Sonntag, 23. September 2012

Der Himmel über Berlin

Wim Wenders, der Schöngeist, der Lyriker des Neuen Deutschen Films, hat in seiner Karriere einige bemerkenswerte Projekte realisiert. So war er mit Werken wie Alice in den Städten, Im Lauf der Zeit oder Paris, Texas einer der Pioniere des europäischen Roadmovies; mit Ry Cooders Buena Vista Social Club-Projekt-Dok verhalf er der kubanischen Musik zu internationaler Popularität und in Pina verband er – wie im selben Jahr auch sein JDF-Kollege Werner Herzog – den Dokumentarfilm mit der 3-D-Technik. Seinen wohl grössten Erfolg feierte der Düsseldorfer aber mit dem Fantasydrama Der Himmel über Berlin, der vor 25 Jahren, am 23. September 1987, in die Kinos kam. Zeit für einen Rückblick.

Das geteilte Berlin in den Achtzigerjahren. Schon seit Äonen beobachten und belauschen die beiden Engel Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander) das irdische Leben. Hie und da stehen sie – unsichtbar – Menschen in Notsituationen bei, legen ihnen eine tröstende Hand auf die Schulter und versuchen, ihnen neuen Mut zu geben. Doch Damiel reicht dies nicht: Sein Traum ist es, sich unter die Menschen zu mischen, ein echtes Leben zu leben, ein "Teil der Geschichte" zu werden. Er will "ahnen, statt immer nur zu wissen". Den Entschluss, sterblich zu werden, fasst er schliesslich, als er sich in die französische Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) verliebt. Hin und wieder trifft er auf einen amerikanischen Filmstar (Peter Falk als er selbst), der in einem Holocaust-Streifen einen Detektiv verkörpern soll. Derweil folgt Cassiel einem alten Poeten (Curt Bois, der seiner acht Jahrzehnte währenden Karriere hier einen würdigen Schlusspunkt setzte), der sich auf seiner Suche nach dem Potsdamer Platz seiner Kindheit nicht nur durch das moderne Berlin, sondern im Geiste auch durch fast neunzig Jahre Stadtgeschichte wandert.

Um sich Wenders' so komplexem wie poetischem Werks zu widmen, ist es das Beste, ganz am Schluss anzusetzen. Dort steht nämlich: "Gewidmet allen ehemaligen Engeln, vor allem aber Yasujiro, François und Andrej". Gemeint sind drei grosse Filmemacher aus drei verschiedenen Kulturen: der Japaner Ozu, der Franzose Truffaut und der Russe Tarkovsky, Vorbilder Wenders', deren Einfluss sich in Der Himmel über Berlin niederschlägt. Einer der wenigen "richtigen" Dialoge des Films erinnert mit den sich an die Kamera wendenen Protagonisten an Late Spring oder Tokyo Story; Damiel trägt in seinem Finden der eigenen Identität Züge Antoine Doinels; Henri Alekans (La Belle et la Bête) lange, oft nur mit menschlichen Gedankenfetzen auf der Tonspur auskommende Kamerafahrten evozieren Stalker.

Himmlischer Besuch: Engel Damiel (Bruno Ganz) blickt von der Berliner Gedächtniskirche auf die Stadt und ihre Menschen hinab.
Durch das Vermischen dieser Stilmittel erzeugt Wenders eine hypnotische, durch und durch faszinierende Atmosphäre, die einer Meditation über das Leben an sich gleich kommt. Mithilfe der grösstenteils von Peter Handke verfassten Gesprächen, welche ihrerseits häufig aus Sprachbildern und Metaphern bestehen, verwandelt er das Berlin des Films in eine Synecdoche: Es entstehen Kontraste zwischen der Anonymität der hektischen deutsch-deutschen Metropole und der von Damiel so ersehnten Schönheit des Augenblicks, in einer Szene wunderbar beschrieben vom grossartig subtile Otto Sander. Die Sorgen einzelner Menschen – ein lakonischer Selbstmörder, eine gebärende Frau, ein abgewiesener Verehrer, eine Amateur-Prostituierte, eine Rentnerin in Geldnot – wechseln sich ab mit Archivaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg – fallende Bomben, tote Kinder, aber auch Aufbau und Hoffnung – und Vogelperspektiven des geteilten Nachkriegs-Berlins. Zusammen ergeben diese Impressionen die ultimative Sinfonie der Grossstadt, die Werner Ruttmann 1927 in seiner gleichnamigen Dokumentation zelebrierte.

Doch trotz seiner getragenen, melancholischen Stimmung ist Der Himmel über Berlin ein ungemein lebensbejahender Film, der metaphorisch wie buchstäblich das Licht am Ende des Tunnels beschwört. Die menschliche Tragödie, das Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes, wird vom kindlichen Erstaunen über das Wunder des Lebens übertrumpft; immer wieder zitiert Damiel, dessen naive Begeisterung für alles Irdisch-Profane von Bruno Ganz vorzüglich vermittelt wird, das "Lied vom Kindsein", verfasst von Handke, inspiriert von Rilke. Der Engel zieht den Akt des Kaffeetrinkens an einem kalten Tag der Unsterblichkeit vor; der brillante Peter Falk nimmt sich eigentlich viel zu viel Zeit, den passenden Hut auszuwählen; und selbst der täglich mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontierte Poet findet letztendlich seinen Frieden.

Die Schönheit des Augenblicks: Damiel teilt seine Erlebnisse mit seinem Freund Cassiel (Otto Sander).
"Nous sommes embarqués" sind die letzten Worte des sechssprachigen Films, bevor durch das antiklimaktische "Forsetzung folgt" das Sequel (In weiter Ferne, so nah!, 1993) angekündigt wird. Im Kontext von Der Himmel über Berlin sind beide Schlusspunkte stimmig. Denn kaum ein anderer Film als Wim Wenders' Meisterstück begreift das Leben derart poetisch und meditativ als wundersames und fortwährendes Abenteuer. Trauer und Schmerz sind feste Bestandteile dieses Abenteuers, doch wie die eingeflochtene Historiographie der Titel gebenden Weltstadt zeigt, ist es gerade die Überwindung dieser Bestandteile, die das Leben lebenswert machen. 25 Jahre sind seit seinem Erscheinen vergangen, doch auch nach Glasnost, Perestroika und Mauerfall ist Der Himmel über Berlin eine aktuelle, universell anwendbare, wunderschöne philosophische Etüde und ein Höhepunkt des deutschsprachigen Kinos.

★★★★★

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