Montag, 5. September 2011

Le quattro volte

Die Bedeutung von Leben, Tod und Wiedergeburt ist ein Thema, das in Autorenfilmen immer wieder gerne aufgegriffen wird. Doch für jeden tiefgründigen und spannenden Film wie The Limits of Control ist in den Kinos ein plakativer, pathetischer Egotrip wie Terrence Malicks The Tree of Life (Palme d'Or 2011) zu sehen. Derartige Filme sind dem Trugschluss erlegen, dass man dem Leben cineastisch so bombastisch wie möglich zu Leibe rücken muss, um dem Zuschauer dessen Unglaublichkeit näherzubringen. Den genauen Gegensatz zu dieser Annäherung stellt nun Michelangelo Frammartinos Le quattro volte dar, ein stilles Drama gänzlich ohne Dialog, das vier Formen des Lebendigen beleuchtet und dabei bravourös auf dessen Alltäglichkeit hinweist.

In einem kleinen kalabrischen Dorf lebt ein alter Ziegenhirte (Giuseppe Fuda), dessen Leben sich dem Ende zuneigt. Seine Hustenanfälle, die er mit einem Gebräu aus Wasser und Staub vom Kirchenboden zu lindern versucht, werden stetig schlimmer, bis er eines Morgens im Beisein seiner (ausgebrochenen) Ziegen dahinscheidet. Bald darauf wird ein Zicklein geboren, das normal aufwächst, bis es eines Tages beim Gang auf die Weide von Hirt und Herde getrennt wird und in der Wildnis herumirrt. Schliesslich begibt es sich unter einem grossen Nadelbaum zur Ruhe. Dieser wird im folgenden Jahr von den Dorfbewohnern dazu erkoren, die Hauptrolle bei einer Festlichkeit einzunehmen. Als die Feier vorbei ist, wird er vom örtlichen Bergwerk zu Holzkohle verarbeitet.

Le quattro volte ist insofern schwer zu beschreiben, als dass er seine (recht bescheidenen) Ambitionen nicht mit einer elaborierten Geschichte auszuschmücken versucht. Michelangelo Frammartino greift Aristoteles' Theorie von den drei beseelten Stufen der Natur – Pflanze (Baum), Tier (Ziege), Mensch (Hirt) – auf und lässt seine wunderschöne Bildsprache ihre Wirkung erzielen. Oft hält Kameramann Andrea Locatelli bei einem unbewegten Objekt – das kann mitunter auch Giuseppe Fudas ausdrucksstarkes Gesicht sein – inne und er lässt den Zuschauer den Weg einer Ameise oder das Spiel des Windes mitverfolgen. Aber gleichzeitig verharrt der Film nie im Stillstand, sondern ist immer in Bewegung; zwar langsam, aber fortwährend.


Inhaltlich wirft Regisseur und Autor Frammartino einen intimen Blick hinter die Kulissen einer Gesellschaft, hier symbolisiert durch das Dorf, und zeigt, wie, beinahe unbemerkt, sich ganze Lebenszyklen abspielen, ohne dass jemand gross darauf achten würde. Aber niemals lässt er sich dazu hinreissen, den mahnenden Zeigefinger zu erheben und einen daran zu erinnern, dass man solchen kleinen Wundern gefälligst die Ehre zu erweisen habe. Die Belehrung des Publikums gehört definitiv nicht zu den Zielen des Films. Dazu passt auch die dialogfreie Inszenierung. Le quattro volte ist zwar alles andere als ein Stummfilm – es sind Stimmen im Hintergrund zu hören und auch die Ziegen sind nicht von der stummen Sorte –, doch untermalende Musik und für die Erzählung relevante Gespräche sucht man vergeblich. Auf diese Weise entsteht eine meditative Atmosphäre, frei nach dem Motto "Schweigen ist Gold", die nicht nur nachvollziehbar ist, sondern sogar ansteckend wirkt.

Es ist klar, dass Le quattro volte nicht jedem zusagen wird. Der Film schreitet bedächtig voran und traut es dem Zuschauer zu, aus den einzelnen Bildern seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Man muss sich einlassen auf Frammartinos philosophische Etüde, denn dann wird man mit einem beeindruckenden und nachwirkenden Kinoerlebnis belohnt.

★★★★★

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