Donnerstag, 7. März 2013

Sightseers

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Der britische Humor, ein zentrales Element der nationalen Identität, ist längst zum international bekannten kulturellen Stereotypen geworden. Diesen dreht Regisseur Ben Wheatley in seinem neuen Film, dem zynischen Roadmovie Sightseers, nun genüsslich durch den Fleischwolf.

Seit drei Monaten sind Mauerblümchen Tina (Co-Autorin Alicia Lowe) und Möchtegern-Literat Chris (Co-Autor Steve Oram) ein Paar. Die beiden schweben nach wie vor auf Wolke sieben – trotz der missbilligenden Kommentare von Tinas Mutter – und beschliessen, zu einer einwöchigen Wohnwagentour aufzubrechen. Von den heimischen Vorstädten Birminghams aus soll es nach Derbyshire und Yorkshire gehen, wo die touristischen Verlockungen alles andere als dünn gesät sind: Es stehen viktorianische Viadukte, Tropfsteinhöhlen, keltische Steinkreise sowie Tram- und Bleistiftmuseen auf dem Programm. Doch die Freude an der Reise wird durch unhöfliche Proleten, nervige Teenager und arrogante Nachbarn im Wohnwagenpark getrübt. Bald entwickeln Tina und Chris ihre eigenen, gewalttätigen Methoden, mit den Störungen umzugehen.

John Major, der ehemalige Premierminister Grossbritanniens, definierte sein Land einmal als "Ort der langen Schatten auf Cricket-Feldern, des warmen Biers, der uneinnehmbaren Vororte, der Hundeliebhaber, der alten Jungfern, die mit ihren Fahrrädern den Morgennebel durchbrechen". Es ist eine nostalgische Perspektive auf ein Land, das sich seit Jahren in einer Identitätskrise zu befinden scheint: Sind Fish and Chips wirklich englischer als Curry? Ist es möglich, sich guten Gewissens auf das sprachliche Erbe William Shakespeares zu berufen, wenn im United Kingdom heute mehr Sprachen als in jedem anderen europäischen Land gesprochen werden? Dass im Angesicht von Globalisierung und kulturellem Umbruch sprichwörtliche Tugenden wie Höflichkeit und Fairplay oft nur noch Fassade sind, wurde im jüngeren englischen Kino bereits mehrfach abgehandelt, etwa in Stephen Frears' Tamara Drewe. Ben Wheatley zieht diesen Ansatz in Sightseers jedoch weiter und zeigt: Mittlerweile sind jene Markenzeichen nicht einmal mehr eine Fassade. Aus den herausragenden Charaktereigenschaften sind unübersehbar leere Floskeln und Rituale geworden.

Es ist was faul im Staate England: Chris (Steve Oram) und Tina (Alicia Lowe) stossen auf ihrer Wohnwagenreise bald an ihre Grenzen.
Wheatley stellt dieser zynischen Dekadenz eines Volkes, das zur Karikatur seiner eigenen
Stereotypen geworden ist, eine geradezu penetrant britische Kulisse entgegen. Die Reise von Chris und Tina führt sie durch das Herz Britanniens – ein veritables "Heart of Darkness" –, wo der Sommer grau ist, wo die Ortschaften Redditch, Kidderminster, Bromsgrove, Crich und Ribblehead heissen, wo jedem Alltagsgegenstand ein Museum gewidmet ist, wo Mittel- und Arbeiterklasse via Motorway das eigene Land erkunden. In dieser Umgebung sind die beiden Hauptfiguren Barbaren unter Barbaren, die sich einzig durch ihren zunehmend an Bonnie und Clyde erinnernden Fatalismus von der Masse abzuheben scheinen. Motivation schimmert nur sporadisch hindurch – als wäre er ein General des einstigen Empires, murmelt Chris "I just want to be feared and respected"; ansonsten inszeniert Wheatley sie als Vertreter eines düstereren, archaischeren Englands, wo Konflikte mit Waffen gelöst werden, unterlegt mit William Blakes Gedicht "And Did Those Feet in Ancient Time".

Doch obwohl Sightseers mit seinem rabenschwarzen Humor und seinen die Grenzen des guten Geschmacks immer wieder aufs Neue auslotenden Bildern – der Einfluss der Anarcho-Komikertruppe The League of Gentlemen ist spürbar – durchgehend zu faszinieren weiss, so verfehlt es Wheatley, es seinen Vorbilderwerken, Lindsay Andersons Doppelschlag If... und O Lucky Man!, in Sachen Wucht und Aussagekraft gleichzutun. Zu ziellos irrt die Handlung umher, zu viel will er aufgreifen und zerlegen.Was bleibt, ist ein provokanter Angriff auf die Sehgewohnheiten des Publikums, ein hintersinniges Porträt eines postmodernen Grossbritanniens. Doch nebst alledem scheint Laurie Roses Kameraarbeit sagen zu wollen: England ist so schön wie eh und je. Nur die Menschen sind verrückt geworden.

★★★

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