Dienstag, 12. Oktober 2021

Memoria

Eine Frau (Tilda Swinton) liegt nachts in ihrem Bett, tief schlafend. Sie rührt sich nicht, ebenso wenig die Kamera. Die Sekunden verstreichen, vielleicht sogar eine Minute oder zwei. Zeit verliert im Kino ja bekanntermassen an Bedeutung, gerade in den Werken des thailändischen Slow-Cinema-Meisterregisseurs Apichatpong Weerasethakul, dessen neuester Wurf, Memoria, von diesem Bild eingeführt wird. Lange, starre Aufnahmen, mal von bewegungslosen Menschen, mal von stillen Naturszenerien, mal von bewegungslosen Menschen in stillen Naturszenerien gehören zu seinen stilistischen Markenzeichen.

Doch dann wird die Frau abrupt aus dem Schlaf – und das Publikum aus seiner Anfangstrance – gerissen: Ein dumpfer Knall, ein unheimliches, tiefes "Thwock!", setzt der nächtlichen Stille ein Ende. Die Frau, eine im kolumbianischen Bogotá lebende britische Botanikerin namens Jessica, lauscht in die Nacht hinaus, steht auf, geistert durch ihre Wohnung, findet nichts. Das Geräusch, das Jessica später mit dem "einer riesigen metallenen Kugel, die in einen tiefen, von Meerwasser umgebenen Brunnen fällt", vergleichen wird, ist ein Jump-Scare in Reinform: Sein plötzliches Auftreten erschreckt, sein irrealer Klang beängstigt, das Fehlen einer Erklärung verunsichert – sowohl das Publikum als auch Apichatpongs Protagonistin.

In der Folge wird Jessica den Knall immer und immer wieder hören, anscheinend unabhängig von der Tageszeit und ihrem Aufenthaltsort. Mithilfe des geheimnisvollen Tontechnikers Hernán (Juan Pablo Urrego) versucht sie, ihn am Computer zu rekonstruieren. Als sie eine befreundete Anthropologin (Jeanne Balibar) auf eine Exkursion aufs Land begleitet, erscheint ihr das Geräusch am Ufer eines gemütlich plätschernden Bachs gleich mehrmals; kurz darauf schliesst sie eine schicksalhafte Bekanntschaft mit einem exzentrischen Fischer (Elkin Díaz), der auch Hernán heisst.

Apichatpongs Filmografie, von Tropical Malady (2004) bis Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (2010), ist geprägt von Auseinandersetzungen mit dem kaum Fassbaren, mit emotionalen Verbindungen zwischen Individuen, mit dem metaphysischen Bezug des Menschen zur Natur. Folgerichtig sind es vor allem Geräusche und andere unsichtbare Schwingungen, die Apichatpong hier umtreiben. Es sind Zufallsbegegnungen und die daraus resultierenden Gespräche, die Jessica auf ihrer Suche nach dem Ursprung ihrer Schlaflosigkeit voranbringen; doch verstehen kann sie ihre Lage erst, als sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Welt, die sie umgibt, schenkt.

Jessica (Tilda Swinton) begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung eines mysteriösen Knalls.
© EF NEON / © Sandro Kopp / © Kick the Machine Films, Burning, Anna Sanders Films, Match Factory Productions, ZDF-Arte and Piano

Der mysteriöse Knall, die ohne ersichtlichen Grund ausgelösten Autoalarme, das Stimmengewirr auf einem Universitätscampus, ein spontanes Jazzkonzert, der rauschende Wind in den Bäumen, das Brüllaffen-Geschrei aus dem Urwald, die Stimmen aus einer anderen Zeit, an die sich der ältere Hernán zu erinnern scheint: Diese omnipräsente Klangkulisse, brillant konzipiert vom Sounddesign-Team um Akritchalerm Kalayanamitr und Javier Umpierrez, ist, in Apichatpongs Vision, so etwas wie der Atmungsprozess des lebenden Planeten Erde.

Und was lebt, hat eine Geschichte, ein Erinnerungsvermögen, sowohl ein stoffliches als auch ein spirituelles: Jessica lässt sich von Jeanne Balibars Anthropologin 6'000 Jahre alte menschliche Skelette zeigen, die ein Tunnelbauprojekt zutage gefördert hat. Hernán wiederum zeigt ihr einen Stein, der, so der stille Fischer, die Spannung eines längst vergangenen Konflikts in sich trage.

Memoria spielt am Schnittpunkt von Wissenschaft, Esoterik und Naturphilosophie – dem schaurigen, vielleicht auch ein wenig tröstlichen Gedanken, dass der Mensch als Individuum nicht viel mehr ist als ein empfindungsfähiger Klumpen organischer Materie, eine winzige Ausbeulung im allumfassenden Erdorganismus, die früher oder später in ihre molekularen Einzelteile zerfallen wird. Der Geist wird sterben, die Bausteine werden überleben, mitsamt all den Sinneseindrücken, die seit Anbeginn der Zeit auf sie eingewirkt und sich auf der subatomaren Ebene eingebrannt haben.

Im Grunde versucht Apichatpong nichts weniger, als die Idee zu visualisieren, dass nichts im Universum im Nichts verpufft – aber dass es zugleich unmöglich ist, sich Zugang zu diesem kosmischen Gedächtnis verschaffen. Es gilt, sich für diese Weltanschauung und ihre entschleunigte, zunehmend abstrakter werdende Inszenierung zu öffnen. Die Belohnung ist eine faszinierende Begegnung mit dem Unbeschreiblichen.

★★★★

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