Donnerstag, 21. August 2014

Under the Skin

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Jonathan Glazers betörendes und verstörendes Science-Fiction-Kunstwerk Under the Skin ist mit seinem rätselhaften Anti-Plot, seinem sphärischen Tondesign und seinen teils bizarren Bildern ein Film gewordener Albtraum, welcher dazu einlädt, die Menschheit mit neuen Augen zu sehen.

Ein weisser Lichtpunkt in der Mitte der schwarzen Leinwand, auf den sich der Zuschauer langsam zuzubewegen scheint. Kugeln und Halbmondformen in einem scheinbar stellaren Gegenlicht sind zu erkennen. Das Licht verwandelt sich in ein menschliches Auge, die Schwärze in eine zähflüssige Masse. Zu hören ist Mica Levis leicht beängstigender Synthesizer-Klangteppich; darunter glaubt man die verzerrte Stimme von Scarlett Johansson zu hören, welche wie ein brabbelndes Kleinkind Wörter und Töne formt. Man weiss, dass der dritte Film (nach Sexy Beast und Birth) von Musikvideoexperte Jonathan Glazer von einer Ausserirdischen handelt; man hat es in der Presse gelesen oder kennt Michael Fabers gleichnamigen Roman, der Glazer und Co-Drehbuchautor Walter Campbell hier als Inspiration diente. Doch mit der möglichen Ausnahme der gleich auf mehreren Ebenen erschreckenden Schlusssequenz kommt dieser Umstand niemals expliziter zum Ausdruck als in diesen abstrakten Anfangsminuten, in denen sich Motive aus der Film-Avantgarde der Zwanzigerjahre, dem Buñuel'schen Surrealismus und – vor allem – der Vision eines Stanley Kubrick zu einer stilistisch virtuosen Ouvertüre vermengen.

In der Folge wird man Zeuge, wie das namenlose Alien (gespielt von Scarlett Johansson in ihrer bislang radikalsten Rolle) im Körper einer Frau, die wie Scarlett Johansson aussieht, in einem klapprigen Kleinlaster durch Schottland fährt, einsame Männer aufgabelt, in ihr Haus lockt und sie dort in einer schwarzen Flüssigkeit, auf der sie selbst problemlos laufen kann, versinken lässt. Was in diesem gallertartigen Gefängnis von ihren Opfern übrig bleibt, sind leere Hauthüllen. Als sie einen durch Neurofibromatose entstellten Mann (der tatsächlich daran leidende Adam Pearson) am Leben lässt, wird dieser von einem mysteriösen, wiederkehrenden Motorradfahrer (Profi-Rennfahrer Jeremy McWilliams) aufgegriffen. Ein Komplize? Ein Auftraggeber? Ein Nutzniesser? Selber ein Alien? Der Film verrät es uns nicht.


"The Skin I Live in": Eine namenlose Ausserirdische (Scarlett Johansson) geht in Schottland auf Männerjagd.
© Ascot Elite Entertainment Group
Wer sich mit Glazers publikumsunfreundlichem Erzählstil arrangiert, wird mit einem atemberaubend realisierten Experiment voller faszinierender philosophischer Ansätze belohnt; Vergleiche mit Tarr oder Tarkovsky sind durchaus angebracht. Under the Skin inszeniert das Alltägliche, Banale, Menschliche als etwas Fremdes. (Der be- und entfremdende Handlungsverlauf kann seinerseits selbst als eine Neubewertung der Konventionen des Kinos verstanden werden.) Er fordert nachgerade dazu auf, sich von der Befangenheit des Menschseins zu lösen und Phänomene wie Sex, Geschlechterrollen oder die Macht des Äusserlichen unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen. Johanssons Gespräche mit ihren potentiellen Opfern – viele von ihnen echte Passanten, welche mit versteckten Kameras gefilmt wurden – verraten viel über die Dynamiken zwischen Mann und Frau. Glazers Plot scheint die Facetten des Geschlechtsakts – von der Verführung, über die Liebe bis zur Vergewaltigung – aus der Sicht eines asexuellen Wesens darzustellen. In der vielleicht berührendsten Szene dieses emotional überwiegend kalten Films unterhält sich Johansson mit dem entstellten Pearson über dessen Erfahrungen in einer Welt, die sich nur über ihn lustig macht. Das Alien scheint zu bemerken, dass ihr Gegenüber anders aussieht als ihre üblichen Opfer, doch nichts läge ihr ferner als es deswegen zu meiden; die Essenz des Seins liegt "under the skin". 

★★★★★

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