Sonntag, 27. März 2016

Mustang

Noch bevor das Regiedebüt von Deniz Gamze Ergüven beim letztjährigen Filmfestival von Cannes an der Quinzaine des Réalisateurs zu sehen war, hatte die türkisch-französische Filmemacherin eine feste Vorstellung davon, was für einen Effekt der Film auf das internationale Publikum haben würde – nämlich gar keinen: "Am Dienstag zeigen wir den Film, am Mittwoch reden wir mit der Presse, am Donnerstag hat man uns vergessen."

Doch es kam anders: Mustang gewann an der Croisette den Europa Cinemas Label Award, startete erfolgreich in den französischen Kinos, machte weltweit die Festival-Runde, gewann vier Césars und wurde für den Fremdsprachen-Oscar nominiert – die märchenhafte Geschichte vom unerwarteten Arthouse-Publikumsliebling ist perfekt. Was das Ganze noch besser macht: Das zeitgemässe feministische Märchen hat sich alle Ehren redlich verdient.

Zu einer Zeit, in der in der Türkei die Medienfreiheit eingeschränkt und der Ton in den Diskussionen um die Gleichstellung der Frauen unter religiösem Einfluss wieder schärfer wird, erhält ein Film wie Ergüvens Debüt besondere Resonanz. Die Geschichte der fünf verwaisten Schwestern Lale (Güneş Şensoy), Sonay (İlayda Akdoğan), Selma (Tuğba Sunguroğlu), Nur (Doğa Doğuşlu) und Ece (Elit İşcan), die in der anatolischen Provinz von ihrem Onkel Erol (Ayberk Pekcan) und ihrer Grossmutter (Nihal Koldaş) auf frühe Zwangsheiraten vorbereitet werden, ist sowohl als Protest gegen das Patriarchat als auch als Parabel auf die schrittweise Beschneidung der individuellen Freiheiten in Erdoğans Türkei zu verstehen.

Letzteres lässt sich gerade in der Lakonie erkennen, mit der Ergüven und Co-Autorin Alice Winocour das persistente Diktatur der älteren Generation in Szene setzen: Die Teenager-Mädchen spielen mit Jungen in ihrem Alter am Meer? Erol verriegelt die Türen zum Haus und schickt seine Nichten zum Jungfräulichkeitstest. Die Fünf fahren unter Führung Lales, der Jüngsten, zu einem Fussballspiel? Die Gartenmauern werden erhöht und potenzielle Ehemänner eingeladen. Lale schleicht sich ins Freie, um sich vom Arbeiter Yasin (Burak Yiğit) das Autofahren beibringen zu lassen? Erol vergittert die Fenster. Je extremer die Bestrafung, desto rebellischer die darauf folgende Aktion – so wird äusserst subtil illustriert, welche Folgen unverhätlnismässige Machtausübung haben kann.

Die Schwestern Lale (Güneş Şensoy, rechts), Nur (Doğa Doğuşlu, 2. v. r.), Ece (Elit İşcan, Mitte), Selma (Tuğba Sunguroğlu, 2. v. l.) und Sonay (İlayda Akdoğan, links) rebellieren gegen ihren Onkel, der sie um jeden Preis verheiraten will.
© Agora Films
Hauptsächlich jedoch handelt es sich bei Mustang nicht um eine Bestandsaufnahme der türkischen Tagespolitik, sondern um ein beherztes Plädoyer gegen die – durchaus auch in Westeuropa – tief verwurzelte männliche Bevormundung von Mädchen und Frauen. Ergüven erzielt den gewünschten Effekt mit einer in der Tendenz optimistisch getönten Handlung, die sich trotz zahlreicher tragischer Einschläge niemals anmasst, ungefilterter Sozialrealismus zu sein. (Ein Vergleich mit Céline Sciammas düstererem Bande de filles ist somit eher wenig hilfreich.)

Mustang erzählt eine Geschichte, das signalisiert schon die atmosphärische, unaufdringlich verklärende Musik des Australiers Warren Ellis, der dafür zu Recht mit einem César ausgezeichnet wurde. Getragen wird diese von einem Quintett starker Protagonistinnen, von denen Güneş Şensoys energische Lale, Elit İşcans fatalistische Ece und Tuğba Sunguroğlus melancholische Selma noch heraus stechen. Sie entschädigen dafür, dass die Laufzeit des sehr kurzweiligen, überraschend rasant inszenierten Films mit 97 Minuten fast ein wenig zu knapp bemessen ist, um allen Figuren durch und durch gerecht zu werden. Und wenn die grösste Kritik, die man an einem Regiedebüt üben kann, darin besteht, dass man gerne mehr davon gesehen hätte, darf es mit Fug und Recht als vollauf gelungen eingestuft werden.

★★★★

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