Donnerstag, 19. Juli 2012

The Woman in the Fifth

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mysteriöse Handlungen und offene Enden, gekonnt eigesetzt, führen unter Zuschauern zu anregenden Diskussionen und fruchtbaren Reflexionen über das Gesehene. The Woman in the Fifth setzt diese Elemente weniger gekonnt ein – man erhält einen guten, aber hochgradig frustrierenden Film.

Der amerikanische Literaturprofessor und Schriftsteller Tom Ricks (Ethan Hawke) reist nach Paris, um seine sechsjährige Tochter Chloé (Julie Papillon) zu besuchen. Doch seine Ex-Frau Nathalie (Delphine Chuillot) will ihn nicht sehen und verbietet ihm jeglichen Kontakt mit Chloé. Als Tom kurz darauf in einem Bus einschläft, wird ihm sein ganzes Gepäck gestohlen. Verzweifelt begibt er sich in ein schäbiges Hotel und bittet darum, dort übernachten zu dürfen. Der Besitzer (Samir Guesmi) bietet ihm einen Deal an: Wenn er eine seltsame, aber einfache Arbeit verrichtet, darf er ein Zimmer haben. Tom soll sich fortan sechs Stunden pro Nacht in einen Raum setzen, einen Bildschirm im Auge behalten und jene, welche die korrekte Losung sagen können, hereinlassen. Dafür bekommt er jeweils 50 Euro. Auf einer Party lernt Tom zudem die geheimnisvolle Witwe Margit (Kristin Scott Thomas) kennen, mit der er eine Affäre beginnt.

Der polnische Regisseur Paweł Pawlikowski, der mit Last Resort (2000) und My Summer of Love (2004) international auf sich aufmerksam machte, gibt sich in seinem vierten Spielfilm alle Mühe, dem Literatur-Motiv von Douglas Kennedys Romanvorlage gerecht zu werden. Der Zuschauer sieht sich in The Woman in the Fifth in die Rolle eines beobachtenden Schriftstellers versetzt: Ryszard Lenczewskis Kamera verweilt auf Details; sie folgt den heimlichen Blicken, die Tom seiner Tochter auf dem Spielplatz zuwirft; ihr Blick schweift von Objekt zu Objekt; das immer wieder eingesetzte Teleobjektiv verdichtet das Geschehen. Toms enigmatische Reise durch das Paris der Noveaux Riches einerseits, dem der Immigranten aus Nordafrika und Osteuropa andererseits – vom Postkarten-Paris bleibt lediglich der Eiffelturm übrig, stets hinter einem dunstigen Schleier verborgen –, wird zu einer gediegen prosaischen Reise in seinen angeschlagenen Geist.

Der Schriftsteller Tom (Ethan Hawke) trifft in Paris die geheimnisvolle Übersetzerin Margit (Kristin Scott Thomas).
Die literarischen Bezüge sind dabei stets präsent. Während der subtil spielende Ethan Hawke durch die ihm fremde Stadt irrt, schreibt er an Hart Crane angelehnte Briefe, in denen er einen utopischen Wald, eine romantische Gegenwelt, entwirft; er arbeitet in einem anonym wirkenden, geradezu kafkaesken Komplex, dessen Geheimnisse hinter verschlossenen Türen liegen; er findet in Margit eine an die Frauengestalten klassischer britischer Schauerromane erinnernde Partnerin. Pawlikowski beruft sich auf das Bild der Literatur als Ausprägung des Wahnsinns. Dabei gelingt es ihm hervorragend, mit Bildinhalt und -komposition zu spielen, und er schafft eine faszinierende Atmosphäre des Rätselhaften und Poe'schen Grauens. Doch das sorgfältig aufgebaute Konstrukt fällt letztendlich mit der antiklimaktischen "Auflösung" in sich zusammen. Das blosse Fehlen einer Erklärung der Vorgänge ist nicht das Problem des Films – im Gegenteil, eine eindeutige Auflösung wäre äusserst unstimmig gewesen –; vielmehr ist es die schiere Einfallslosigkeit des Endes. Ein klischeehaftes, nur begrenzt aussagekräftiges Schlussbild genügt auch als offener Endpunkt nicht. Die Erzählung wird gestoppt, aber nicht beendet. Zurück bleibt eine frustrierende Leere.

★★

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