Samstag, 22. Juni 2013

Paradies: Hoffnung

Ulrich Seidls Paradies-Trilogie ist ein eigenwilliges kleines Gesamtkunstwerk, in dem die wahren Absichten des Regisseurs immer knapp ausserhalb des Gesichtsfeldes des Zuschauers zu liegen scheinen, verborgen hinter einem Schleier von mal zynischer, mal sanfter Ironie. So manche Analyse muss unter Vorbehalt getätigt werden: Zwar darf man Paradies: Liebe durchaus als bissige Satire auf die moderne Form des europäischen Imperialismus werten, doch wie fügt sich die mit viel Empathie gezeigte "kolonialistische" Protagonistin in dieses Schema ein? Wie lässt sich das bittere Porträt religiösen Extremismus in Paradies: Glaube mit der offensichtlich bemitleidenswerten Hauptfigur vereinen? Hat sich der Österreicher in seiner Titelwahl von den drei theologischen Tugenden nach Paulus inspieren lassen oder muss man den Umweg über Ödön von Horváths Theaterstück Glaube Liebe Hoffnung gehen?

Verschont bleibt man als Zuschauer von diesen Fragen auch in Paradies: Hoffnung, dem Endstück des Kino-Triptychons, nicht, wenngleich Seidls unbarmherzig kalter Blick hier einer Wärme weicht, die – ob der Titel nun ironisch zu verstehen ist oder nicht – den Figuren in den ersten zwei Teilen nicht vergönnt war. Dieses Mal steht Melanie (Melanie Lenz), die Tochter von Teresa (Margarete Tiesel in Liebe) und die Nichte von Anna Maria (Maria Hofstätter in Glaube), im Mittelpunkt. Ihren Sommer verbringt sie in einem Diätcamp auf dem österreichischen Land, wo sie und ein gutes Dutzend andere übergewichtige Kinder und Jugendliche unter Aufsicht einer Ernährungsberaterin (Vivian Bartsch) und eines disziplinversessenen Turnlehrers (Michael Thomas) gegen die überflüssigen Pfunde ankämpfen sollen. Melanies Interesse gilt aber zunehmend dem knapp 50-jährigen Lagerarzt (Joseph Lorenz).

Ungeachtet der Hoffnung, die der Titel verspricht, erzählt auch dieser Film primär von der Verzweiflung und letztendlich vom Scheitern seiner Hauptfigur. Praktisch pausenlos jagt Melanie, angestachelt von einer in Liebesdingen erfahreneren Freundin (Verena Lehbauer), der wahnhaften Illusion hinterher, den von ihr begehrten Arzt, ihre "erste grosse Liebe", verführen zu können. Allerdings geht dieser anfangs auf die Avancen ein, indem er mit grotesken, den Seidl'schen Realismus strapazierenden "Doktorspielen" zu Melanies Obsession beiträgt – der subversive Coup de grâce des Films, wenn man Österreichs Verhältnis zum Kindesmissbrauch in der jüngeren Vergangenheit bedenkt; im Schatten von Filmen wie Michael oder 3096 Tage zeigt ein einheimischer Regisseur, wie eine Jugendliche einen 40 Jahre älteren Mann implizit dazu auffordert, sie zu entjungfern.

Schlussendlich aber kommt es, wie es kommen muss; dem leider allzu repetitiven Haupthandlungsstrang von Paradies: Hoffnung wird mit dem vernünftigen Rückzieher des namenlosen Arztes ein Ende gesetzt. "Warum?", schluchzt Melanie. "Weil es so ist", sagt er. Das Gewicht von Moral, Gesetz und Gesellschaft wiegt zu schwer. Niemals war Seidl der politischen Korrektheit so nah wie in dieser Szene; der grosse Provokateur zeigt mit überraschender Zärtlichkeit (und vielleicht auch einer Spur Herablassung seiner jugendlichen Protagonistin gegenüber), dass das gesellschaftliche Diktat, so unbefriedigend und einengend es auch sein mag, auch seine guten Seiten hat. Im vorliegenden Fall bewahrt es Melanie vor einer womöglich traumatisierenden Erfahrung, ihren Angebeteten vor Verlust von Arbeit und Freiheit.

Vertrauliches Verhältnis zwischen Doktor und Patient: Melanie (Melanie Lenz) verliebt sich in den Lagerarzt (Joseph Lorenz).
© Praesens Film
Sein übergeordnetes Motiv, das flüchtige Paradies, findet Seidl aber nicht in der Konformität – immerhin wird Melanie in einem gutbürgerlich-biederen Dorf-Club fast vergewaltigt –, sondern irgendwo zwischen Rebellion und Anpassung. Und genau dort setzt auch die Hoffnung ein. Zwar lässt das idyllisch fotografierte Diätlager kaum ein Klischee solcher Einrichtungen aus – insbesondere bezüglich der Leibesübungen –, und der von Michael Thomas mit komödiantischem Flair verkörperte Turnlehrer bedient sich, wie Anna Marias Bet-Zirkel in Glaube, Parolen, wie man sie in Österreich nach 1938 wohl hätte hören können ("Gemeinschaft durch Disziplin!"); doch davon abgesehen, wird es von Seidl als eine fast romantische Gegenwelt eines bizarren Utopia inszeniert. Schon allein die Architektur suggeriert ein Doppelleben: Die Symmetrie der nackten, weiss-grauen Wände wird durch wilde Wandmalereien und Zickzack-Muster auf den Steinböden gebrochen.

Das Lagerleben der Insassen wiederum ist strikten Regeln unterworfen – Handys sind täglich nur eine Stunde lang erlaubt, Ruhe nach 21.30 Uhr; Zuwiderhandlungen werden mit sinnlosen Übungen bestraft –, welche die übergewichtigen Teenager in ihren rebellischen Momenten durch ihre eigenen ersetzen. Wenn des Abends die Jungen die Mädchen in ihren Zimmern besuchen, gilt das Credo, dass Bier für diejenigen, die noch keine 14 Jahre alt sind, tabu ist. Wird Flaschendrehen gespielt, küssen sich auch Geschlechtsgenossen gegenseitig, ohne jede Proteste. Innerhalb der Trilogie schafft diese Party-Szene, welche schliesslich vom vordergründig zornigen, aber offenkundig interessierten Arzt aufgelöst wird, einen scharfen Kontrast zu einer Obdachlosen-Orgie in Glaube. Während Letztere die höllischen Bilderwelten des Hiernoymus Bosch evoziert; ist Erstere ist ein letztlich harmloser Exzess, ein Jugend-Experiment im Stile von Benjamin Leberts Pubertätsroman Crazy.

Leiden an der Sprossenwand: Leibesübungen gehören im bizarr-utopischen Diätcamp zum Tagesprogramm.
© Praesens Film
Gefeiert wird die Fete von einer Zusammenkunft von Scheidungskindern, deren Desillusionierung noch nicht der Hoffnungslosigkeit Teresas oder Anna Marias gewichen ist. Auch unter ihnen mag es intrigante, zynische Individuen geben, die ihre Eltern mit Anrufen manipulieren, ihre Freunde beschimpfen und Männer pauschal verfluchen (eine Einstellung, welche mit ihrer Komposition nebeneinander liegender fülliger Frauen exakt ein Bild aus Liebe widerspiegelt). Doch Melanie, die in einer religiösen Lesart wohl die Jungfrau Maria symbolisieren würde, gehört nicht dazu. Sie verkündet, zum Entsetzen ihrer neuen Freundin, dass ihr der Charakter eines Jungen wichtiger sei als sei Aussehen. Auf dem Höhepunkt ihres Liebeskummers wendet sie sich per Telefon an ihre Mutter. In der letzten Szene sieht man sie wieder lachen.

So wird klar: Die Titel gebende Hoffnung ist nicht zuletzt sie selbst, die stärkste Frau ihrer Familie, der hoffnungsvolle Spross einer verbitterten, bigotten Generation. Hoffnung, anders als Glaube und Liebe, hat ihren Blick in die Zukunft, in Richtung Paradies gewandt. Es ist die ausserordentlich befriedigende Schlussfolgerung eines nicht immer überzeugenden Films. Auf Seidls Paradies-Reihe trifft jedoch das von Michael Thomas an seine Diät-Zöglinge weitergegebene Sprichwort, dass eine Kette nur so stark sei wie ihr schwächstes Glied, keineswegs zu: Denn so zwiespältig Paradies: Hoffnung auf sich alleine gestellt auch wirken mag, so gut gedeiht er im Kontext dieser denkwürdigen Trilogie.

★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen