Freitag, 16. Oktober 2015

The Wolfpack

Es ist eine unglaubliche Geschichte, die Crystal Moselle in ihrem Regiedebüt The Wolfpack erzählt: Die Dokumentation handelt von den Angulo-Geschwistern – sechs Teenager-Jungs und einer kaum in Erscheinung tretenden, behinderten Schwester –, die den Grossteil ihres Lebens in einem Sozialbau-Appartement im Lower-East-Side-Quartier New Yorks verbracht haben. Um sie vor den Gefahren von Stadt und Aussenwelt zu schützen, hat ihr Vater Oscar, ein peruanischer Einwanderer und begeisterter Anhänger der Hare-Krishna-Religion, ihnen und ihrer Mutter Susanne verboten, die Wohnung zu verlassen.

Entsprechend sind Moselles Protagonisten Mukunda, Narayana, Govinda, Bhagavan, Krisna und Jagadesh auch nicht durch die sporadischen, von Oscar beaufsichtigten Kurz-Ausflüge nach draussen an die Welt gewöhnt worden, sondern durch ihre Liebe zum Film; die Sammlung der Angulos umfasst rund 5'000 DVDs und VHS-Kassetten. Was The Wolfpack also letztlich zeigt – befreit von allen zusätzlichen Informationen, die es ausserhalb des filmischen Rahmens nachzuschlagen gilt –, ist der einstige amerikanische Albtraum: eine Generation, die vom Fernsehen aufgezogen wurde.

Unter diesem Gesichtspunkt offeriert Moselle ein erfrischendes Gegen-Narrativ zum gängigen Klischee des abgestumpften, verdummten Medienkindes. Die Angulo-Brüder, allen voran ihr Quasi-Anführer Mukunda, sind ausnahmslos einnehmende Persönlichkeiten – freundlich, humorvoll, selbstironisch und einfühlsam. Nicht ihre Liebe zu den die Eintönigkeit vertreibenden Hollywood-Filmen – die sie als Erweiterung ihres Hobbys gerne selber nachspielen, insbesondere den wie für sechs Brüder gemachten Reservoir Dogs – hat ihnen geschadet, sondern ihr übermächtiger Vater, der Moselle gegenüber zwar keine Reue erkennen lässt, seinen Kindern ihren unumgänglichen Ausbruch aber auch nicht übel zu nehmen scheint ("I taught them to make their own decisions").

Die Angulo-Brüder haben fast ihr ganzes Leben im New Yorker Appartement ihres Vaters verbracht.
© Xenix Filmdistribution
Der Bruch im System Oscar Angulo – und damit Moselles Freundschaft mit der Familie – begann im Jahr 2010, als Mukunda, damals 15, beschloss, die Wohnung verkleidet zu verlassen, wenig später von der Polizei aufgegriffen wurde und vorübergehend in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses verfrachtet wurde. Im Laufe der darauf folgenden Monate bröckelte Oscars Regime weiter; die Geschwister begannen, gemeinsam Manhattan zu erkunden; Moselle ist dabei, als sie in einem Park am East River die Bäume und den Fluss bestaunen, als sie die Touristen-Attraktion Coney Island besuchen, als sie das allererste Mal einen Film im Kino sehen (David O. Russells The Fighter).

Das ist alles durchaus interessant und dank der charismatischen Menschen im Fokus – trotz der schwierigen Thematik – sogar höchst unterhaltsam; doch das Gefühl, The Wolfpack enthalte einem gewisse Punkte vor, lässt sich nur schwer abschütteln. Wie Moselle die Angulos kennen gelernt hat, wird so gut wie gar nicht beleuchtet; noch weniger die Frage, unter welchen Bedingungen Susanne und vor allem der inzwischen von seinen Söhnen entfremdete Oscar dem Porträt zugestimmt hatten. Die Identifikation der zentralen Figuren erweist sich besonders zu Beginn als Herausforderung; das Fehlen von Zeit-Einblendungen erschwert die Einordnung gewisser Szenen, da der Film offenkundig nicht chronologisch geschnitten ist.

Eines der grössten Hobbys der Angulos ist das Nachspielen ihrer Lieblings-Hollywoodfilme.
© Xenix Filmdistribution
In Anbetracht der zu Drehbeginn allesamt minderjährigen Protagonisten, der behinderten Visnu sowie des wahrscheinlich alkoholkranken und mental instabilen Oscar drängt sich auch die Frage nach ethischen Bedenken auf: War es richtig – oder zumindest journalistisch integer –, diesen Film zu machen? Liegt auf dem Grund von Moselles Projekt ein entmenschlichender "Guck mal, die da"-Impuls?

Zumindest teilweise vermag der fertige Film derartige Zweifel auszuräumen. Es darf angenommen werden, dass Moselles Anwesenheit den Angulos bei ihrer Sozialisation geholfen hat. Und gerade Mukunda und Narayana, deren Traum eine Arbeit im Filmgeschäft zu sein scheint, dürften bei der Stellensuche einen gewissen Vorteil aus Moselles Vernetztheit ziehen können. Die Offenheit, mit der die Geschwister wie auch Susanne die Regisseurin in ihr Leben aufnehmen, bildet den Kern des Reizes von The Wolfpack. Er ist nicht viel mehr als ein solider Dokumentarfilm, der genauso in einen Arte-Themenabend wie auf die Kinoleinwand passen würde; doch der natürliche Charme der Figuren im Mittelpunkt lässt einen bisweilen vergessen, dass ein Film höhere Ambitionen haben könnte.

★★★★

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