz (Søren Malling), Josef (Nicolas Bro) und Gregor (Nikolaj Lie Kaas) – Elias' und Gabriels Halbbrüder – in einem verlassenen, zerfallenden Sanatorium, auf dem unzählige Hühner, Schweine, Schafe und Hasen frei herum laufen. Als die beiden Städter dort ankommen, in der Hoffnung, ihren echten Vater kennenzulernen, müssen sie feststellen, dass auf Ork, insbesondere im Sanatorium, ausgesprochen eigentümliche Sitten herrschen und hinter verschlossenen Türen so manches dunkle Geheimnis verborgen liegt.

Eine Frage, die sich nach der Sichtung dieses ungemein originellen, dramatisch vorzüglich aufgezogenen Films geradezu aufdrängt, ist die – denkbar fantasielose – nach der Moral oder, weniger spezifisch gesagt, nach der Botschaft, die hier vermittelt werden soll. Diese rabenschwarze, unverblümt unbequeme Komödie, welche bei der Wahl ihrer Szenarien ebenso sorgfältig wie wirkungsvoll Gebrauch von Horror-Motiven macht, macht es ihrem Publikum nicht leicht, einen expliziten Sinn aus ihr herauszulesen. Zelebriert Jensen, indem er nach und nach bizarre wissenschaftliche Experimente in den Fokus rückt, einen wissenschaftskritischen Kurs? Prangert er den dänischen Umgang mit psychisch Kranken, mit abgelegenen Gemeinden, mit beidem an? Oder bezieht er sich gar auf die Nazi-Vergangenheit seines Landes?

Elias (Mads Mikkelsen, links) und Gabriel (David Dencik) begeben sich auf eine abgelegene Insel, um ihren leiblichen Vater kennenzulernen.
© dcm
Das Sanatorium als Schauplatz wie auch die scheinbare mentale Behinderung gewisser Figuren lassen einen wiederum an Lars von Triers Idioterne (1998) denken, wo sich eine Gruppe von Anti-Bourgeois als geistig Behinderte ausgaben. Doch obwohl Jensen aus dem Dunstkreis der dänischen Dogme-95-Bewegung stammt – er arbeitete an den Drehbüchern zu Mifune's Last Song und The King Is Alive mit –, will die Assoziation letztlich nicht aufgehen. Zu ironisch, aber zugleich wohlwollend, ist sein Umgang mit den Figuren; zu abseitig sind ihre Taten – es kommt regelmässig zu Schlägereien, in denen ausgestopfte Tiere als Waffen benutzt werden –, um mit satirischem Unterton zu "edlen Wilden" verklärt zu werden; zu wenig interagieren sie mit der normativen Gesellschaft, um allfällige Scheinheiligkeiten des Bürgertums zu entlarven. (Die Darstellung der Figuren gehört allerdings auch zu den Schwächen des Films, der sie von Anfang an als sympathischer und nachvollziehbarer einzustufen scheint, als sie es jemals sind.)

Nein, Jensen folgt hier einer Moral, die bei allen symbolischen Möglichkeiten – der Nachname von Gabriels und Elias' leiblichem Vater ist Thanatos, nach dem griechischen Dämon des Todes – ebenso simpel wie subversiv ist: Der stimmungsvoll inszenierte Men & Chicken – das Sanatorium allein ist ein filmarchitektonisches Meisterstück – ist auf seine eigene, mitunter verstörende Art und Weise eine Ode an die Menschlichkeit und die Toleranz. Nachdem Herr Thanatos' geheimnisvoller Keller seine Mysterien endlich preisgegeben hat, weigert sich der Film partout, die eigentlich schockierenden Enthüllungen in einem negativen Licht zu präsentieren. Wer niemandem schadet, verdient keine moralische Verurteilungen; Ehre sei dem, der mit sich, seiner Herkunft und seinem Leben im Reinen ist.

★★★★

Samstag, 4. Juli 2015

Taxi

Seit fünf Jahren ist es dem iranischen New-Wave-Regisseur Jafar Panahi gerichtlich untersagt, Filme zu drehen. Die islamische Obrigkeit, aufgrund deren Zensur Panahis Landsleute Abbas Kiarostami und Mohsen Makhmalbaf sich dazu entschlossen, ihre Heimat zu verlassen, glaubte in seinem Schaffen – darunter kritisch gefeierte Werke wie The White Balloon, The Mirror, Crimson Gold und Offside – unsittliche und staatsfeindliche Tendenzen festzustellen, weshalb sie ihm nach mehreren Verhaftungen im Dezember 2010 ein 20-jähriges Berufs- und Ausreiseverbot erteilte. Sein Schicksal steht sinnbildlich für das repressive Klima, mit dem iranische Künstler zu kämpfen haben.

Doch selbst unter solch prekären Umständen hat Panahi Mittel und Wege gefunden, seiner Leidenschaft für das Filmemachen Ausdruck zu verleihen – wenn auch unter beträchtlichem Risiko für seine eigene Sicherheit und jene aller Mitwirkenden. 2011 wurde This Is Not a Film, eine heimlich gedrehte Dokumentation über Panahis Warten auf seine Verurteilung, auf einem in einen Kuchen eingebackenen USB-Stick ans Filmfestival von Cannes geschmuggelt; kurz darauf wurde Kameramann und Co-Regisseur Mojtaba Mirtahmasb in Polizeigewahrsam genommen. Das Drama Closed Curtain führte 2013 zur Konfiszierung der Reisepässe von Hauptdarsteller und Co-Regisseur Kambozia Partovi sowie Schauspielerin Maryam Moqadam.

Im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern ist Taxi mehr oder minder als Einmannprojekt verwirklicht worden: Panahi zeichnet für Regie, Drehbuch, Produktion und Schnitt; auf einen Abspann verzichtet er. Trotz einer Fülle von Figuren wird ausser Panahis Namen einzig derjenige seiner Nichte Hana Saeidi preisgegeben, welche ihren Onkel bei der diesjährigen Berlinale vertrat. Doch auch der Schauplatz hat sich im Vergleich zu This Is Not a Film und Closed Curtain verändert: Wurden diese beiden in Panahis Appartement sowie in einem anonymen Haus gedreht, wagte sich der 54-Jährige in Taxi, getarnt als Taxifahrer, auf die Strassen Teherans.

Trotz Berufsverbots drehte Regisseur Jafar Panahi (rechts) seinen neuen Film auf den Strassen Teherans, getarnt als Taxifahrer.
© filmcoopi
Es ist ein tollkühnes Unterfangen, das der Zuschauer hier vorgesetzt bekommt. Die Tatsache, dass Panahis mit Kameras ausgestattetes Gefährt jeden Moment von der Polizei hätte angehalten werden können – was zu seiner sofortigen Verhaftung geführt hätte –, lässt einen letztlich vergessen, dass Taxi weder schauspielerisch noch erzählerisch über sämtliche Zweifel erhaben ist. Ja, der Amateurstatus ist diversen Schauspielern anzumerken; derweil die Dialoge bisweilen ins allzu Künstliche und Konstruierte abzurutschen drohen. Doch den Eindruck, den dieses spielerisch vorgetragene Husarenstück hinterlässt, vermögen diese vereinzelten Störfaktoren kaum zu schmälern.

Taxi zeigt, wie Panahi Vertreter aller Gesellschaftsschichten durch die Teheraner Innenstadt chauffiert, vom bekennenden Strassenräuber und dem gesprächigen kleinwüchsigen Hehler verbotener Filme aus dem Ausland über den kürzlich ausgeraubten Geschäftsmann und zwei abergläubische Frauen mit einem Goldfischglas bis hin zum verunfallten Armen, der darauf besteht, vor einer iPhone-Kamera sein Testament abzulegen. Gesprochen wird über die Moral von Exekutionen, die rigorosen Regeln, denen iranische Schüler und Filmstudenten zu folgen haben ("Keine Guten mit Krawatten. Keine Guten mit persischen Namen"), die Nachfrage nach internationaler Filmkultur ("Once Upon a Time in Anatolia von Nuri Ceylan? Habe ich natürlich"), Panahis Alltag unter seinem Berufsverbot – mehr als einmal wird er gefragt, ob er nun als Taxifahrer endgültig am Boden angelangt sei.

Unter Panahis nicht namentlich erwähnten Fahrgästen befinden sich zwei alte Frauen, die zwei Goldfische in einer Quelle aussetzen wollen.
© filmcoopi
Durch seine augenscheinliche Skript-Dialog-Treue büsst der ausgesprochen selbstreflexive Film zwar etwas von seiner suggerierten Unmittelbarkeit ein – die Tatsache, dass man ihn als Kinozuschauer überhaupt zu Gesicht bekommt, belegt, dass Panahi während der Dreharbeiten nicht erwischt wurde –, wirft jedoch gleichzeitig spannende Fragen über die Natur der Wirklichkeit auf, mit der man konfrontiert wird. Basieren die gespielten Diskussionen auf realen Konversationen? Wie viel davon, wenn überhaupt, ist improvisiert? Es sind Ansätze, wie man es von Abbas Kiarostami kennt: Wie wahr war die unglaubliche, aber angeblich faktenbasierte Verwechslungsgeschichte in Close-Up (1990)? Kann eine Fälschung wirklich ein eigenständiges Original sein, wie in Copie conforme (2010) postuliert wurde?

Letztendlich pflegt Panahi, wie schon so oft in seiner Karriere, hier die "sanfte Subversion", vergleichbar etwa mit derjenigen Luis Buñuels. Gerade in seiner Figurenzeichnung balanciert sein Film mit makelloser Eleganz auf dem schmalen Grat zwischen realitätsnahem Naturalismus und überspitzter Persiflage. Viele der Charaktere bewegen sich nahe an der Karikatur, ohne jedoch ins Lächerliche gezogen zu werden; ihre Marotten werden mit wohlwollender Ironie inszeniert. Taxi ist ein hochgradig unterhaltsamer, nicht selten urkomischer, von Galgenhumor durchsetzter Querschnitt durch die vielfältige Teheraner Gesellschaft, die sich zwar mitunter auf Religion und Scharia beruft, schlussendlich aber, so scheint es, kaum Interesse daran hat, Künstler hinter Gittern zu sehen. Panahi begegnet der iranischen Zensur einmal mehr nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit hintersinnigem Humor. Bravo.

★★★★★

Donnerstag, 2. Juli 2015

Ted 2

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

2012 erzielte der Family Guy-Schöpfer Seth MacFarlane mit Ted, einer zotigen Farce um einen zechtem Leben erwachten Teddybären, an den Kinokassen eines der besten Ergebnisse in der Geschichte der nicht jugendfreien Komödie. Das Sequel Ted 2 bleibt dem simplen Erfolgsrezept treu.

Wer sich die bislang drei Kino-Langspielfilme ansieht, bei denen MacFarlane auf dem Regiestuhl sass, wird feststellen, dass man es hier zwar nicht mit einem begnadeten Filmemacher, wohl aber mit einem passionierten Witze-Erzähler zu tun hat. Der Original-Ted folgt einer vorhersehbaren Handlung, in der in relativ uninspirierter Art und Weise die üblichen Buddy- und Liebeskomödien-Klischees abgearbeitet werden – doch unterhalten wird man trotzdem. Was der Geschichte von John Bennett (Mark Wahlberg) und seinem lebendigen Teddy (gesprochen von MacFarlane selbst) an Überzeugungskraft fehlt, macht sie mit ihrem Versuch wett, jeder erdenklichen Situation einen möglichst abseitigen, stoisch vorgetragenen Witz abzugewinnen. Ins Ziel zu treffen vermögen beileibe nicht alle, doch der Film schafft es immerhin – in einer besonders denkwürdigen Szene –, menschliche Fäkalien erfolgreich zum komödiantischen Element zu erheben. Man kann das geschmacklos und abstossend finden, doch Tatsache ist, dass MacFarlane, wenn es darum geht, Stroh zu Unterhaltungsgold zu spinnen, in Hollywoods Blödelhumor-Industrie zu den besten seines Fachs gehört. Auch in seiner Western-Parodie A Million Ways to Die in the West (2014) gibt es einiges zu lachen – trotz einer erneut äusserst fadenscheinigen Handlung und diverser arg deplatzierter Gags. Humor ist eben, wenn man trotzdem lacht.

Diese Devise verliert auch in Ted 2 nicht an Gültigkeit. Der Plot ist im Vergleich zu seinem Vorgänger zwar etwas ausgefeilter, weil weniger gewöhnlich: Teddybär Ted zieht mit John und der unerfahrenen Anwältin Samantha (Amanda Seyfried) vor Gericht, weil der Staat ihn nicht als Menschen, sondern als Objekt einstuft. Doch die Art der Erzählung bleibt sich gleich. Es wird munter getrunken, gekifft und geflucht; die Witze speisen sich aus Anspielungen, Bostoner Stereotypen, wiederkehrenden Absurditäten und Geschmacklosigkeiten, aus dem Erzählfluss enthobenen Flashbacks und sogar aus heiklen Themen mit Aktualitätsbezug. Besonders in Erinnerung bleiben dürfte der Besuch von Ted, John und Samantha in einem Impro-Theater, wo sie mit satirischem Biss die Schauplatz-Suche der Künstler sabotieren: "9/11! Ferguson, Missouri! The offices of Charlie Hebdo! The cockpit of Germanwings!" Es wirkt wie ein Aufruf MacFarlanes zum politisch unkorrekten Ungehorsam: Komiker, traut euch was! Berührungsängste – das weiss man aus dem Fernsehen – kennt MacFarlane keine. Selbst dem gelegentlichen Family Guy-Zuschauer dürften die in der Serie üblichen Pointen über gerade in den USA kontroverse Inhalte wie Abtreibungen oder institutionellen Rassismus bekannt sein.

"I have a dream": Die Anwältin Samantha (Amanda Seyfried) hilft dem Teddybären Ted (Stimme: Seth MacFarlane) und dessen besten Freund John (Mark Wahlberg) dabei, Teds Menschlichkeit vor Gericht einzuklagen.
Tatsächlich ist Ted 2 dann am besten, wenn er sich ohne Hemmungen derartig "riskanten" Witz-Materials bedient. Doch hier, mehr noch als im ersten Teil, verfehlen zahlreiche Gags ihr Ziel oder werden direkt aus anderen Filmen übernommen, unter der impliziten Andeutung, sie wären ein MacFarlane-Original. So baut etwa ein ganzer Erzählstrang darauf auf, dass Ted einen Autounfall verursacht – nachdem er John Candys gesamte "Mess Around"-Routine aus John Hughes' Planes, Trains and Automobiles (1987) nachgespielt hat. Zudem leistet sich das Drehbuch einige selbst für MacFarlanes Verhältnisse problematische Ausrutscher. Nicht nur sind hier unangenehm transphobische Tendenzen erkennbar; der Film läuft letztendlich auf eine sexistisch angehauchte Bestätigung des eigentlich überwunden geglaubten "Magical Negro"-Topos hinaus. Während Samantha nach mehrwöchiger Vorbereitung Teds Gerichtsfall nicht zu gewinnen vermag, bedarf es eines Deus-ex-machina in der Person Morgan Freemans als schwarzer Bürgerrechtsanwalt, der Ted mit einer einzigen Rede, die keinerlei neue Einsichten in sich birgt, zum Menschen erklärt. Doch das sind vereinzelte Misstöne in einem insgesamt recht vergnüglichen Ganzen, bei dem niemals echte Langeweile aufkommt, da bei MacFarlane der nächste gute Witz jeden Moment kommen könnte.

★★★