Sonntag, 9. November 2014

Mr. Turner

Gerade noch schien Mike Leighs Reputation als Filmemacher in Stein gemeisselt: Als scharfer Beobachter der britischen Gesellschaft wird er der Filmgeschichte in Erinnerung bleiben, als Schöpfer feinfühliger Sozialdramen wie Life Is Sweet, Secrets & Lies, Vera Drake oder Another Year. Seine Figuren sind mitten aus dem Leben gegriffen, ihre Sorgen und Probleme sind nicht selten den Zuschauern wohlbekannte Alltäglichkeiten; wie bei Ken Loach erkennen sich in seinen Filmen Grossbritanniens Mittel- und Arbeiterklassen wieder.

Ein zweieinhalbstündiges Porträt eines englischen Nationalmalers passt da eigentlich kaum ins Konzept. Doch was wie ein radikaler Bruch Leighs mit seiner bisherigen Filmografie – Ausnahme: das Musical Topsy-Turvy – anmuten mag, hat mehr mit seinem angestammten Terrain zu tun als sich im ersten Augenblick vermuten lässt, stellt aber zugleich auch einen faszinierenden Aus- und Aufbruch eines souveränen Altmeisters dar. 

Mr. Turner erzählt in üppigen 149 Minuten von den letzten 23 Jahren im Leben Joseph Mallord William Turners (1775–1851), dem vielleicht bedeutendsten bildenden Künstler, sicherlich dem wichtigsten Maler der Romantik, den England hervorgebracht hat. Schon in jungen Jahren als enormes Talent gefeiert, jahrzehntelang der von Kollegen sowohl bewunderte als auch beniedene Liebling von Adel und Königshaus, hoch geachtet als begnadeter Landschaftsmaler, wandte sich der verschrobene Einzelgänger gegen Ende seines Lebens einem abstrakteren Stil zu, der ihm im frühen viktorianischen Zeitalter nichts als Spott eintrug. "He's clearly losing his eyesight", höhnt Prince Albert (Tom Wlaschiha) beim Gang durch die Royal Academy of Arts; "A dirty yellow mess", giftelt Queen Victoria (Sinead Matthews) die Nase rümpfend.

Leighs Film ist nicht zuletzt eine Hommage an einen eigensinnigen Künstler, der sich Zeit seines Lebens eisern weigerte, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen und sich selbstzufrieden in seinem Ruhm zu sonnen. Anders als etwa sein Zeitgenosse William Wordsworth, der Lyrik-Gigant der englischen Romantik, verwandelte sich Turner (Timothy Spall) nicht von einem einstigen Ikonoklasten in ein lebendes Monument, das in jedem neuen Ansatz, jedem Versuch der Innovation ein Sakrileg festzustellen glaubte. Im Gegenteil: Turner setzte mit seinem virtuosen Spiel mit dem Licht, das in seinen späteren Bildern feste Formen verschwimmen liess, sein eigenes künstlerisches Erbe aufs Spiel – im Namen der eigenen ästhetischen Vision.

Der Ikonoklast: J. M. W. Turner (Timothy Spall, rechts) wird in ganz Grossbritannien als genialer Maler bewundert – bevor er eine neue Richtung einschlägt.
 © Pathé Films AG
Und diese, das wird in Mr. Turner offensichtlich, entwickelte sich parallel zu den Umwälzungen, die sich zu Turners Lebzeiten in seiner Heimat abspielten. Die Glorie der idyllischen georgianischen Epoche wich der industriellen Pracht des Viktorianismus; eines der populärsten Bilder Turners zeigt die Abschleppung des Kriegs-Segelschiffs Temeraire, das Admiral Nelson in der Schlacht bei Trafalgar grosse Dienste leistete, durch ein Dampfboot. Durch die pittoresken Landschaften, deren Wiedergabe auf Leinwand Turner zu einer wohlhabenden Berühmtheit machten, fuhren nun plötzlich pechschwarz rauchende Lokomotiven; während sich London zum dunstigen Kaminschlot-Moloch von Charles Dickens wandelte, verabschiedete sich Turners Kunst von klaren Konturen und nahm eine Gestalt in, die wenig später die französischen Impressionisten inspirieren sollte.

Dies ist denn auch der Berührungspunkt von Leighs "konventionelleren" Sozialdramen und seiner episodisch aufgezogenen Künstlervita: Sie zeigt nicht nur ein Land, sondern auch eine Gesellschaft im Wandel. Lesley Manville – aus Another Year noch in bester Erinnerung – taucht als Mary Somerville auf, eine der wenigen bekannten Wissenschaftlerinnen in einer Ära, der derartig aktive Frauen hochgradig suspekt waren. Auch anderswo ist der Übergang zur Moderne spürbar, etwa in Turners Gespräch mit dem zweiten Ehemann seiner Geliebten Sophia Booth (Marion Bailey), welcher vor der Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire traumatische Jahre als Zimmermann auf einem Sklavenschiff zugebracht hatte.

Was Leigh mit dem meisterhaft inszenierten Mr. Turner letztendlich gelungen ist, ist eine zu keinem Zeitpunkt professiorial wirkende Kontextualisierung von Turners Leben und Wirken. Mit wundervoller Eleganz verbindet der Film das Private mit dem Öffentlichen; vom Gang von William Turner Senior (Paul Jesson) über einen Londoner Markt bis zu jenen Szenen, deren Fokus sich plötzlich von Turner auf sein Umfeld verschiebt, welches er – wie Leigh – stets mit der Aufmerksamkeit des Chronisten begutachtet.

Der Künstler: Turner in Aktion, grandios in Szene gesetzt von Regisseur Mike Leigh und Kameramann Dick Pope.
© Pathé Films AG
Beeindruckende Sorgfalt lässt der Film auch in seiner Darstellung der Periode zwischen 1828 und 1851 walten – diese Art der Verortung muss das Publikum selber vornehmen, da Leigh auf das Einblenden von Jahreszahlen verzichtet. Nicht nur wird der Zeitgeist mit Kostümen und Ausstattung zum Leben erweckt; Leigh hat es in seinem Drehbuch ausgezeichnet verstanden, das Ganze mit einer authentischen, minutiös ausgerabeiteten Sprache auszuschmücken. Vielleicht das Einzige, was in diesem reichen Zeitbild zu wünschen übrig lässt, ist Turners Verhältnis zu den Frauen in seinem Leben. Ausser seinem späten häuslichen Glück mit Mrs. Booth bleiben seine anderen Beziehungen – darunter mit seiner langjährigen Haushälterin Hannah (Dorothy Atkinson) und deren Tante (Ruth Sheen), mit der er um 1800 zwei Töchter gezeugt hatte – eher unklar umrissen.

Doch dies sind geringfügige Einwände zu einem insgesamt magistralen Film, der von einem grandiosen Timothy Spall getragen wird, welcher Turners sauertöpfische Grunz- und Grummellaute virtuos als Ausdrücke tief liegender Gefühle zu interpretieren weiss. Vollendet wird das Ganze von Kameramann Dick Pope, der Leighs dezent subtile Vision in betörende, von Turner'schem Licht durchflutete Bilder übersetzt. Mr. Turner ist eine famose Verneigung eines grossen Künstlers vor dem anderen.

★★★★★

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