Mittwoch, 8. August 2018

303

Sommer in Berlin, Semesterende für die Biologiestudentin Jule (Mala Emde) und den Politologiestudenten Jan (Anton Spieker). Bleiben wollen beide nicht: Sie ist ungewollt schwanger und hat gerade eine Prüfung in den Sand gesetzt; er hat sein Stipendium nicht bekommen und weiss nicht, wie es nun weitergehen soll. Sie setzt sich in ihr klappriges Wohnmobil – Modell Hymer 303 – und bricht nach Portugal auf, um dort mit ihrem Freund über ihr ungeborenes Kind zu sprechen; derweil Jan nach Bilbao trampen will, um endlich seinen leiblichen Vater kennen zu lernen.

Hans Weingartner kennt man als systemkritischen Filmemacher: Werke wie Das weisse Rauschen (2001), Die fetten Jahre sind vorbei (2004), Free Rainer – Dein Fernseher lügt (2007) und Die Summe meiner einzelnen Teile (2011) sind geprägt von einem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus und bürgerlichen Institutionen. 303 mag vorab eine sommerlich leichte Roadmovie-Romanze sein, dreht sich aber dennoch um die Themen, die Weingartner schon immer umtrieben.

Denn von dem Moment an, wo Jule den an einer Raststätte gestrandeten Jan in ihren Camper einsteigen lässt, lässt der Regisseur und Drehbuchautor sie ausschweifende Gespräche über ihre unterschiedlichen Weltanschauungen führen. Jan sieht sich selber als Rationalist; seiner Meinung nach ist der Kapitalismus das einzige ehrliche System, da er dem "natürlichen" Konkurrenzdenken der Menschen Rechnung trägt. Jule hingegen glaubt an das Gute im Menschen: Kooperation statt Wettkampf, Fortschritt durch Solidarität, "Survival of the fittest" statt "Survival of the strongest".

303 gibt diesen freundschaftlichen Diskussionen viel Raum und setzt sich vor allem zu Beginn – bevor Jan sich von Jules Argumenten langsam überzeugen lässt – aufrichtig mit den Einwänden gegen Jules Ideologie auseinander. Fast hat man das Gefühl, einer romantisiert produktiven Debatte zwischen einem (deutschen) Sozialdemokraten und einer Sozialistin beizuwohnen. Untermalt ist das Ganze mit liebevollen Sticheleien, träumerischen Indie-Songs und wunderschönen Ansichten der Orte, welche die beiden auf ihrer Reise in Richtung Westen aufsuchen.

Immer der Nase nach: Jan (Anton Spieker) und Jule (Mala Emde) fahren im Wohnmobil gen Westen.
© Filmcoopi
Tatsächlich ist letzterer Aspekt auch die interessanteste politische Aussage des Films – interessanter jedenfalls als die mit der Zeit etwas repetitiven, bisweilen auch ziemlich oberflächlichen Exkurse über Menschenaffen und die biologischen Hintergründe des Küssens. Denn die Roadtrip-Romantik von 303 liegt nicht zuletzt in seiner Darstellung eines Europas der offenen Grenzen.

Weingartner zelebriert das Ideal des vereinigten Kontinents, dessen Grenzen passierbar sind. Hier gibt es keine Abschottungsrhetorik, keine Forderungen nach schärferen Trennlinien zwischen den Nationen. Jule und Jan halten an keinem Zoll; schlichte Verkehrsschilder kündigen ihren Grenzübertritt an, was die beiden – aufgewachsen mit der europäischen "Grenzenlosigkeit" – jeweils mit einem High-Five quittieren. Dank ihrer Sprachgewandtheit ist die Kommunikation nie ein Problem. Es ist der Traum der jugendlichen Freiheit, unterlegt mit politischer Haltung.

Trotzdem hält 303 seine Ansprüche niedrig, was zwar einerseits lobenswert ist, andererseits aber auch etwas enttäuscht. In gut zwei Stunden erzählt der Film eine sympathische, trotz der langen Gespräche etwas seichte Liebesgeschichte, die auch in 90 Minuten gepasst hätte. Für Unterhaltung ist gesorgt; die grossen Emotionen bleiben aus, auch weil die beiden Protagonisten, von Mala Emde und Anton Spieker hervorragend gespielt, stets Kunstfiguren bleiben – Mittzwanziger-Millennials, souffliert von einem 47-Jährigen.

★★★

1 Kommentar:

  1. By Jove, "souffliert von einem 47-Jährigen"! How is that the most artful description to ever have been, Alan??

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