Freitag, 19. Dezember 2014

20,000 Days on Earth

"Only by retelling can we make a story of our lives", sagt Nick Cave per Voiceover in der enigmatischen Halbdokumentation 20,000 Days on Earth des englischen Künstlerduos Iain Forsyth und Jane Pollard. "Memory is what we are", sinniert der australische Musiker an anderer Stelle. "On one level, we all wanna be somebody else." Das Leben ist eine Performance, die erst durch die Erinnerung daran zu existieren beginnt. Ausschmückungen gehören ebenso dazu wie Auslassungen; wahre Objektivität gibt es nicht.

Cave weiss, wovon er spricht. "1987 is a year I find hard to remember", murmelt er, der im Laufe seiner 57 Jahre auf dieser Erde – knapp 20'000 Tage – vier Bands, und mit ihnen den Post-Punk, mitgegründet hat; er, der eine schwere Heroin-Abhängigkeit überwunden und es geschafft hat, bis heute musikalisch relevant und unberechenbar zu bleiben. "Well... 80-anything is hard to remember", fügt er mit einem Hauch von Beschämtheit hinzu.

Ganz dieser wilden, chaotischen, unübersichtlichen Vita entsprechend, ist 20,000 Days on Earth, dessen Skript Cave zusammen mit Pollard und Forsyth verfasst hat, mehr Collage als Chronologie. Beginnend mit einer atemberaubenden Bild- und Ton-Kakophonie, die in Schwindel erregendem Tempo durch die ersten 19'999 vergangenen Tage in Caves Leben jagt, springt der Film in der Folge scheinbar kreuz und quer durch einen mehrere Monate abdeckenden Zeitraum; das Motiv des 20'000. Tages ist blosser Ausgangspunkt einer weiter gefassten Reise.

Cave tauscht sich mit Weggefährten wie Ray Winstone, Kylie Minogue oder Blixa Bargeld aus; er trinkt Tee mit seinem Freund und Band-Kollegen Warren Ellis – dem Teufelsgeiger und Synthesizer-Virtuosen mit dem formidablen Vollbart, Australiens Antwort auf Keith Richards –; er schreibt die Songs für das 2013 erschienene Bad-Seeds-Album Push the Sky Away; einen Schnitt später spielt er sie ein, während Ellis versucht, einem französischen Kinderchor den richtigen Rhythmus eines Tracks einzutrichtern. In inszenierten, sorgsam komponierten Sequenzen – mit ein Grund, warum man den Begriff Dokumentarfilm mit Vorsicht benutzen sollte – öffnet er sich dem Psychoanalytiker Darian Leader, sichtet einen Archivbestand und führt den Zuschauer durch Kindheitsfotos, ein selbstherrliches Testament und Objekte, die er auf Westberliner Flohmärkten zusammengetragen hat.

"Can't Get You Out of My Head": Nick Cave unterhält sich mit Kylie Minogue. 
© Xenix Filmdistribution
Objektive Wahrheiten bietet 20,000 Days on Earth keine. Stattdessen werden hier Schlaglichter auf eine widersprüchliche, überlebensgrosse Persönlichkeit geworfen: Auf der Bühne ein bizarrer Dandy, der Erotik und Performance-Kunst zu verschmelzen scheint – privat ein selbsternannter Einsiedler, der sich im südenglischen Hipster-Mekka Brighton niedergelassen hat, obschon ihm das Wetter an der Kanalküste schwer zu schaffen macht. Ein existentialistischer Amateur-Philosoph, der das Unbewusste als Meeresmonster versteht, dessen Buckel hie und da die Oberfläche des Ozeans der Realität durchbricht – der sich aber, trotz aller ominöser Gedankengänge, in seiner Haut durchaus wohl zu fühlen scheint. Ein begnadeter Künstler, der das Schreiben von Songs mit dem Treffen zwischen einem Kind und einem "mongolischen Psychopathen" vergleicht. "If that doesn't work, send in a clown. And if that doesn't do the trick, shoot the clown." Cave ist ein faszinierender Sonderling vom Format eines John Lennon, dessen Bonmots nahtlos vom Tiefgründigen ins unverhohlen Abstruse übergehen können und nicht selten irgendwo dazwischen anzusiedeln sind. 

Der Film, von Ellis mit leicht psychedelischer, hochgradig atmosphärischer Ambient-Musik unterlegt, lebt von der elektrisierenden Präsenz seines eigentlich durch und durch phlegmatischen Protagonisten, von seinen wunderbaren Voiceover-Passagen, welche dem Unmöglichen – dem Beschreiben des kreativen Akts – erstaunlich nahe kommen, wenngleich der an sich grossartige Schnitt von Jonathan Amos bisweilen zu sehr darauf bedacht ist, Caves Äusserungen nachgerade museal hervorzuheben. Denn wenn der Post-Punk-Outlaw aus Wangaratta an einen Ort nicht gehört, dann ins Museum: Zu vital ist er dafür, zu lebendig; zu sehr widersetzt er sich auf seine ureigene, minimalistische Weise jeglicher Schubladisierung.

★★★★

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