Samstag, 19. Oktober 2013

Le thé ou l'electricité

Mehr als 120 Jahre, nachdem in den Metropolen Europas die ersten von Elektrizität betriebenen Strassenbahnen die Boulevards, welche des Abends im Schein elektrischer Laternen strahlten, eroberten, wirkt in einem kleinen marokkanischen Bergdorf eine einfache Glühbirne wie ein kleines Wunder. Ifri, gelegen an einem Hang in den Höhen des Atlas-Gebirges, besteht aus knapp zwei Dutzend Steinbarracken, deren Bewohner, überwiegend Schaf- und Ziegenhirten, bis vor kurzem ganz auf ein Leben ohne moderne Annehmlichkeiten eingestellt waren.

Doch im Zuge der Modernisierungspläne der marokkanischen Regierung kamen staatliche Arbeiter nach Ifri, um den verdutzten Berglern die Nachricht zu überbringen, ihr Dorf würde schon bald ans nationale Stromnetz angeschlossen. Beigewohnt hat dieser Entwicklung, welche, von der ersten angespannten Besprechung zwischen staatlichen Elektrikern und Dorfältesten bis zum ersten Aufflackern eines Fernsehers, drei Jahre in Anspruch nahm, der belgische Dokumentarfilmer Jérôme Le Maire.

Le thé ou l'electricité ist der Versuch, diesen epochalen, längst zur Seltenheit gewordenen Moment einzufangen, in dem eine (vergleichsweise) ursprüngliche Gesellschaft in die Moderne überführt – oder, sollte man der Sache kulturpessimistisch gegenüber stehen, gedrängt – wird. Schon im bedeutend grösseren Marktflecken, dem letzten grösseren Ort vor Ifri, wo die armen Bauern ihrem Handel nachgehen und am Basar das breite Angebot an Mobiltelefonen bestaunen, bemerkt ein Staatsangestellter, man befinde sich "in einer ganz anderen Welt". Nicht nur dem europäischen Touristen, auch dem urbanen Marokkaner sind die "typisch arabischen" Basare fremd und exotisch.

Le Maires vorzüglich fotografierter Film lebt von solchen – bedauerlicherweise viel zu dünn gesäten – Miniaturen, subtilen Verweisen darauf, dass sich die Welt nicht in klar umrissene Kategorien einteilen lässt. Elektrizität, so eine der impliziten Moralbotschaften in Le thé ou l'electricité, wird Ifri nicht von heute auf morgen in eine strahlende Zukunft katapultieren – auch wenn die Regierungsgesandten den Dörflern die neue Technik auf diese Art und Weise schmackhaft zu machen versuchen ("Bei Licht werden die Kinder besser lernen! Ihr entwickelt euch weiter!"); derweil im Dorf Einigkeit darüber herrscht, dass die Wiederaufnahme eines abgebrochenen Strassenbauprojekts substantiellere Vorteile mit sich bringen würde.

Ein Bergdorf im Atlas: Ifri.
© Cinélibre
Unterminiert wird die Dokumentation leider von Le Maires bestenfalls zweifelhafter Selektion durchgehend undatierter Aufnahmen sowie jenen Szenen, welche mit ihren raffinierten Kamerawinkel-Wechseln und ihren geschliffen wirkenden Dialogen der Inszenierung schon gefährlich nahe zu kommen scheinen. Nicht selten wirkt Le thé ou l'electricité wie eine undeklarierte Tatsachen-Nachstellung, vergleichbar mit Danis Tanovics An Episode in the Life of an Iron Picker (während das Thema an sich eher den halbdokumentarischen deutschen Publikumsliebling Die Geschichte vom weinenden Kamel in Erinnerung ruft).

Irritierender ist allerdings die moralisierende Manipulation, welche Le Maire in den letzten zehn Minuten des (zu langen) 90-minütigen Films vollzieht. Beschränkte er sich zuvor noch auf eine mehr oder minder neutrale Darstellung der Geschehnisse – Fly-on-the-Wall- und Interview-Sequenzen, in denen, weder explizit noch implizit, ein abschliessendes Urteil über die Elektrifizierung Ifris gefällt wird –, verabschiedet er sich schlussendlich von jeglicher dokumentarischer Integrität. Detailaufnahmen weit aufgerissener Augen und verstört starrender Kinder, während im Off Fernsehgeräusche zu hören sind, unterstreichen die ärgerlich dogmatische Moral, welche Le thé ou l'electricité unterschwellig zu vermitteln scheint: Mit der Ankunft des Fernsehens verschwindet die Harmonie aus dem idyllischen Ifri. Am Ende sind die dörflichen Steinpfade leer gefegt – bedeutungsschwangere Einstellungen, die mittels Parallelmontage mit Bildern von fernsehenden Dörflern verschaltet werden.

Ifri soll ans marokkanische Stromnetz angeschlossen werden.
© Cinélibre
Dass Technik diesen Effekt zeitigen kann, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. So zeigt etwa eine der besten Szenen des Films, wie sich die jungen Erwachsenen von Ifri auf der Schafsweide treffen und sich, statt ein Auge auf die Herden zu werfen, mit ihren neu erworbenen Mobiltelefonen beschäftigen ("Heute habe ich Empfang!"). Die Installation des Stromnetzes schürt schwelende Konflikte: Wer kann sich Licht im ganzen Haus leisten? Werden sich die Dorfreichsten mit ihren vielen Steckdosen brüsten? Werden sie Geld dafür verlangen, bei ihnen fernzusehen? Am Ende scheint die oft geäusserte Linie "Der einzige Gott ist Allah" tatsächlich an Gültigkeit verloren zu haben; der technologische Fortschritt verdrängt nicht die Religion, er wird selber zur Religion, der Fernseher zum Altar.

Diesen Konflikt zwischen Tradition und Moderne aber in eine reine Dichotomie zu verwandeln – "Tee oder Elektrizität", das traditionelle Getränk oder die neumodische Verlockung –, zeugt nicht nur von schlechtem Geschmack (zumal sich viele Bewohner Ifris trotz allem über die neuen Annehmlichkeiten freuen), sondern von einem fast schon herablassenden, dem Rest des Films diametral entgegengesetzten Weltbild, in dem genügsame Armut ("Man überlebt wenigstens") als moralischer eingestuft wird als eine fortschrittsorientiertere Gesellschaft. Hier überschreitet Le Maire die Grenzen seiner Autorität. Denn dies aus der Geschichte von Ifri abzuleiten, wäre schon ein heikles Unterfangen gewesen, wenn Le thé ou l'electricité von einem Marokkaner gemacht worden wäre.

★★

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