Donnerstag, 25. Juni 2015

Victoria

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Ohne einen einzigen Schnitt erzählen Regisseur Sebastian Schipper und Kameramann Sturla Brandth Grøvlen in Victoria von einer schicksalhaften zweieinhalbstündigen Wanderung durch die frühen Berliner Morgenstunden. Das ist grosses Kino mit emotionalem Anspruch.

Der Plansequenz-Film – von Alfred Hitchcock 1948 in Rope ausprobiert – ist salonfähig geworden. Wurde Russian Ark, Alexander Sokurovs schnittloser Spaziergang durch die St. Petersburger Eremitage, 2002 noch als nicht wiederholbares, da viel zu aufwändiges, Arthouse-Experiment eingestuft, gewann im Februar 2015 Alejandro González Iñárritus Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) den Hauptpreis bei den Oscars – ein Film, dessen Schnitte durch digitale Nachbearbeitung so übertüncht wurden, damit die Illusion entsteht, er bestehe aus einer einzigen langen Einstellung. Und nun hat sich auch der deutsche Schauspieler (The English Patient, Lola rennt) und Gelegenheits-Regisseur (Absolute Giganten, Ein Freund von mir, Mitte Ende August) Sebastian Schipper dieser Herausforderung gestellt; prompt wurde sein neuer Film mit sechs Deutschen Filmpreisen geehrt. Schon rein produktionstechnisch ist Victoria eine beeindruckende, ja herkulische Leistung: Auf der Basis eines zwölfseitigen Drehbuchs filmten Schipper, Grøvlen und der seine Dialoge oft frei improvisierende Cast drei Fassungen des 140-minütigen Films, drei statistenreiche Spaziergänge durch Berlin-Kreuzberg und -Mitte; die definitive Version entstand am 27. April 2014 zwischen halb fünf und sieben Uhr morgens.

Im Zentrum von Schippers Echtzeit-Drama steht die Titel gebende junge Spanierin Victoria (Laia Costa). Erst seit drei Monaten wohnt sie in der Hauptstadt, Deutsch spricht sie keines, auch Freunde hat sie noch keine gefunden. Vor einem Club trifft sie auf die vagabundierenden Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yiğit) und Fuss (Max Mauff), mit denen sie erst ziellos herumstreift – und dabei vor allem am netten Sonne Gefallen findet –, bevor sie ihnen dabei helfen muss, eine Schuld von Boxer beim kriminellen Andi (André Hennicke) zu begleichen.

Nach einem Club-Besuch lernt Victoria (Laia Costa) eine Gruppe junger Berliner kennen, darunter den netten Sonne (Frederick Lau, Mitte) und den aufgekratzten Boxer (Franz Rogowski).
© filmcoopi
Es ist erstaunlich, wie viele Schichten Schipper in seiner einen Einstellung unterzubringen vermag. Victoria schaltet gekonnt um vom quasi-dokumentarischen Porträt des Hier und Jetzt – gemeinsam mit Jan-Ole Gersters Oh Boy (2012) bildet der Film eine 2010er Entsprechung zum Weimarer Klassiker Menschen am Sonntag von 1930 – zur romantischen Intimität; die Szenen, in denen Sonne von Victorias Vergangenheit erfährt, erinnern stark an Richard Linklaters Before Sunrise. Auch den kritischen, weil letztlich wohl zu unrealistischen, Übergang zur zweiten Hälfte, in der die Protagonisten zu einem Banküberfall gezwungen werden, übersteht der Film praktisch schadlos – der schwache Kurzauftritt André Hennickes wird aufgewogen durch die herausragend naturalistischen Darbietungen von Costa, Lau, Rogowski und Yiğit (Mauff ist kaum präsent), die stimmigen Reminiszenzen an Sidney Lumets Dog Day Afternoon sowie die intensive Inszenierung.

Vor allem aber weist der mit unmittelbarer, roher Kraft vorgetragene Victoria, mit seiner narrativen Nähe zur griechischen Tragödie, eine gewisse Ähnlichkeit mit Mathieu Kassovitz' Banlieue-Drama La haine auf. Er erzählt von im Grunde guten Menschen, die, verloren in der Perspektivlosigkeit der Metropole, der grausamen Macht der Umstände zum Opfer fallen, was schon im Vorspann – kleine Namen auf riesiger schwarzer Fläche – suggeriert wird. Schipper reüssiert, wo Andreas Dresens Als wir träumten scheiterte; ihm ist mit seinem vierten Film ein feinfühliges, spannendes, emotional tief greifendes, moralisch zu keinem Zeitpunkt wertendes Zeitbild deutschen Grossstadt-Nachtlebens gelungen.

★★★★★

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