Donnerstag, 4. Dezember 2014

Winter Sleep

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Kaum ein anderer Film in diesem Jahr verlangt seinem Publikum so viel ab wie Nuri Bilge Ceylans 196-minütiger Winter Sleep. Doch es lohnt sich, sich der Herausforderung des Palme-d'or-Gewinners zu stellen: Man wird belohnt mit einem spartanischen, intensiven, komplexen Charakterdrama belohnt.

Als das Filmfestival von Cannes 2007 sein 60-jähriges Bestehen feierte, steuerten 36 Regisseure insgesamt 34 Kurzfilme à drei Minuten zur Jubiläums-Anthologie Chacun son cinéma bei. Unter den teilnehmenden Cineasten waren neben Leuten wie Lars von Trier, Roman Polanski und David Lynch auch Joel und Ethan Coen mit World Cinema vertreten: Ein texanischer Cowboy (Josh Brolin) betritt ein Programmkino und lässt sich über das Angebot informieren; zur Auswahl stehen Jean Renoirs La règle du jeu und Climates, der vierte Langspielfilm des Türken Nuri Bilge Ceylan. Der Cowboy lässt sich auf Letzteren ein und verlässt den Saal anschliessend tief in Gedanken versunken und sichtlich bewegt: "I enjoyed that picture. There's a hell of a lot of truth in it."

Die Beschreibung trifft auch auf Ceylans neuesten Film zu, ein – so paradox es auch klingen mag – intimes Monumentalwerk von fast 200 Minuten Länge, in dem ebenso minutiös wie lebensecht die emotionale Erstarrtheit des kappadokischen Hoteliers Aydin (Haluk Bilginer) porträtiert wird. Im kargen Zentrum Anatoliens führt der einstige Theaterschauspieler ein Berghotel, das ihn, zusammen mit seiner Tätigkeit als Immobilien-Vermieter, zum reichsten Mann der Gegend gemacht hat. Doch sein materieller Wohlstand wie auch seine leicht arrogante Art, die er in seinen Kolumnen für die Lokalzeitung jeweils auf die Spitze treibt, haben ihn von seinen Mitmenschen entfremdet: Seine viel jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) fühlt sich bevormundet, seine Schwester Necla (Demet Akbağ), die mit ihm und Nihal das Hotel bewohnt, kritisiert seine selbstgefällige Weltanschauung; derweil er für den säumigen Mieter Ismail (Nejat Isler) und dessen Bruder, den unterwürfigen Imam Hamdi (Serhat Mustafa Kiliç), bloss Indifferenz übrig hat. Handfestere Konflikte delegiert er, gerade während der kalten Wintermonate, in denen Hotelgäste rar sind, an seinen treuen Assistenten Hidayet (Ayberk Pekcan).

Der Hotelier und Ex-Schauspieler Aydin (Haluk Bilginer) ist reich, aber unbeliebt. Selbst seine Schwester Necla (Demet Akbağ, hinten rechts) tut sich schwer mit seinen Ansichten. 
© trigon-film
Im Abspann steht zu lesen, dass sich Ceylan von den Novellen Anton Chekhovs hat inspirieren lassen; doch nicht minder deutlich zu erkennen ist hier der Einfluss Ingmar Bergmans. An die Beziehungsdramen des Schweden erinnernd, entfaltet sich Winter Sleep in ausgedehnten, mit akribischer Sorgfalt entwickelten Dialogen. Je länger ein Gespräch dauert, desto mehr Nuancen in der Beziehung zweier Figuren kommen zum Vorschein (unterstützt durch Gökhan Tiryakis subtile, äusserst präzise Kameraarbeit). Wie eine Gruppe von Archäologen legen Ceylan und seine ausnahmslos herausragend agierenden Schauspieler Schicht um Schicht von emotionalen Schattierungen und schwelenden Spannungen frei, die sich im Laufe des Films immer mehr zu einem unterschwellig abgründigen Bild des menschlichen Scheiterns verdichten.

Dabei wäre es aber falsch, mit dem Finger auf Aydin zu zeigen und in ihm den Schurken des Stückes auszumachen. Vielmehr scheint die zentrale Tragik des Films darin zu liegen, dass er – vielleicht als Selbstschutz gegen den Schmerz, den ihm das mögliche Ende seiner Ehe bereiten könnte – sich selber ein Gefühlsverbot auferlegt hat, dass sich sein Herz, ganz dem Titel entsprechend, im permanenten Winterschlaf befindet, und er und Nihal, wie es das nachgerade perfekte Ende andeutet, sich erst im Zynismus und dem Ennui des Alltags wieder finden. Man kann darüber diskutieren, ob die massive Filmlänge zwingend notwendig ist, um an diesen Punkt zu gelangen, doch als Spiegelung des emotionalen Stillstands, den Ceylan hier so wahrhaftig beleuchtet, ist auch diese Länge vertretbar. Mit jeder verstreichenden Minute gewinnt Winter Sleep an Tiefe, Intensität und, um es mit Josh Brolins Cowboy zu sagen, "Wahrheit".

★★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen