Mittwoch, 22. Januar 2014

A Touch of Sin

In vier aufeinander folgenden, sich dramaturgisch weitestgehend nicht entscheidend kreuzenden Episoden – eine Struktur, die man im ostasiatischen Kino in ähnlicher Form etwa schon in Wong Kar-wais Chungking Express gesehen hat – erzählt der chinesische Regisseur Jia Zhangke (The World, Still Life, 24 City) in A Touch of Sin von den tief greifenden wirtschaftspolitischen Umwälzungen im modernen China und jenen grossen Teilen der Bevölkerung, welche in diesem blindwütig expandierenden Land das Nachsehen haben.

Der Film setzt ein in einer grauen Kleinstadt, die sich in Shanxi, Jias Heimatprovinz, um eine Kohlegrube herum gebildet hat; als Protagonist dient der hochschulgebildete Gewerkschafter Dahai (Wu Jiang). Vor gut zehn Jahren wurden die lokalen Erwerbszonen privatisiert und den Arbeitern wurde eine stattliche Gewinnbeteiligung versprochen. Doch das Geld wird nicht ausbezahlt; Fabrikboss und Bürgermeister lassen die Gewinne in die eigene Tasche fliessen, fahren ungeniert in Maseratis und Audis vor. Frustiert über die Passivität seiner Kameraden – die, entweder eingeschüchtert von den Schlägern der Chefetage oder in Sorge um das eigene Schmiergeld, lediglich darüber scherzen, der illegal erworbene Audi des Industriemagnaten sei doch "Kollektiveigentum" und dürfe somit nicht verkauft werden –, macht sich Dahai daran, gegen die unverhohlene Korruption vorzugehen.

Er verfasst eine Klageschrift, die er jedoch nicht nach Peking abschicken kann, da auf dem Umschlag die Postleitzahl fehle. Den nächsten Versuch startet er, als die versammelte Arbeiterschaft, in der Hoffnung, einen Mehl-Bonus zu erhalten, ihren "geliebten Chef" mit Gesang und Kotaus am Flughafen begrüsst: Dahai spricht den seinem neu erworbenen Privatjet entstiegenen Oligarchen auf die Missstände an und wird sogleich von einem Handlanger mit einer Schaufel verprügelt. Verletzt in seiner Ehre und seinem Stolz, greift er zuletzt zu seinem Gewehr; wie eine Figur aus einem Wuxia-Film (Jia erweist mit dem Titel seines Films dem Wuxia-Klassiker A Touch of Zen seine Reverenz) oder einem Corbucci-Western streift er in famos komponierten Bildern durch das Kohlegruben-Nest und rächt sich an seinen Peinigern.

Gewerkschafter Dahai (Wu Jiang) greift zur Waffe, um gegen die Korruption in seinem Dorf vorzugehen.
© filmcoopi


Diesen Feldzug, der, wie alle Episoden in A Touch of Sin, auf einem wahren Fall beruht, inszeniert Jia weder als marxistisch verklärten Triumph noch als ungeheuerliches Kapitalverbrechen. Vielmehr sieht er darin einen letztlich hilflosen Akt der Verzweiflung eines Mannes, der zwischen die Räder der kommunistischen Bürokratie und der in China um sich greifenden kapitalistischen Profitwirtschaft geraten ist. Maos Mythos der Kollektivherrschaft, so die Andeutung, wurde ersetzt durch die westliche Legende des privatwirtschaftlichen Erfolgs. Für Menschen wie Dahai hat sich aber kaum etwas geändert; sie bleiben gefangen in einem gesichtslosen System, in dem niemand zur Verantwortung gezogen kann und sie stets das Nachsehen haben.

Zugegeben, die Wucht dieser ersten 35 Minuten, welche auch als isolierter Kurzfilm – ein Genre, das Jia keineswegs fremd ist – hervorragend funktionieren würden, vermag A Touch of Sin im weiteren Verlauf nicht mehr einzufangen. Das hat allerdings weniger mit einem Makel in Jias starkem, verbittert-satirischem Drehbuch zu tun als mit der kontinuierlichen Abstraktion, die sein Film vornimmt. Dahais Geschichte lässt sich am leichtesten mit dem überspannenden Motiv des chinesischen Wirtschaftswandels verknüpfen; sie ist politischer, expliziter und abgeschlossener als alles, was folgt.

Da wäre etwa der Wanderarbeiter Zhou San (Wang Baoqiang), der mit seinem Motorrad auf der Suche nach Arbeit das Land durchquert und schliesslich zu seiner Frau am Stadtrand von Chongqing zurückkehrt. Zhou ist ein bizarres Produkt von Chinas ökonomischer Öffnung: Aus anonymen Menschenmengen sticht er dank seiner Chicago-Bulls-Pudelmütze heraus; zu seiner Pistole pflegt er eine enge Beziehung; kaltblütig erschiesst er jugendliche Wegelagerer; mit willkürlichen Raubüberfällen bricht er für kurze Zeit aus der Wanderarbeiter-Tristesse aus.

Zhou San (Wang Baoqiang) durchstreift China als Wanderarbeiter.
© filmcoopi
Ihm folgt Xiao Yu (Zhao Tao), eine Sauna-Rezeptionistin, deren Wut über die Unentschlossenheit ihres verheirateten Liebhabers – ein Szenario, das mitunter an In the Mood for Love erinnert – sich entlädt, als sie von neureichen Kunden angepöbelt wird, nach deren Auffassung der Satz "Wir haben Geld!" genügt, nach Belieben Frauen zur Prostitution zu zwingen. Der vierte von Jias Leidtragenden ist der knapp 20-jährige Xiao Hui (Luo Lanshan), ein Mitglied jener Generation, welche nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 geboren wurde und mit Chinas aufstrebender Drachen-Ökonomie aufgewachsen ist. Xiao entflieht einer ungerechten Doppelschicht in einer Fabrik und heuert in einem edlen Bordell-Hotel im südchinesischen Dongguan als Kellner an, wo er sich ins Escort-Girl Lianrong (Meng Li) verliebt.

Politik ist, anders als bei Dahais Kampf gegen die Windmühlen der korrupten Bürokratie, in diesen Miniaturen kein vordergründiger Akteur; oft liegt es beim Zuschauer zu ergründen, welche Verbindung Jia zwischen den einzelnen Vignetten sieht. Manche enthalten universelle Beobachtungen, so etwa jene Szene, in der Lianrong die neuesten Nachrichten von ihrem iPad abliest und Xiao sie bei jeder Geschichte dazu animiert, den Kommentar "Fick deine Mutter" zu hinterlassen. Jia zeigt eine global vernetzte Jugend, deren Mitsprachebedürfnis auf absurd anmutenden Prioritäten beruht. Auch der Umgang mit der eigenen Geschichte ist ein Thema, für das sich Jia interessiert: Auf dem Weg zur Arbeit trifft Xiao Yu auf einen Marktschreier, der seine Landsleute ins Zelt einer "traditionellen" Schlangen-Wahrsagerin locken will, während im Bordell von Dongguan die Edel-Huren zum Vergnügen ihrer Freier aus Taiwan und Hongkong, begleitet von der chinesischen Nationalhymne, in Militäruniformen aufmarschieren.

"In the Mood for Love": Xiao Yu (Zhao Tao) unterhält eine unbefriedigende Beziehung zu einem verheirateten Mann.
© filmcoopi
Doch A Touch of Sin handelt in seinem Kern, gerade in diesen abstrakteren Episoden, davon, wie tief Chinas ungezügeltes Wachstum bereits in die Gesellschaft eingedrungen ist: Man mag sich im internationalen Vergleich inzwischen mit den USA und der EU messen können, doch parallel dazu verlieren persönliche Bindungen an Bedeutung. Beziehungen werden durch das Eindringen der Wirtschaft in die Privatspähre vergiftet: Xiao Hui verdient nicht genug, um mit Lianrong eine Zukunft gestalten zu können; seine Mutter beschwert sich über die zu kleinen Beträge, die er in die Heimat schickt. Zhou San ist durch seine lange Abwesenheit zum Fremden in der eigenen Familie geworden. Jias Film erzählt von einem China, wie es heute existiert – ein Realismus, der ihm nun den Zorn der staatlichen Zensur eingetragen hat –, doch A Touch of Sin reicht auch über die Grenzen der Volksrepublik hinaus: Ob das System nun Kommunismus oder Kapitalismus heisst, ob Planwirtschaft oder unsichtbare Hand – die Macht liegt in der Hand der Reichen, Mächtigen und Korrupten. Womöglich sind Ost und West doch nicht so verschieden.

★★★★

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