Donnerstag, 29. September 2011

Good Night, and Good Luck


★★★★★★

Few movies of the last decade have had such a political and sociocultural weight to them as Good Night, and Good Luck; and if they did, like perhaps Robert Redford’s Lions for Lambs, they didn’t reach the cinematic value of George Clooney’s masterpiece. This is a vastly important movie, comparable to Alan J. Pakula’s All the President’s Men; one you should not miss on any account.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

The Guard

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Drei Jahre nach Martin McDonaghs Kino-Erstling bringt Bruder John Michael seinen ins Kino. The Guard mag zwar nicht den Tiefsinn von In Bruges erreichen, begeistert aber mit einem Feuerwerk schwarzen irischen Humors – wahrscheinlich der lustigste Film des Jahres.

Sergeant Gerry Boyle (der fantastische Brendan Gleeson, siehe Kasten rechts) ist ein Polizist im verschlafenen Connemara-Gaeltacht, einer "Schutzzone" der gälischen Sprache, im Westen Irlands. Um seine eintönigen Tage etwas interessanter zu gestalten, unterhält Gerry gute Beziehungen zu Prostituierten und lässt sich auch den Drogenkonsum nicht schlecht reden. Als aber die Gerüchte über eine Ladung Drogen, die auf dem Wasserweg die grüne Insel erreichen soll, laut werden, kommt Bewegung in den Polizei-Alltag. Davon bleibt auch Gerry nicht verschont, dem der afroamerikanische FBI-Mann Wendell Everett (Don Cheadle) zur Seite gestellt wird. Während der Besucher Problem hat, sich bei der teilweise rassistischen Landbevölkerung verständlich zu machen, wird die Geduld des Iren durch die Gesetzestreue des "Yanks" schwer auf die Probe gestellt.

In einer Zeit, in der die meisten Komödien auf altbekannten Klischees beruhen, ist es erfrischend, jenen beizuwohnen, deren Humor auf Aspekten wie Lokalkolorit beruht. Die Kehrseite dieser Ausrichtung ist natürlich, dass sich gewisse Leute ausgeschlossen fühlen, wenn ein Film zu stark auf die Kenntnis lokaler Eigenheiten setzt. Diesen Vorwurf muss sich The Guard aber nicht machen lassen. Tatsache ist zwar, dass sich Kinogänger mit einem Vorwissen über Kultur und Gesellschaft Irlands über viele kleine "In-Jokes" amüsieren werden, doch John Michael McDonaghs Film grenzt niemanden aus. Jeder wird über Gerry Boyles naiven Rassismus herzlich lachen können, ebenso über Wendells Konversation mit einem Pferd, oder über die Frustration des Londoner Gangsters (gespielt vom umwerfenden Mark Strong, bekannt aus RocknRolla) über die in Sachen Drogen und Bestechung reichlich unerfahrenen irischen Polizisten. Wer sich jedoch etwas auskennt, wird auch an Dingen wie dem Poster des Schmusesängers Daniel O'Donnell, der vorrangigen Witzfigur des Landes, in Gerrys Schlafzimmer, dem irischen Idiom ("Gobshite!") oder der traditionellen Musik ("Carrickfergus", "Star of the County Down") seine helle Freude haben. Insofern erinnert der humoristische Einbezug der eigenen Kultur sehr an den des Judentums in A Serious Man der Coen-Brüder: Der kulturelle Hintergrund ist da, wird aber – zum Glück, da sonst die Authentizität verloren ginge – nicht erklärt.

Ritualmord oder Ablenkungsmanöver? Gesetzeshüter Gerry Boyle (Brendan Gleeson) begutachtet einen Tatort.
The Guard schafft es auch hervorragend, landesinterne Themen wie die "Alle gegen Dublin"-Mentalität, den momentanen Status der IRA oder die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Liberalisierung und katholischer Tradition auf die Schippe zu nehmen. Aber Irland wäre nicht Irland, wenn nicht auch die Tragödie – ganz nach dem "Come all ye"-Prinzip von Folksongs – ihren Platz bekäme. McDonagh findet sie in Gerrys sterbender Mutter und dem bittersüssen, aber auch überaus konsequenten Ende.

Jeder Freund des schwarzen Humors sollte John Michael McDonaghs erstem Langspielfilm etwas abgewinnen können; kaum eine Szene, die einem nicht einen lauten Lacher entlockt. The Guard ist ein Hochgenuss von einem "Fillum".

★★★★★½

Donnerstag, 22. September 2011

Le chat du rabbin

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

In der Kunst sind Tiere der menschlichen Sprache schon lange mächtig. Doch was Aesop und La Fontaine als pointierte Sozialkritik einsetzten, haben Disney & Co. mittlerweile fast etwas verniedlicht. Da kommt Le chat du rabbin gerade recht; ein geistreiches Plädoyer für religiöse Toleranz.

Dass Katzen nicht wirklich ins klassische Heldenschema passen, ist keine neue Erkenntnis. Schon zu Zeiten Shakespeares fungierten sie oft als Helfer und Gefährten der Antagonisten. Auch im Kino ist diese Tendenz erkennbar; Bond-Bösewicht Blofeld ist stets mit weisser Perserkatze auf dem Schoss zu sehen, in Cats & Dogs wollen die kuscheligen Mäusejäger die Weltherrschaft an sich reissen (woran sie von den braven, Kommandos gehorchenden Hunden natürlich gehindert werden) und auch in den Tiertrickfilmen Disneys befinden sie sich meistens auf der Seite der Bösewichte. Johann Sfar (Serge Gainsbourg, vie héroïque) und Antoine Delesvaux versuchen in Le chat du rabbin, der Verfilmung von Sfars gleichnamigem Comic, gar nicht erst, die kätzische Hauptfigur in einen Vorzeigehelden zu verwandeln. Das namenlose Tier handelt eigennützig, ist verschlagen, frönt seinem Jagdinstinkt und ist, wie letztlich jede Katze, ein veritables Raubtier, ein frecher, unabhängiger Dämon, den nicht zu lieben aber gänzlich unmöglich ist.

Dies gilt auch für Rabbi Sfar und dessen Tochter Zlabya, die im Algier der 1920er-Jahre, also zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft, leben. Als die Hauskatze eines Tages den Familienpapagei verspeist, geschieht ein Wunder: Das Tier beginnt zu sprechen. Doch was es von sich gibt, gefällt dem Rabbi nicht: Es lügt, es ist vorlaut und es zweifelt am Wahrheitsgehalt der Thora, woraufhin Sfar seiner Tochter weiteren Kontakt mit ihrem Schosstier verbietet. Also will die Katze ein guter Jude werden und besteht auf einer Bar Mitzwa. Und es warten weitere ungewöhnliche Abenteuer: Ein Flüchtling aus Russland kommt nach Afrika, um einen sagenumwobenen Stamm von äthiopischen Juden zu suchen. Bald schon brechen er, ein Millionär, ein muslimischer Weiser, der Rabbi und die Katze zu einer waghalsigen Wüstendurchquerung auf.

Die Katze debattiert mit ihrem Herrchen, dem Rabbi Sfar, über allerlei religiöse Themen.
Der Fokus von Le chat du rabbin liegt jedoch nicht ausschliesslich auf der exzellent charakterisierten Katze; die Sorgen des Rabbis kommen ebenso zum Tragen wie die des russischen Juden, der der kommunistischen Säuberung nur knapp entkommen konnte. Alle diese Anekdoten führen zwar zu einem Film mit eher unstetem Rhythmus, worüber man jedoch dank des stellenweise herrlich schwarzen Humors – Stichwort: die bitterböse Tintin au Congo-Persiflage – problemlos hinwegkommt. Und obwohl der Film oft den Standpunkt der Katze einnimmt und wie sie Witze über alle drei abrahamitischen Religionen reisst, liegt dem Ganzen das humanistische Anliegen der gegenseitigen Toleranz, welches sehr gut in die Geschichte integriert wird, zugrunde. Auch visuell überzeugt der Film: Es wird mit verschiedenen, alles sehr einfachen, Zeichenstilen gearbeitet, die der Erzählung eine wunderbar märchenhafte Atmosphäre verleihen.

Unmöglich, dieser ausgefallenen Pilgerreise in geschriebener Form gerecht zu werden. Einen vielschichtigeren und gleichzeitig abgedrehteren Trickfilm als Le chat du rabbin kann man zurzeit nirgends im Kino sehen.

★★★★½

Mittwoch, 21. September 2011

Special: Oscar Trailer Park

Es wird Herbst und damit beginnt auch die Saison der Oscar-Filme - in den USA zumindest. Zwar sind auch schon Sommerproduktionen wie Midnight in Paris oder The Tree of Life im Gespräch, doch die grossen Tiere kommen im letzten Quartal ins Kino. Hierzulande laufen die hochkarätigen Filme grösstenteils erst 2012 an. Doch immerhin gibt es zu den meisten schon den einen oder anderen Trailer zu bestaunen. Es folgt eine alphabetische Auswahl, teilweise basierend auf den Oscar-Prognosen von Scott Feinberg.


Carnage
Der erste Film von Roman Polanski seit seinen unfreiwilligen Ferien in Gstaad. Der Film, basierend auf Yasmina Rezas Theaterstück God of Carnage, behandelt die Geschichte zweier Elternpaare, die bei einem Gespräch über einen Streit ihrer Kinder selber zu Raufbolden werden. Die idyllische Fassade beginnt zu bröckeln. Mit von der Partie sind Christoph Waltz, Kate Winslet, Jodie Foster und John C. Reilly.

Schweizer Kinostart: 1.12.2011




The DescendantsTragikomödie von Alexander Payne (Sideways). Beinhaltet eine untreue Ehefrau im Koma, vorlaute Kinder und wieder einmal ein Auftritt von Jeff Bridges' unterschätztem Bruder Beau. Hauptrolle: George Clooney.

Schweizer Kinostart: 19.1.2012




Drive
Drive, der neue Film des Dänen Nicolas Refn (Bronson), lässt die Herzen der US-Kritiker höherschlagen. Sogar Peter Travers liess sich zu einer seiner seltenen Höchstwertungen bewgen. Ryan Gosling spielt einen Stuntfahrer, der nachts den Fluchfahrer für Verbrecher spielt. Ebenfalls dabei: Carey Mulligan (An Education), Albert Brooks (regelmässiger Simpsons-Bösewicht), Bryan Cranston (TV-Serie Breaking Bad) und Christina Hendricks (TV-Serie Mad Men).

Schweizer Kinostart: 5.1.2012



The Girl with the Dragon Tattoo
Remake der Millennium-Trilogie. Mit anderen Worten: Eine Neuverfilmung von Stieg Larssons Bestseller. Warum sollte einen dies interessieren? David Fincher führt Regie, Trent Reznor und Atticus Ross sind für den Score verantwortlich und Rooney Mara spielt Lisbeth Salander.

Schweizer Kinostart: 12.1.2012




The Ides of March
George Clooney spannt wieder mit Grant Heslov zusammen. Heraus kommt, wie schon bei Good Night, and Good Luck, ein überaus politischer Film. Clooney spielt einen hoffnungsvollen demokratischen Präsidentschaftskandidaten, der während des Wahlkampfs die Ecken und Kanten des Systems kennenlernt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Ryan Gosling, für den 2011 bislang ein Traumjahr war.

Schweizer Kinostart: 22.12.2011




The Iron Lady
Biopic über die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher, die von Meryl Streep verkörpert werden wird. Streep wird gute Chancen auf ihre 17. Oscarnomination haben.

Schweizer Kinostart: 12.1.2012




J. EdgarDer Film, den Scott Feinberg als Topfavoriten für den Besten Film bei den Oscars einordnet. Die Vorzeichen stehen gut: Regie führt Clint Eastwood und Leonardo DiCaprio spielt den berüchtigten FBI-Gründer J. Edgar Hoover (1895-1972).

Schweizer Kinostart: 16.2.2012



Like CrazyGewinner des Jury-Preises des diesjährigen Sundance Festivals. Anton Yelchin (Star Trek, The Beaver) und Felicity Jones (The Tempest) kämpfen mit einer Fernbeziehung. Auch dabei: Jennifer Lawrence (Winter's Bone, X-Men: First Class).

Schweizer Kinostart: TBA




Moneyball
Regisseur Bennett Miller (Capote) verfilmt das gleichnamige Buch von Michael Lewis, das sich mit der Gewinnstrategie des Baseballtrainers Billy Beane auseinandersetzt. Beane, hier gespielt von Brad Pitt, der als Favorit auf den Schauspieloscar gehandelt wird, versuchte 2002 die finanziell schwachen Oakland Athletics wettbewerbsfähig zu machen. Als Co-Autor fungierte Aaron Sorkin, der im vergangenen Jahr den Drehbuchoscar für The Social Network in Empfang nehmen durfte.

Schweizer Kinostart: TBA




War Horse
Kind-Tier-Beziehung trifft Kriegsfilm. Steven Spielberg erzählt die Geschichte eines englischen Jungen, der beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs sein treues Pferd an die Kavallerie verkauft.

Schweizer Kinostart: 5.1.2012

Donnerstag, 15. September 2011

A Separation

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Berlinale-Abräumer A Separation startete mit so viel Vorschusslorbeeren in den Kinos, dass man eigentlich nur enttäuscht werden konnte. Oder? Falsch. Asghar Farhadis Psychodrama ist ein stilles Meisterstück, das auch noch die höchsten Erwartungen zu übertreffen vermag.

Die Ehe von Nader (Peyman Moaadi) und Simin (Leila Hatami) steht vor dem Aus. Sie will mit der gemeinsamen Tochter Termeh (Sarina Farhadi) aus dem Iran auswandern, er will bei seinem an Alzheimer erkrankten Vater bleiben. Als Simin schliesslich auszieht, stellt Nader mit der streng gläubigen Unterschichtlerin Razieh (Sareh Bayat) eine Haushaltshilfe ein. Diese verschweigt ihrem Mann (Shahab Hosseini) aber ihre Anstellung. Als Nader eines Nachmittags von der Arbeit nach Hause kommt, findet er die Wohnung leer und seinen Vater ans Bett gefesselt vor. Als Razieh von einem privaten Termin zurückkommt, wirft er sie hinaus, woraufhin sie ihn beschuldigt, die Fehlgeburt ihres Kindes ausgelöst zu haben.

Der Iran wird im kollektiven Bewusstsein gerne als abgeschottetes Land mit einer durchs Band streng muslimischen Gesellschaft angesehen. Doch Asghar Farhadi zeigt in A Separation (Original: Jodái-e Náder az Simin), dass es auch im Iran einen unspektakulären Alltag gibt, zu dem eine gebildete, säkulare Mittelschicht ebenso gehört wie westliche Kleidung und iPhones. Und genau diese Gesellschaft, das iranische Bürgertum des 21. Jahrhunderts, nimmt Farhadi in seinem Film mit einer ruhigen und faszinierenden Eindringlichkeit unter die Lupe, wie man es bislang nur von Meistern wie Claude Chabrol gesehen hat. Die Themen, die dabei aufgegriffen werden, könnten mannigfaltiger nicht sein: Der ewige Kampf zwischen dem sozialen Stellenwert von Glauben und aufgeklärter Weltlichkeit findet ebenso Erwähnung wie derjenige zwischen Arbeiterklasse und Bildungsbürgertum. Auch Abtreibung, die Prioritätenfrage von Familie und Staat sowie die immer tiefer werdende Kluft zwischen Tradition und Moderne werden nicht nur angeschnitten, sondern eingehend beleuchtet.

Simin (Leila Hatami) und ihr Noch-Ehemann Nader (Peyman Moaadi) vor dem Richter.
Durch diese Themenvielfalt entsteht aber keineswegs ein überladener, gehetzter oder etwa gar pathetischer Film. Farhadi hat es hervorragend verstanden, diese Ladung an gewichtigem Subtext in seine meisterhaft konstruierte, facettenreiche Geschichte einfliessen zu lassen und sie mit einer bewundernswerten Ruhe und Nüchternheit zu untersuchen – ohne den Film dabei aber der emotionalen Komponente zu berauben. Dies ist zu einem schönen Teil der exzellenten Charakterzeichnung zu verdanken, die sich über das Schema von Pro- und Antagonisten hinwegsetzt und jeder einzelnen Figur glaubwürdige und nachfühlbare Motivation verleiht. Grossen Anteil an diesem Realismus hat auch das fantastische Schauspiel-Ensemble, welches bei der diesjährigen Berlinale die Darstellerpreise verdientermassen als Einheit entgegennehmen durfte. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Asghar Farhadis Werk zu den am besten gespielten dieses Jahres gehört.

A Separation ist ein an innerer Spannung und Aussagekraft kaum zu überbietendes Drama ohne Schnickschnack und Manipulation, das einen das Kino nicht deprimiert, sondern beeindruckt, aufgewühlt und bewegt verlassen lässt. Ein Meisterwerk.

★★★★★★

Dienstag, 13. September 2011

The Three Musketeers

Les Trois Mousquetaires, die klassische Ezählung Alexandre Dumas' des Älteren, gehört mit nunmehr 23 Leinwandadaptionen zu den meistverfilmten literarischen Werken der Geschichte. Dass die Story der drei Musketiere immer wieder neu aufgegriffen wird und sie alle bislang wenigstens teilweise zu gefallen wussten, ist auf die unverwüstliche Klasse von Dumas' Vorlage zurückzuführen. Doch auch die beste Geschichte stösst qualitativ an ihre Grenzen, wenn sie von Paul W.S. Anderson, seines Zeichens Macher minderer Horrorstreifen wie Alien vs. Predator oder Resident Evil (alle vier Teile), durch den Fleischwolf gedreht wird. The Three Musketeers ist ein heisser Anwärter auf den Titel des schlechtesten Films des Jahres.

Will man sich en détail mit dem Film befassen, ist leider ein kurzes Studium des Plots nötig – oder zumindest dessen, was sich als solcher ausgibt. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts kämpfen die legendären drei Musketiere – Athos (Matthew MacFayden), Porthos (Ray Stevenson) und Aramis (Luke Evans) – für den jungen König Louis XIII. (Freddie Fox). Als aber der junge D'Artagnan – Verzeihung, D'Artänjen (Logan Lerman) – in Paris ankommt, um sich ihnen anzuschliessen, muss er feststellen, dass aus seinen Helden frustrierte Einzelkämpfer geworden sind. Doch nach einem Kampf gegen 40 Soldaten der Leibwache von Kardinal Richelieu (Christoph Waltz), dem de facto mächtigsten Mann des Königreichs, finden die drei Freunde wieder zusammen und nehmen auch D'Artänjen als einen der ihren auf. Die Mithilfe können sie brauchen, da Richelieu und die Doppelagentin und Ex-Geliebte von Athos, Milady de Winter (Milla Jovovich, Paul W.S. Andersons Ehefrau), den englischen Lord Buckingham (Orlando Bloom, dessen Karriere sich langsam dem Ende zu nähern scheint) und König Louis dazu bewegen wollen, einen Krieg zwischen England und Frankreich heraufzubeschwören. Eine derartige Auseinandersetzung wäre für Europa verheerend, da Buckingham im Besitz von Leonardo da Vincis sagenumwobenen Bauplänen für fliegende Kampfmaschinen ist. Und nein, das ist kein Witz.


The Three Musketeers sieht sich als Vertreter der Kunstrichtung des Steampunk, die im Kino bereits unterhaltsame Werke wie Guillermo del Toros Hellboy-Verfilmungen oder Guy Ritchies unterbewertete Neuinterpretation von Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes hervorgebracht hat. Tatsächlich kann sich Andersons Film in Sachen Schauwerten durchaus sehen lassen: Kostüme und Austattung sind einfallsreich und hübsch anzusehen. Nur leider generieren diese Aspekte noch lange keinen guten Film. Auch Hellboy und Sherlock Holmes beeindruckten visuell, doch der Grund, weshalb diese Versuche, einen alt gestandenen Stoff neu auszulegen, gelangen, weil die Regisseure zwar einerseits der jeweiligen Vorlage Respekt zollten, sie aber mit ihrem eigenen, unverwechselbaren Stil zu vermischen wussten. Anderson hingegen scheitert in beiden Punkten: Er degradiert Dumas' Figuren zu billigen Schablonen und er beweist einmal mehr, dass seine einzige "Vision" als Regisseur darin besteht, Massenware zu liefern.

Entsprechend sind die Actionsequenzen ein unbeständiger, schlecht geschnittener, mit geistlosem 3D gespickter Brei aus Zack Snyder'scher "Zeitlupe" – eine Verlangsamung, gefolgt von doppelter Geschwindigkeit –, bekannt aus 300, Kampfmethoden, die denen aus den Assassin's Creed-Spielen aufs Haar gleichen, und Choreografien, die man Schritt für Schritt aus Pirates of the Caribbean zu kennen glaubt. Darüber hinaus scheint Anderson nicht einmal grundsätzliche Konventionen des Filmemachens begriffen zu haben. So erweist er sich beispielsweise als unfähig, Dialogszenen mit einer gewissen Dynamik, oder wenigstens einem Fünkchen Realismus, zu inszenieren. Redet jemand im Vordergrund, steht im Hintergrund alles still, sodass niemals das Gefühl aufkommt, die Welt von The Three Musketeers sei eine lebendige. Überhaupt scheint Andersons einzige Mission in diesem Film zu sein, seine Frau Milla Jovovich in viel zu knappe Kleidchen zu stecken und sie sexy herumhüpfen zu lassen. Ob dazu wirklich ein Budget von gut 80 Millionen Dollar nötig war, sei dahingestellt.


Doch nicht nur die Regie ist auf dem Niveau eines mittelmässigen Schultheaters; die Darsteller enttäuschen ebenso. Oscar-Gewinner Christoph Waltz wirkt gelangweilt und freudlos, Matthew MacFayden und Milla Jovovich scheinen ihren Text von Notizen auf ihren Händen abzulesen und Logan Lerman verliert nie sein dämliches Grinsen, was seiner sowieso schon miserabel geschriebenen Figur den Rest gibt. Ja – wen wunderts? –, auch das Drehbuch macht den Anschein, als hätten sich die Autoren, Andrew Davies und Alex Litvak, nicht sonderlich viel Mühe gegeben. Nicht nur klingt die Geschichte, als hätte sie sich ein kleines Kind ausgedacht, der Charme der originalen Charaktere wurde durch Komödienstereotypen ersetzt, die sich schlechter mit dem historischen Hintergrund nicht vertragen könnten. Jeder Akteur muss unlustige One-Liner von sich geben, die bis zur Schmerzgrenze wiederholt werden müssen, D'Artänjen ist ein nerviger Bengel, dessen Sprüche clever und vorlaut sein sollen, ihn aber nur noch unsympathischer machen, jeder lacht über seine eigenen Witze, und niemand, schon gar nicht die Bösewichte, haben auch nur im Entferntesten eine erkennbare Motivation, geschweige denn so etwas wie Charakterkontinuität. Auch Logik und Physik werden schamlos ausser Kraft gesetzt; so führt neuerdings das Rammen der Notre Dame mit einem futuristischen Luftschiff (eine Kiki's Delivery Service in Erinnerung rufende Szene) zu nicht mehr als insgesamt drei halbwegs interessierten Zuschauern und ein Sturz aus gut 500 Metern Höhe ist dermassen marginal, dass das Überleben desselben nicht einmal erklärt werden muss.

The Three Musketeers ist ein Reinfall in jeder Hinsicht – mit der möglichen Ausnahme der Kassenbilanz. Nichts wirkt echt. Originalität – Fehlanzeige. Regie, Skript, Schauspiel und sogar Schnitt sind stümperhaft. Würde sich Alexandre Dumas, wenn er davon wüsste, im Grab umdrehen? Wohl nicht, der Film lohnt schlicht den Aufwand nicht.

Freitag, 9. September 2011

Friends with Benefits

Liebeskomödien sind eine typische Hollywood-Domäne. Seit den 1930er Jahren werden sie in Tinseltown in Hülle und Fülle produziert. Formal verändert hat sich nicht viel; die Filme drehten sich vor 80 Jahren darum, wie er sie oder sie ihn von der wahren Liebe überzeugt, und so ist es auch heute der Fall.

Doch auch der optimistischste Kinogänger muss mittlerweile feststellen, dass, wenn es um Rom-Coms geht, die Phrase "Früher war (fast) alles besser" für einmal keine nostalgische Illusion, sondern die traurige Wahrheit ist. Vorbei sind die Zeiten der Screwball-Komödien mit ihren legendären "Machine Gun Dialogues", nach Wilders und Lubitschs kann man in Hollywood lange suchen. Wer auf Substanz in Liebeskomödien aus ist, der wird eher in Sundance fündig (Garden State, (500) Days of Summer). Das Zauberwort dort lautet: Sei anders! Und daran will nun auch der Mainstream anknüpfen; man denke an Crazy, Stupid, Love oder No Strings Attached. Der neueste Film in dieser Reihe ist Will Glucks Friends with Benefits, der sich in der Kunst des frivolen und selbstreferentiellen Humors versucht. Dies funktioniert sogar einigermassen – bis er von dem eingeholt wird, worüber er sich lustig macht.

"Friends with Benefits" ist ein soziales Konstrukt der Sorte "Klappt auf dem Papier, aber nicht in Wirklichkeit, da dort Menschen involviert sind": Man kennt sich, man mag sich, man hat Sex, aber man ist nicht zusammen – klingt gut, verläuft aber selten nach Plan. Dies müssen der Art Director Dylan (Justin Timberlake) und die Personalvermittlerin Jamie (Mila Kunis) auf die harte Tour herausfinden. Sie holt ihn von Los Angeles nach New York, wo er das Layout des Modemagazins GQ übernehmen soll. Die beiden finden Gefallen aneinander – als Freunde – und verbringen viel Zeit miteinander. Allerdings sind sie frisch getrennt und sexuell erheblich frustriert. Also beginnen die beiden eine zwang- und gefühlslose Sexbeziehung, von denen beide Parteien profitieren – keine Beziehung bedeutet keine vorgetäuschte Höflichkeit, also kann man dem Gegenüber ruhig sagen, wenn er/sie im Bett etwas falsch macht. Aber es dauert nicht lange, bis sich bei Dylan und Jamie die Gefühle melden.


Das schlagendste Verkaufsargument von Friends with Benefits ist zweifelsohne die Besetzung der Hauptrollen. Hätte Will Gluck dieses Projekt mit dem genau gleichen Cast vor einem Jahr gedreht, würde kein Hahn danach krähen. Nun waren aber Justin Timberlake und Mila Kunis in The Social Network respektive Black Swan zu sehen und vermochten mit ihren jeweiligen (hervorragenden) Leistungen sogar Gerüchte über eine mögliche Oscarnomination aufflammen zu lassen. Daraus wurde letztendlich zwar nichts, aber das Ansehen der beiden ist seit der letzten Award Season dennoch markant gestiegen. Dass sie nun in einer Hollywood-Liebeskomödie zu sehen sind, mag befremdlich wirken, doch das Genre tut ihrem Können keinen Abbruch. Zwischen Kunis und Timberlake stimmen Chemie und Timing – eminent wichtige Faktoren – und so geben sie denn nicht nur ein süsses, sondern sogar ein glaubwürdiges Paar ab. So hebt sich Friends with Benefits schon in der Personalabteilung von liebloseren Genre-Beispielen wie etwa What Happens in Vegas ab.

Auch der Humor kann sich sehen lassen. Geschmacklose Witze gibt es kaum zu beklagen und das Sarkasmus-Ping-Pong zwischen Dylan und Jamie ist besonders in den ersten 20 Minuten des Films eine wahre Freude. Leider aber scheinen die Autoren – Keith Merryman, David A. Newman und Regisseur Gluck selbst – nicht halb so viel Sorgfalt in die Story als Ganzes investiert zu haben. Friends with Benefits verliert nämlich nach gut einer Stunde seine unterschwellig subversive "Screw You"-Attitüde, die es konventionellen Rom-Coms entgegenbringt – Mila Kunis darf sich sogar lautstark über die inoffizielle Genre-Galionsfigur Katherine Heigl (27 Dresses, The Ugly Truth) aufregen –, und der Film wandelt sich allmählich selber zu einer allzu schmalzigen Romanze, über die auch die eigenwillige letzte Linie ("Fuck this") nicht hinwegzutäuschen vermag.


Wie schon Enchanted, die Möchtegern-Satire auf Märchen und Musicals, untergräbt Friends with Benefits seine eigenen parodistischen Ambitionen, indem diese schlussendlich ohne jede ironische Brechung trotzdem eingesetzt werden. Es bringt nichts, sich über den Popsong (Trains nerviges und hirnloses "Hey, Soul Sister") im Abspann eines – aufgrund seiner schieren Dummheit urkomischen – fiktiven Films im Film zu mokieren, wenn eben dieser Song kurz vor dem emotionalen Höhepunkt des wirklichen Films angespielt wird.

Überdies bleibt vieles an Friends with Benefits Stückwerk. Die Entwicklung der Figuren ist unausgereift, gewisse Charakterzüge blitzen einmal kurz auf und verschwinden sogleich wieder und es wird in Form von Dylans Vater völlig grundlos der Allzweck-Tränendrüsendrücker Alzheimer bemüht. Richard Jenkins glänzt zwar in dieser Rolle und liefert eine Performance, deren Würde und Vielschichtigkeit problemlos in ein Drama zum Thema passen würde, doch die Frage nach Sinn und Zweck dieses Elements wird dennoch nicht befriedigend beantwortet.

Friends with Benefits gibt sich alle Mühe, "anders" zu sein. Dies gelingt ihm teilweise sogar ganz gut; sei es mit den fröhlich fluchenden Charakteren, seiner Frivolität oder seiner Darstellung einer platonischen Freundschaft zwischen Frau und Mann im Stile der Sitcom Will & Grace, nicht zuletzt dank den wundervoll aufspielenden Justin Timberlake und Mila Kunis. Doch wenn schliesslich die Klischees Einzug halten, wird offenkundig, dass Glucks Film sich den alten, mehrheitsfähigen Mustern beugen musste und man weiterhin auf einen (500) Days of Summer aus einem Hollywood-Major-Studio warten muss.

★★★

Donnerstag, 8. September 2011

Horrible Bosses

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Hat die Mainstream-Komödie Marke Hollywood mit Seth Gordons Horrible Bosses etwa ihre zynische Seite entdeckt? Die Grundidee des Streifens legt dies nahe. Jedoch schreckt der Film vor richtig schwarzem Humor zurück und bleibt vorab ein spassiges Hit-and-Miss-Komödchen.

Unausstehliche Chefs und die mit ihnen verbundenen Mordfantasien ihrer Angestellten werden in Komödien gerne gebraucht – als Wegwerfwitz. Regisseur Seth Gordon und seine Autoren Brett Ratner und Jay Stern stellten sich nun aber der Herausforderung, diesem Stilelement einen ganzen Film zu widmen. Im Mittelpunkt stehen die Freunde Nick (Jason Bateman), Dale (Charlie Day) und Kurt (Jason Sudeikis), die von ihren jeweiligen Vorgesetzten terrorisiert werden; Nick wird vom paranoiden Ekelpaket Harken (Kevin Spacey) getriezt, der frisch verlobte Dale muss sich gegen die Avancen der nymphomanischen Julia (Jennifer Aniston) zur Wehr setzen, während Kurt nach dem Tod seines geliebten Chefs (Donald Sutherland) dessen drogensüchtigen Sohn Bobby (Colin Farrell) daran hindern muss, die traditionsreiche Firma zu ruinieren. Beim gemeinsamen Feierabendbier gebären sie schliesslich die zündende Idee, ihre Chefs umzubringen. Einen Mordberater wie "Motherfucker" Jones (Jamie Foxx) zu finden, ist dabei noch das geringste Problem.

Horrible Bosses will sich offensichtlich vom Durchschnitt der amerikanischen Buddy-Komödien abheben, doch dies gelingt ihm nur bedingt. Wie fürs Genre typisch, liessen sich Ratner und Stern eine Ansammlung an Witzen einfallen, die von subtil und lustig bis zu dämlich und beleidigend reichen. Letztere äussern sich in uninspirierten Gags unter der Gürtellinie, die eigentlich bei der Leseprobe hätten gestrichen werden sollen – ein Beleg für die augenfällige Unbedarftheit des Autorenduos. So ist man froh um jeden angenehm absurden Moment; sei es das Aufklären von Dale, dass der Mordplan auf Alfred Hitchcocks Strangers on a Train zurückgreift und nicht auf Throw Momma from the Train, Danny DeVitos Hommage daran; sei es der wahre Grund, weshalb "Motherfucker" Jones Zeit im Gefängnis verbrachte; oder sei es die Tatsache, dass Dale als Triebtäter vorbestraft ist, weil er eines Nachts einen Busch auf einem leeren Kinderspielplatz neben seiner Stammbar als Toilette missbrauchte.

Die Kumpels (v.l.) Dale (Charlie Day), Kurt (Jason Sudeikis) und Nick (Jason Bateman) suchen einen Auftragskiller.
Was Horrible Bosses aber zu einem grundsätzlich amüsanten Kinoerlebnis macht, ist sein Cast. Den (zugegebenermassen ganz ordentlichen) Gag-Reel-Abspann hätte man nicht gebraucht, um zu erraten, dass alle Beteiligten einen Heidenspass auf dem Set hatten. Das Trio Bateman, Day und Sudeikis harmoniert prächtig miteinander und blüht vor allem dann auf, wenn etwas Würde und Professionalität angebracht wären. Auch auf Seiten der Antagonisten gibt es einige Komik-Perlen zu bewundern; allen voran Kevin Spacey, der einmal mehr zeigt, dass er auch komödiantischen Rollen gewachsen ist. Seine Boshaftigkeit ist, vielleicht auch weil der Rest des Films sie grösstenteils vermissen lässt, eine wahre Freude – er ist und bleibt ein Schauspieler, den man liebend gerne hasst.

Das Schicksal – zweifelhaft, aber nicht undankbar – von Horrible Bosses dürfte feststehen: Er wird sich in eine lange Reihe von Filmen einreihen, deren Aufgabe es ist, einen Männerabend abzurunden. Wohl bekomms.

★★★½

Montag, 5. September 2011

Le quattro volte

Die Bedeutung von Leben, Tod und Wiedergeburt ist ein Thema, das in Autorenfilmen immer wieder gerne aufgegriffen wird. Doch für jeden tiefgründigen und spannenden Film wie The Limits of Control ist in den Kinos ein plakativer, pathetischer Egotrip wie Terrence Malicks The Tree of Life (Palme d'Or 2011) zu sehen. Derartige Filme sind dem Trugschluss erlegen, dass man dem Leben cineastisch so bombastisch wie möglich zu Leibe rücken muss, um dem Zuschauer dessen Unglaublichkeit näherzubringen. Den genauen Gegensatz zu dieser Annäherung stellt nun Michelangelo Frammartinos Le quattro volte dar, ein stilles Drama gänzlich ohne Dialog, das vier Formen des Lebendigen beleuchtet und dabei bravourös auf dessen Alltäglichkeit hinweist.

In einem kleinen kalabrischen Dorf lebt ein alter Ziegenhirte (Giuseppe Fuda), dessen Leben sich dem Ende zuneigt. Seine Hustenanfälle, die er mit einem Gebräu aus Wasser und Staub vom Kirchenboden zu lindern versucht, werden stetig schlimmer, bis er eines Morgens im Beisein seiner (ausgebrochenen) Ziegen dahinscheidet. Bald darauf wird ein Zicklein geboren, das normal aufwächst, bis es eines Tages beim Gang auf die Weide von Hirt und Herde getrennt wird und in der Wildnis herumirrt. Schliesslich begibt es sich unter einem grossen Nadelbaum zur Ruhe. Dieser wird im folgenden Jahr von den Dorfbewohnern dazu erkoren, die Hauptrolle bei einer Festlichkeit einzunehmen. Als die Feier vorbei ist, wird er vom örtlichen Bergwerk zu Holzkohle verarbeitet.

Le quattro volte ist insofern schwer zu beschreiben, als dass er seine (recht bescheidenen) Ambitionen nicht mit einer elaborierten Geschichte auszuschmücken versucht. Michelangelo Frammartino greift Aristoteles' Theorie von den drei beseelten Stufen der Natur – Pflanze (Baum), Tier (Ziege), Mensch (Hirt) – auf und lässt seine wunderschöne Bildsprache ihre Wirkung erzielen. Oft hält Kameramann Andrea Locatelli bei einem unbewegten Objekt – das kann mitunter auch Giuseppe Fudas ausdrucksstarkes Gesicht sein – inne und er lässt den Zuschauer den Weg einer Ameise oder das Spiel des Windes mitverfolgen. Aber gleichzeitig verharrt der Film nie im Stillstand, sondern ist immer in Bewegung; zwar langsam, aber fortwährend.


Inhaltlich wirft Regisseur und Autor Frammartino einen intimen Blick hinter die Kulissen einer Gesellschaft, hier symbolisiert durch das Dorf, und zeigt, wie, beinahe unbemerkt, sich ganze Lebenszyklen abspielen, ohne dass jemand gross darauf achten würde. Aber niemals lässt er sich dazu hinreissen, den mahnenden Zeigefinger zu erheben und einen daran zu erinnern, dass man solchen kleinen Wundern gefälligst die Ehre zu erweisen habe. Die Belehrung des Publikums gehört definitiv nicht zu den Zielen des Films. Dazu passt auch die dialogfreie Inszenierung. Le quattro volte ist zwar alles andere als ein Stummfilm – es sind Stimmen im Hintergrund zu hören und auch die Ziegen sind nicht von der stummen Sorte –, doch untermalende Musik und für die Erzählung relevante Gespräche sucht man vergeblich. Auf diese Weise entsteht eine meditative Atmosphäre, frei nach dem Motto "Schweigen ist Gold", die nicht nur nachvollziehbar ist, sondern sogar ansteckend wirkt.

Es ist klar, dass Le quattro volte nicht jedem zusagen wird. Der Film schreitet bedächtig voran und traut es dem Zuschauer zu, aus den einzelnen Bildern seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Man muss sich einlassen auf Frammartinos philosophische Etüde, denn dann wird man mit einem beeindruckenden und nachwirkenden Kinoerlebnis belohnt.

★★★★★

Donnerstag, 1. September 2011

Der Sandmann

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Nein, Der Sandmann, Peter Luisis neuer Film, ist keine Verfilmung von E.T.A. Hoffmanns klassischer Novelle gleichen Namens. Es ist eine verquere Liebesgeschichte, die in der Schweizer Filmhistorie ihresgleichen sucht. Doch leider bleibt die Absurdität nur der Prämisse vorbehalten.

Der arrogante Philatelist Benno (Fabian Krüger) lebt in einer schönen Wohnung über dem Café des Mauerblümchens Sandra (Irene Brügger alias "Frölein da Capo"), die von einer Karriere als Musikerin träumt. Darum übt sie jede Nacht lautstark, was Benno schier in den Wahnsinn treibt. Obendrein dringt Sandra auch allmählich in seine Träume ein, woraufhin er jeweils Sand in seinem Bett findet. Nach und nach wird das Problem akuter, bis der Sand fast pausenlos aus Bennos Ärmeln und Hosenbeinen herausrieselt. Dies bringt einerseits seinen pingeligen Chef (ein masslos übertreibender Beat Schlatter) auf die Palme; andererseits ist es auch gefährlich, da jeder, der den Staub einatmet, sofort in Tiefschlaf versetzt wird. Letztendlich erkennt Benno, dass nur die von ihm verachtete Sandra helfen kann.

Irene Brügger hat in einem Interview gesagt, sie habe beim Lesen von Peter Luisis Drehbuch mehrfach pausieren müssen, um die hochgradige Absurdität der Story zu verdauen. Wenn diese Anekdote sinnbildlich für etwas steht, dann dafür, dass die Schweiz als Kinoland ihren Sinn fürs Absurde, der sich in Filmen wie HD Läppli oder sogar Luisis eigenem Verflixt verliebt bester Gesundheit erfreute, verloren zu haben scheint. Ja, die Prämisse des Films ist unüblich und gewitzt abseitig. Der Film als Ganzes jedoch ist immer noch stark im helvetischen Konformismus verwurzelt. Es fehlt der Mut, Der Sandmann mehr sein zu lassen als ein Film, dessen Synopsis Kopfkratzen verursacht. Der Grund dafür mag bei den Produzenten zu suchen sein; ein allzu grosses Risiko könnte sich eben negativ auf das Einspielergebnis auswirken.

Die Wüste lebt: Benno (Fabian Krüger) verliert Sand und muss herausfinden, wie er dem Problem entgegenwirken kann.
Immerhin, Luisis Drehbuch ist – für das, was es ist – gelungen. Er spielt seine Stärken einmal mehr aus: Das Konzept wird sehr gekonnt von einer hübschen Idee in einen durchaus anregenden Film übersetzt, die Witze sind nicht schlecht und für verrückte Nebenfiguren ist gesorgt – so etwa der herrliche Dimitri (oder etwa doch Hanspeter?), ein osteuropäischer Mike-Shiva-Verschnitt. Das einzige richtig grosse Manko der Erzählung ist die Liebesgeschichte, die zwischen Benno und Sandra konstruiert wird. Luisi orientierte sich offenbar an Filmen wie Groundhog Day oder Le mari de la coiffeuse, scheitert letzten Endes aber an zwei Dingen: Zum einen ist da Fabian Krüger, dessen farblose, ziemlich hölzerne Darbietung nicht zu überzeugen vermag. Zum andern muss man sich fragen, ob es wirklich notwendig war, Irene Brügger, die beste Schauspielerin im Bunde, ihre Frölein-da-Capo-Masche abziehen zu lassen. So wirkt der Film nämlich stellenweise wie eine Werbung für Brüggers Bühnenshow. Und mal ehrlich; so toll ist die Figur nun auch wieder nicht.

Luisi mag in seinem dritten Spielfilm zwar die Qualität von Verflixt verliebt nicht erreichen, übertrifft den fehlgeleiteten Love Made Easy aber mühelos. Der Sandmann ist ein witziger, gut gelaunter und sympathischer Film, der für ordentliche Unterhaltung sorgt, einen aber nie vergessen lässt, dass er viel mehr hätte sein können.

★★★½