Freitag, 13. September 2013

"Cesare deve morire" / "Vous n'avez encore rien vu"

Trotz der unübersehbaren Parallelen zwischen dem Kino und dem Theater – das Starsystem, die Erzählform, das Zuschauererlebnis – hat sich in der Filmgeschichtsschreibung über die Jahre hinweg die Meinung durchgesetzt, dass nicht das Bühnenstück die wichtigste Vorform zum narrativ eingesetzten bewegten Bild darstellt, sondern die Kultur der Jahrmarktsattraktion, dass im Kino das Spektakel die Handlung gebar.

Dennoch fungiert das Theater seit nunmehr 120 Jahren immer wieder als Quell der Inspiration für Filmemacher, oft als Material zur Leinwand-Adaption, hin und wieder aber auch als Konzept an sich – man denke an Louis Malles diesbezüglichen Meilenstein Vanya on 42nd Street. In diesem Sinn und Geist haben sich unlängst gleich drei Regisseure von Weltrang mit der Frage auseinandergesetzt, ob und wo sich Theater und Kino kreuzen. Während die italienischen Brüder Paolo und Vittorio Taviani (I sovversivi, Padre padrone, La notte di San Lorenzo), 82 respektive 84 Jahre alt, in Cesare deve morire indirekt zu ihren journalistisch-dokumentarischen Wurzeln zurückkehren, präsentiert der 91-jährige Franzose Alain Resnais (Hiroshima mon amour, L'année dernière à Marienbad) mit Vous n'avez encore rien vu ein Werk von raffinierter Vielschichtigkeit.

Es ist schwer zu sagen, wo in Cesare deve morire die Theaterverfilmung aufhört und die Dokumentation anfängt. Denn eigentlich erzählt der Film von einer Gruppe von Gefangenen – vorab Mörder, Drogenhändler und Mafia-Schergen – im Hochsicherheitstrakt des Römer Rebibbia-Gefängnisses, welche im Rahmen eines Theaterprojekts William Shakespeares Julius Caesar einstudieren. Die Prämisse ist echt, die Akteure ebenso. Gezeigt wird jedoch nicht – zumindest nicht explizit –, wie diese mit der kulturellen Herausforderung umgehen und im Laufe der sechsmonatigen Proben den anspruchsvollen Text meistern. Vielmehr inszenieren die Tavianis Cesare deve morire als hochgradig originelle Shakespeare-Adaption; der Zuschauer wohnt formvollendeten "Proben" bei, welche in Zellen, in Gängen, im Gefängnishof stattfinden und in denen die Darsteller mit Ausnahme kleiner persönlicher Vignetten und Soliloquien niemals aus ihren Rollen fallen.

Cäsar muss sterben: Die Gefangenen des Römer Rebibbia-Gefängnisses proben Shakespeares Julius Caesar.
© Camino
Viele Kritiker haben in ihren Rezensionen und Analysen Wert darauf gelegt, hierbei Realität und Fiktion voneinander zu trennen. Welche Proben sind echt, welche gestellt? Werden Paolo und Vittorio Taviani den Insassen von Rebibbia wirklich gerecht, wenn sie ihnen innere Monologe andichten? Der Drang, diese Fragen zu stellen, ist verständlich, aber für die Beurteilung des Films letztlich nicht hilfreich. Über die Grenze zwischen (scheinbarer) Wahrheit und Inszenierung lässt sich genauso lange diskutieren wie darüber, ob Julius Cäsar (hier gespielt von Giovanni Arcuri, dessen eindrucksvolle Präsenz einen schnell an James Gandolfinis Tony Soprano denken lässt) überhaupt jemals "Et tu, Brute?" gesagt hat.

Es ist bezeichnend, dass der Film seinen schwächsten Punkt erst dann erreicht, als er den zu lebenslanger Haft verurteilten Cosimo Rega (im Stück Brutus' Mitverschwörer Cassius) die allzu offensichtliche Linie "Seitdem ich weiss, was Kunst ist, ist diese Zelle zum Gefängnis geworden" in die Kamera sprechen lässt – der einzige Moment, in dem die Tavianis auf jegliche Ambivalenz verzichten.

Ansonsten aber ist Cesare deve morire eine der besten Shakespeare-Verfilmungen der vergangenen Jahre, ein faszinierendes Kunstwerk, in dem die Trennlinien zwischen Theater und Film sowie Fiktion und Wirklichkeit unablässig verwischt werden, in dem Kunst als höhere Wahrheit verstanden wird. Getragen wird dieser herausragende, zutiefst menschliche Film von seinen grandiosen Laien-Darstellern – allen voran Salvatore Striano (Brutus) und Antonio Frasca (Marcus Antonius) –, deren intensives Spiel Shakespeares Dialogen über Mord und die ihn rechtfertigende Moral spannende neue Dimensionen verleiht. So sieht lebendiges, "atmendes" Theater aus.

Alain Resnais' Vous n'avez encore rien vu ist im Vergleich zwar weniger zugänglich, aber nicht weniger spannend. Mit 13 Schauspielern, von denen die meisten bereits einmal unter ihm agierten – viele davon in Les herbes folles von 2009 –, vermischt er auf der Leinwand zwei Werke des französischen Dramatikers Jean Anouilh: Eurydice (1941) und Cher Antoine ou l'Amour raté (1969).

Passend zu Resnais' Hintergrund als Nouvelle-Vague-Intellektueller, steht der "Tod des Autors" nach Roland Barthes, buchstäblich und metaphorisch, am Anfang von allem. Der Film beginnt mit einer Serie von Anrufen, in welchen der sich selber spielende Cast visuell vorgestellt – Mathieu Amalric (hervorragend), Pierre Arditi (hervorragend), Sabine Azéma, Jean-Noël Brouté, Anne Consigny, Anny Duperey, Hippolyte Girardot, Gérard Lartigau, Michel Piccoli, Michel Robin, Jean-Chrétien Sibertin-Blanc, Michel Vuillermoz und Lambert Wilson – und, innerhalb des filmischen Rahmens, über die Situation aufgeklärt wird: Der renommierte Bühnenregisseur Antoine d'Anthac (Denis Podalydès) sei gestorben; überbracht wird die Mitteilung von seinem Bediensteten (Andrzej Seweryn), welcher die trauernden Mimen sogleich zur Testamentsvollstreckung bittet.

Angekommen in d'Anthacs Haus, wird den Besuchern, welche alle einst in verschiedenen Eurydice-Inszenierungen des Verstorbenen mitwirkten, ein Video des Meisters abgespielt, der sie darum bittet, sich die Aufnahme einer neuen Interpretation eben jenes Anouilh-Stücks anzusehen (aufgeführt von der Gruppe La Compagnie de la Colombe, entstanden unter der Regie von Bruno Podayldès).

Der physische Tod seines "Autors" (Eurydice wird konsequent als Schöpfung d'Anthacs behandelt) befreit demnach den Text. Ungebunden durch die Autorität seines Verfassers, wird das dezent surreale, nichtsdestoweniger aber relativ geradlinige Drama zu einem mehrdimensionalen Raum. Denn unter dem Eindruck der modernistischen Colombe-Adaption fallen die versammelten Darsteller, jung und alt, in ihre Rollen zurück: Es beginnt eine Meditation über das Verhältnis zwischen Leben und Literatur, über den Fluss der Zeit und den Platz des Menschen darin (ohnehin ein für Resnais typischer Topos).

Resnais, der vehement verneint, bei Vous n'avez encore rien vu handle es sich um sein cineastisches Testament (was Barthes' Theorie von der Trennung von Werk und Autor ebenfalls entspricht), schafft ein komplexes Kontinuum von Wahrheits- und Handlungsebenen, in dem etwa das Liebespaar Eurydice und Orphée vervielfacht auftritt, einerseits als bestehende Figuren aus der griechischen Mythologie, andererseits als Colombe-Schauspieler (Vimala Pons, Sylvain Dieuaide) auf d'Anthacs Heimkino-Leinwand und obendrein als verschiedenaltrige frühere Besetzungen im Zuschauerraum (Pierre Arditi und Lambert Wilson als Orphées, Sabine Azéma und Anne Consigny als Eurydices).

Lebendiges Theater: Sabine Azéma (Eurydice) und Pierre Arditi (Orphée) fallen in ihre alten Rollen zurück.
© Frenetic Films
Wie Shakespeares Dialoge über gerechtfertigten Mord in Cesare deve morire durch ihren Gebrauch vor einem Gefängnis-Hintergrund an Tiefe zu gewinnen scheinen, so erhalten Anouilhs philosophische Exkurse über das Gedächtnis des Unbelebten, von Wänden, Räumen und Objekten, und dessen Implikationen zusätzliches Gewicht, wenn sie auf drei Generationen von Schauspielern ausgeweitet werden, die Inkarnationen von Charakteren mimen, welche ihrerseits bereits über 2000 Jahre alt sind.

Virtuos arbeitet Resnais hierbei mit Split-Screen, Wiederholung, Parallelmontage und optischen Mitteln. So zieht er etwa einen deutlichen visuellen Kontrast zwischen "seiner" Eurydice und jener der Compagnie de la Colombe. Während die von Bruno Podalydès geleitete Aufführung in ausgebleichten Farben und klaren Konturen gehalten ist, macht er selber fast schon inflationär von der Weichzeichnung Gebrauch. Alte Filmschule trifft auf moderne Retro-Ästhetik; der Stil markiert den Altersunterschied. Als ebenso faszinierend erweist sich die brillante Austattung in beiden Adaptionen: Die Colombe-Truppe erzählt Anouilhs Geschichte in einer alten Fabrikhalle; Resnais' Darsteller in d'Anthacs Anwesen sowie einer Fantasiewelt, welche beide grundsätzlich Theaterbühnen zu sein scheinen. Die Inversion ist komplett: Die Filmschauspieler visionieren eine in einem denkbar ungewöhnlichen Rahmen aufgeführte Theaterinszenierung in einem Kino, während sie selber für ein reales Kinopublikum Theater spielen.

Mit diesem verschachtelten, oft scheinbar widersprüchlichen Konzept bleibt sich Resnais durchaus selber treu. Vous n'avez encore rien vu ist zweifellos ein Film, wie man ihn nur nach einer langen, distinguierten Karriere drehen kann, eine Reflexion über die unendlich variable Natur von gespielter Fiktion – und ihre unbegrenzten Möglichkeiten. Das kann mitunter ein wenig überborden; auch das abgehackte Anti-Happy-End vermag nicht vollends zu überzeugen. Doch wie den Tavianis ist es auch Resnais letztendlich gelungen, das Subgenre der Theaterverfilmungen in aufregende neue Richtungen zu expandieren.

Denn das Theater, wenngleich kein direkter Vorfahr des Kinos, ist, wie Vous n'avez encore rien vu und Cesare deve morire zeigen, dennoch eng mit dem Lichtspiel-Spektakel verbunden – als ewige Inspiration zum Einen, als geistesverwandte Kunst zum anderen. Die Camera magica fängt das Leben ein in seiner ganzen Vielfalt; das Theater nimmt sich dessen tiefere Wahrheiten in stilisierter Form vor. Beide bewegen sich frei in diesem Spektrum, bald näher an der Realität, bald näher an der reinen Metapher. Und manchmal treffen sie sich. Die Resultate lassen sich sehen.

Cesare deve morire – ★★★★
Vous n'avez encore rien vu – ★★★★

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