Sonntag, 22. November 2015

Heimatland

Die Schweiz ist ein Sonderfall. Jedes Kind lernt das in der Schule. Kriege sind uns fremd, denn wir sind neutral. Unsere Regierung handelt nach Kompromissentscheiden. Kein anderes Land funktioniert so gut wie unseres. Wir haben die beste, integerste Polizei der Welt. Unsere Konzerne sind weltweit konkurrenzfähig, aber trotzdem durch und durch national. Will uns ein Feind aus dem Ausland an den Kragen, wird er sich an unserer Alpenfestung die Zähne ausbeissen. Ja, selbst unser Wetter ist anders: Nirgendwo anders dauern Hoch- und Tiefdruckfronten so lange wie hier.

Auch kulturell ist die Schweiz nicht wie das Ausland. Will hier ein junger Regisseur staatliche Förderung für seinen Film beantragen, muss er sein Projekt einem Komitee vorlegen, dessen höchst unterschiedliche Mitglieder es vom künstlerischen und sozialen Wert des Films zu überzeugen gilt. Damit diese Botschaft auch ankommt, sollte ein Film niemanden vor den Kopf stossen, niemanden verwirren. So hat sich nachgerade pathologische Harmonie- und Erklärungssucht fast schon als unabdingbares Stilmittel in der nationalen Filmproduktion festgesetzt. "Sie nimmt chli Brot ond seit, 'I nimm chli Brot'. Da isch en Schwizer Film", besang Manuel Stahlberger das Phänomen im vergangenen Jahr. Aber lautere Kritik ist verpönt, denn die Schweiz ist speziell, die Schweiz ist mit ihren Traditionen immer gut gefahren, die Neutralität ist unantastbar.

Diese oder ähnliche Gedanken müssen sich Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp und Mike Scheiwiller gemacht haben, bevor sie sich dazu entschlossen haben, dieser selbstzufriedenen Pax helvetica mit dem Omnibus-Projekt Heimatland einen Schuss vor den Bug zu verpassen. "Heimatland!", scheint dieser Film ausrufen zu wollen. "Wann werden wir uns endlich unserer eigenen Mittelmässigkeit bewusst?"

Tag der Abrechnung: Eine riesige Sturmwolke bedroht die Schweiz.
© look now
Unter der von nationaler Symbolik getränkten Tagline "La suisse n'existe plus" entwerfen die zehn Jung-Regisseure eine Prämisse, die ebenso simpel wie suggestiv ist: Die Schweiz geht unter. Nicht die Welt, sondern nur die Schweiz, jenes stolze autonome Loch in jeder EU-Karte – und mit ihr der ganze Mythos, den sie über die Jahrzehnte so sorgfältig kultiviert hat.

Über der Innerschweiz bildet sich eines Tages eine mysteriöse Wolke. Stunde um Stunde breitet sie sich aus, verdunkelt nach und nach den Himmel über allen 26 Kantonen, bevor sie just an der Grenze Halt macht. Europa atmet auf, derweil in der Schweiz in Erwartung eines verheerenden Sturms der Notstand ausgerufen wird. Das hat die Eidgenossenschaft nun von ihren besonderen Wetterlagen. Die Telefone der Turicum-Versicherung klingeln Sturm, ihr Verwaltungsrat befürchtet ruinöse Schadenszahlungen; Fussballspiele werden abgebrochen; die Polizei rückt aus, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wer vorhat, sich im Luftschutzkeller zu verkriechen, legt sich im Supermarkt mit anderen Hamsterkäufern an; wer das Land verlassen will, stösst auf rigorose Grenzkontrollen oder bleibt am Gotthard im Stau stecken.

Im Kanton Schwyz bewaffnen sich die Bürger, um auslädnische Aggressoren abzuwehren.
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Nicht alle Geschichten, die Blatter, Frei, Jaberg, Jaquier, Meier, Nölle, Rupp und Scheiwiller – Gassmann und Krummenacher sind als "künstlerische Mitarbeiter" gelistet – in ihrem apokalyptischen Helvetia-Panoptikum erzählen, sind grosses Kino. Das konservative Herz der Schweiz, dessen Bewohner sich mit Gewehren bewaffnen, um nach dem Sturm die rauchenden Überreste des "schönsten Landes auf Gottes Erde" vor ausländischen Aasgeiern zu beschützen, rutscht wiederholt ins Plakative ab; der schwarze Humor ist grob und nicht besonders originell.

Doch selbst wenn Heimatland nicht ins Schwarze trifft, vereint er doch eine erfrischend unschweizerische Film-Sensibilität mit einer unbestreitbaren Schweizer Identität. Das facettenreiche satirische Drama verweigert sich jeglichem Konsens; das Ziel sind die Provokation und der Bruch mit der harmonischen Bequemlichkeit. Hier wird nicht der Erfolg an den Kinokassen und die Programmierung im Sonntagebend-Programm des SRF angstrebt – obschon dem Film beides zu gönnen wäre –, sondern unverhohlen eine Meinung vertreten: Die Schweiz schafft sich ab – und das nicht wegen Einwanderern und Multikulturalismus, sondern auf Grund ihrer Engstirnigkeit, Isolation und ihres verschleierten Chauvinismus.

Wer kann, der flieht – doch wie wird die EU mit Schweizer Flüchtlingen umgehen?
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Somit sind es letztlich weniger die Schicksale der einzelnen Figuren, die hier unter die Haut gehen, als vielmehr die Summe ihrer Erlebnisse und die damit verbundenen Demontagen nationaler Selbstverständlichkeiten. Die ikonischen Institutionen Migros und Coop, oft als unverrückbare Stützen der schweizerischen Gesellschaft verklärt, werden hier vertreten durch einen Filialleiter (Roberto Garieri), der sich mit kaltblütiger Gewalt gegen den Ansturm panischer Kunden zur Wehr setzt. Als die Wolke das Zürcher Seebecken erreicht, wird in den Turicum-Büros statt über Menschenleben über monetäre Schäden debattiert und damit zugleich der gefeierte Schweizer Pragmatismus ad absurdum geführt. Eine Polizistin (Julia Glaus) ist traumatisiert von einem Einsatz, der gar nicht dem Bild der makellosen eidgenössischen Justiz entspricht. Und selbst die so unumstösslich scheinende Tradition, dass man in der Schweiz von jedem Brunnen trinken kann, erleidet in Heimatland Schiffbruch – denn irgendwann versagt auch die Wasserversorgung.

All dies ist nicht gegen das Land an sich gerichtet; keiner der Regisseure propagiert offen einen EU-Beitritt oder einen bewaffneten linken Aufstand. Was hier einer überfälligen kritischen Auseinandersetzung unterzogen wird, ist der Schweizer Staatsdünkel, das eitle Eigenlob für die eigene Besonderheit, die sich allzu oft als bescheidene Unparteilichkeit ausgibt. Sich in einer globalisierten Welt der Einzigartigkeit zu rühmen, ist bestenfalls absurd, schlimmstenfalls ein Zeichen von blindem Patriotismus, der weder gefeiert noch gefördert gehört. Heimatland konfrontiert die Schweiz mit ihrer eigenen Gewöhnlichkeit und ist damit zwar nicht der beste Spielfilm, der in diesem Land in den letzten paar Jahren zu sehen war, aber vielleicht der nötigste.

★★★★

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