Mittwoch, 2. Oktober 2019

African Mirror

Fast ein halbes Jahrhundert lang war der Berner René Gardi eine unangefochtene Grösse in Schweizer Kinder- und Wohnzimmern. In den Vierzigerjahren machte sich der gelernte Mathematiker, Physiker und Zoologe einen Namen mit Pfadfinderromanen, in denen er eine ganze Generation von der Flussschifffahrt oder dem Pilotendasein träumen liess.

Doch von Anfag an war Gardi auch fasziniert vom Reisen, veröffentlichte Reiseberichte und -bücher über seine Abenteuer in Lappland, auf Spitsbergen und bei den Walfängern vor Norwegen, bevor es ihn um 1950 nach Afrika verschlug – erst in die Sahara, dann nach Kamerun, wo er sein Herz an die Mandara-Region und die dort ansässige Bevölkerung verlor und Jahre damit verbrachte, sie ethnografisch zu erkunden. So erarbeitete sich Gardi den Ruf eines wohlwollenden Afrika-Experten, der dem deutschsprachigen Raum bis zu seinem Tod im Jahr 2000 die Welt der "edlen Wilden" in Wort und Bild erklärte.

Gerade im Kontext der isolationistisch geprägten Schweiz, in der zu Beginn von Gardis Karriere das Alpen-Reduit noch die bevorzugte militärische Verteidigungsstrategie war, mag dieses pädagogische Unterfangen wie ein nötiger Blick über den Tellerrand wirken. Doch wie Mischa Hedingers simpler, effektiver Dokumentarfilm African Mirror zeigt, ist es höchste Zeit, sich dem Phänomen Gardi aus postkolonialer Perspektive zu nähern und zum Schluss zu kommen, dass die Geschichten der nackten, "primitiven" Mandara das Schweizer Afrikabild bis heute beeinflussen.

Hedinger greift hier einen Diskurs auf, der in der Schweiz seit einigen Jahren verstärkt geführt wird und mit schöner Regelmässigkeit relativierende, wenn nicht sogar wütende Reaktionen auf sich zieht. Die langjährigen Bemühungen des Historikers Hans Fässler, das Agassizhorn in den Berner Alpen, benannt nach dem Fribourger Rassentheoretiker Louis Agassiz, umzutaufen, enden Mal um Mal im Misserfolg. Legitime Argumente gegen den Gebrauch des rassistisch getränkten Begriffs "Mohrenkopf" gelten nationalen Zeitungen als Einschränkung der Redefreiheit. Wird Kritik an einer Basler Fasnachtsgruppierung laut, deren Logo eine koloniale Karikatur eines schwarzen Menschen darstellt, werfen dieselben Publikationen den Kritiker*innen vor, ihre Bemühungen seien kontraproduktiv. Und wehe, man wage es, die weisse Weste der Schweiz im internationalen Sklavenhandel in Zweifel zu ziehen.

© Outside the Box
African Mirror wird sich ähnlichen Retourkutschen ausgesetzt sehen: Gardi sei ein Kind seiner Zeit gewesen, wird es wohl heissen – ein unvollkommener, aber letztlich eben auch unproblematischer Verfechter der Volksaufklärung; ein Schweizer Flaherty oder Grzimek, den Hedinger nun ins unerbittliche Scheinwerferlicht der Moralvorstellungen des 21. Jahrhunderts zerre, um ihn posthum noch "zum Rassisten stempeln" zu können. Eine weitere Rufmordkampagne einer Bewegung, die, in den Worten von Kolumnist Ronnie Grob, "'rassistisch' zu einem beliebigen Begriff abwertet und geradezu inflationär verwendet".

Viel Angriffsfläche bietet der Film solchen Interpretationen aber nicht, denn er verlässt sich ganz auf die Mündigkeit seines Publikums. Mit Ausnahme eines Geleitzitates des kamerunischen Intellektuellen Achille Mbembe über die Konstruiertheit dessen, was in Europa gemeinhin unter "Afrika" verstanden wird, besteht African Mirror hauptsächlich aus veröffentlichtem und unveröffentlichtem Material aus Gardis Nachlass: Fotos, Filmaufnahmen, Fernsehauftritte, unterlegt mit Passagen aus Produktions- und Tagebuchnotizen. Niemals mischt sich eine Erzählstimme ein, um diese Einblicke in Gardis Schaffen kulturhistorisch einzuordnen oder gar zu bewerten. Man ist im Dunkel des Kinosaals allein mit den Ansichten des designierten Schweizer Afrika-Schulmeisters.

Niemand, der diesen Film sieht, wird daran zweifeln können, dass der Mann es gut meinte. Er sorgte sich um das Wohlbefinden der Mandara und kritisierte die missionarische Idee, dass afrikanische Stämme vor ihren Lebensumständen "gerettet" werden müssen. Er war fasziniert von den Traditionen, die er in der nordkamerunischen Steppe vorfand und sah es als seine Pflicht an, ihre Bewohner*innen vor einer exzessiven Anpassung an den westeuropäischen Lebensstil zu bewahren.

© Outside the Box
Doch mit seiner subtilen Art, Worte und Bilder im Stile von Regina Schillings Kulenkampffs Schuhe (2018) in einen Dialog treten zu lassen, macht Hedinger auch unmissverständlich deutlich, dass Gardis Weltanschauung auf kolonialem Paternalismus beruhte – auf der rassistischen Überzeugung, dass es weisse Europäer*innen in Afrika nicht mit ebenbürtigen Individuen zu tun haben, sondern mit minderbemittelten, unschuldigen kleinen Geschwistern, die mit einer Kombination aus Verständnis und elterlicher Strenge auf den Pfad der Erleuchtung gebracht werden sollen.

African Mirror ist das Porträt eines Afrikareisenden, der hin- und hergerissen scheint zwischen nostalgisch-herablassender Verklärung und imperialistischer Verachtung der Menschen, denen er seine Karriere gewidmet hatte. Er verfällt dem Klischee der "seligen Primitiven" dermassen enthusiastisch, dass er auch nicht davor zurückschreckt, Einheimische – darunter auch Städter in T-Shirts und Turnschuhen – dafür zu bezahlen, dass sie ihm vor seiner Kamera angeblich traditionelle Szenen in arkadischer Nacktheit vorspielen. Gleichzeitig ist er voller Bewunderung für die französischen Kolonialbeamten, welche die Höfe säumiger Steuerzahler niederbrennen, und fantasiert wiederholt von einer Welt, in der auch die Schweiz über Kolonien verfügt. Mit der fortschreitenden Dekolonisierung Afrikas wächst sein Glaube an die ordnende Hand des Imperialismus: "Der Afrikaner" sei wie ein aufbegehrendes Kind – weder bereit noch von Natur aus fähig, über seine eigenen Geschicke zu bestimmen.

© Outside the Box
René Gardi war eine komplexe Persönlichkeit. Das legt nicht nur jener viel zu oberflächlich vorgetragene Moment nahe, in dem sich der einstige Sekundarlehrer nach einem Selbstmordversuch dazu bekennt, sich in den frühen Vierzigerjahren an seinen Schülern vergangen zu haben. Gut 85 Minuten lang reiht Hedinger hier hemmungslose Afrika-Romantisierung an weisse Arroganz an unbeholfen formulierte Empathie an saloppen Rassismus an Plädoyers gegen europäische Ignoranz an ungeheuerliche Entmenschlichungen ("Du würdest doch sicher nicht mit so einem Schwarzen am Tisch essen wollen?").

Das primäre Ziel von African Mirror ist aber nicht, ein vernichtendes Urteil über den fehlbaren, mal latent, mal explizit rassistischen Ethnografen zu fällen, der zu Lebzeiten selber noch folgerte, "Afrika" sei zuallererst eine Projektionsfläche für frustrierte, gelangweilte Europäer*innen. Vielmehr scheint es Hedinger ein Anliegen zu sein, das Publikum von der kolonial geprägten, von Gardi über Generationen hinweg befeuerten Illusion zu befreien, eine fundierte, oder gar objektive, Vorstellung von Afrika und seinen Menschen zu haben. Es ist ein weiterer Schritt in der langsamen mentalen Dekolonisierung der Schweiz – und damit essenzielles Schweizer Kino.

★★★★

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