Freitag, 25. Februar 2011

127 Hours

Aussichtslose Lage? Abenteurer und Extremsportler Aron Ralstons (James Franco) Arm ist zwischen einem Stein, der sich nicht bewegen lässt, und einer Felswand eingeklemmt und sucht nach einer Möglichkeit, sich zu befreien.

4.5 Sterne

Die Kreativität von Filmemachern ist bewundernswert, wenn es darum geht klassische Erzählstrukturen innovativ umzuinterpretieren. Anstatt mit der Tradition zu brechen, ist man bemüht, neue Wege zu finden, sie anregend umzusetzen. Der Engländer Danny Boyle hat diese Art des Inszenierens nach und nach zu einem Markenzeichen gemacht und mit 127 Hours, der Verfilmung des autobiographischen Buches von Aron Ralston, der 2003 beim Bergsteigen verunglückte, fünf Tage eingeschlossen war, da niemand wusste, wo er war, und sich schliesslich den rechten Arm mit einem Taschenmesser amputierte, einen weiteren Beweis für seine diesbezügliche Ambition abgeliefert. Hier treibt er die drei aristotelischen Erzähleinheiten - Zeit, Ort, Handlung - auf die Spitze und vermag damit sehr zu überzeugen. Jedoch bemühnt sich Boyle in seinem neusten Werk auch, seinen Ruf als "Hipster-Regisseur" zu zementieren und greift dabei leider mehrfach Stilelemente auf, die schon in seinem letzten Film - Slumdog Millionaire (2008) - als zu hektisch und effekthascherisch empfunden wurden. Dennoch ist 127 Hours eine anregende Charakterstudie, die nicht zuletzt dank Hauptdarsteller James Franco - Hollywoods Jungstar der Stunde - positiv in Erinnerung bleibt.

Ein Blick auf die Crew, die bei 127 Hours hinter der Kamera mitgearbeitet hat und man stellt umgehend fest, dass die Personalparallelen zu Slumdog Millionaire erheblich sind. Sieht man den neuen Film, dann wird klar, dass Danny Boyle zwar stilistisch auf seinem mit acht Oscars ausgezeichneten Erfolgsfilm aufbaut, inhaltlich die beiden Streifen aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Beispiel der aristotelischen Einheiten bietet sich an: Slumdog Millionaire war ein Film, der eine mehrjährige Story aufrollt, während 127 Hours einen Zeitabschnitt von fünf Tagen behandelt; die Bollywood-Hommage spielte sich gefühlt in ganz Indien ab, während die Verfilmung von Aron Ralstons Buch Between a Rock and a Hard Place quasi auf einem Quadratmeter spielt; und während Ersterer eine Geschichte mit Rahmenhandlung und internen Subplots aufweist, erzählt Letzterer vom Innenleben seines gefangenen Hauptcharakters, blendet die Gegenwart aber nie gänzlich aus. Das ist auch die Stärke der von Danny Boyle und Simon Beaufoy adaptierten Story. Aron Ralston flüchtet sich zwar in Halluzinationen, Erinnerungen und mögliche Zukunftsszenarien, vergisst aber nie, wo er ist und dass er sich nur selbst aus seiner misslichen Lage befreien kann. Dies hebt 127 Hours auch von Sean Penns Into the Wild ab, der zwar inhaltlich ähnlich ist, sich allerdings um einen eher nervenden Protagonosten dreht, der es praktisch als Ehre empfindet, an seiner eigenen Lethargie zu Grunde zu gehen - solange er nur die Natur um sich hat. Aron ist diesbezüglich von ganz anderem Kaliber: Er liebt zwar Natur und Abenteuer genauso wie Christopher McCandless in Into the Wild, respektiert sich selbst aber genug, um sich aktiv um sein Überleben zu bemühen. Diese Ähnlichkeit mit McCandless hat jedoch auch zur Folge, dass man erst nach Sympathien für Aron suchen muss. Seine Leichtfertigkeit, mit der er Wanderungen, Klettern und allerlei gefährliche Aktionen angeht, führt dazu, dass man im Moment des fatalen Sturzes innerlich seufzt "Da hat er jetzt den Salat!". Da kommt einem aber glücklicherweise Danny Boyles Inszenierung zu Hilfe, die aus stationären Handlung eine unglaubliche Dynamik herausholt. Dies funktioniert während Arons Gefangenschaft grösstenteils gut, verfehlt aber während den ersten 15 Minuten seinen Zweck. Anfangs wirkt 127 Hours mit seinen Split-Screenshots, hektischen Schnitten, übertriebenen Detailaufnahmen und der gellenden Musik von A.R. Rahman wie ein überlanger Werbespot, bei dem vergessen wurde, wofür eigentlich geworben werden soll. Doch kaum hat das Drama wahrhaftig angefangen - was dadurch gezeigt wird, dass der Titel erst dann auf der Leinwand erscheint, als Aron zwischen Stein und Felswand feststeckt -, wird alles langsamer, roher und vor allem echter. Der Protagonist verwandelt sich von einem Model für Jack Wolfskin zu einem Menschen, den man nun auch besser kennen und verstehen lernt. Der Film lässt sich auch Zeit, Ralstons fruchtlose Befreiungsversuche, seine Wut und seine letztendliche Anpassung an die Situation geduldig und schrittweise zu beleuchten. Boyle hat ein gutes Auge für Details wie Ameisen und andere Insekten, die eine potentielle baldige Nahrungsquelle zu wittern scheinen; die Krähe, die (fast) jeden Morgen um Punkt 8.17 Uhr über die Felsspalte fliegt; oder die 15 Minuten Sonnenlicht, die Aron jeden Morgen bekommt. Jede Szene markiert einen weiteren Schritt in Richtung finaler Katharsis, auf die 127 Hours hinausläuft. Der Film beschreibt im Grunde genommen einen Selbstfindungstrip, der auf kleinstem Raum stattfindet. Aron wird durch den Felsbrocken für einmal an einer Stelle festgehalten, sodass er sich mit seinem Leben ernsthaft auseinandersetzen kann.

Diesen Part zu spielen ist sicherlich nicht einfach; doch einer der grössten Vorzüge von 127 Hours ist die fantastische Performance von James Franco, der einem Einblick ins Innenleben Arons gewährt. Die Szene, in welcher Franco bzw. seine Figur drei Rollen übernimmt - sich selbst, einen Talkshow-Host und einen Anrufer - und seine Lage in Form einer heiteren Fernsehsendung in seine Videokamera spricht, ist einerseits Schauspiel auf höchstem Niveau, und andererseits eine enorm starke Szene, die die Gemütslage des Protagonisten - das Schwanken zwischen Galgenhumor, Verzweiflung und Realismus - und dessen Wunsch, den Verstand nicht zu verlieren, hervorragend auf den Punkt bringt.

Auf der technischen Seite kann man im Prinzip niemandem schlechte Arbeit vorwerfen. Zwar wirken Cutter Jon Harris' Split-Screens sowie manche von Anthony Dod Mantles und Enrique Chediaks ungewöhnlichen Kamerapositionen etwas aufdringlich und protzig, sind aber allesamt sehr gut gemacht und verhelfen dem Film auf ihre Weise zu seiner beeindruckenden Dynamik. Auch A.R. Rahmans Musik rückt nach der Exposition in den Hintergrund und wird subtiler und weniger überbordend.

127 Hours ist ein Film von einem Hipster über einen Extremsportler, der für alle etwas bereit hält. Auch wenn gewisse Szenen grosses Schockpotential haben - Stichwort: Armamputation - und demnach auch starke Nerven voraussetzen, sollte man Danny Boyles Film nicht verpassen. Man begibt sich auf eine, trotz aller Widrigkeiten, ermutigende Reise - anders als in Into the Wild - und entdeckt aus einer gewissen Distanz das Innenleben von Aron Ralston, der übrigens auch nach seinem traumatischen Erlebnis im Blue John Canyon ein begeisterter Abenteurer blieb und bis heute seinen Extremsport-Hobbys frönt. Auch wenn sein Lebenswandel für viele schwer oder überhaupt nicht nachvollziehbar ist, Arons Haltung hat fraglos etwas Inspirierendes - ein Wort, welches auch in Bezug auf 127 Hours benutzt werden darf.

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