Sonntag, 7. September 2014

La chambre bleue

Mit seiner Verfilmung von Georges Simenons 1964 erschienenem Roman La chambre bleue reiht sich Mathieu Amalric – hauptberuflich Schauspieler (Rois et reine, Munich, Le scaphandre et le papillon), wenngleich er für seine Komödie Tournée 2010 in Cannes sowohl mit dem Regiepreis als auch mit der FIPRESCI-Kritikertrophäe geehrt wurde – in eine erlesene Sammlung von Filmemachern ein, die das Schaffen des legendären belgischen Literaten des 20. Jahrhunderts für die Leinwand adaptiert haben. Amalric bewegt sich in einem cineastischen Kanon, welcher über die Jahre von Giganten wie Duvivier, Renoir, Carné, Clouzot, Hathaway, Chabrol, Melville, Tavernier und Tarr bearbeitet und geprägt wurde – und erweist sich als würdiger Nachfolger.

Sein La chambre bleue ist ein minutiös konstruiertes Drama auf der Schnittstelle zwischen französischem Autorenkino und dem Hollywood-Melodram der Vierziger- und Fünfzigerjahre, eine versierte Umsetzung von Simenons Vision einer ewig unzufriedenen, vom Leben gelangweilten, von den eigenen Ausbrüchen aber überforderten, ja überwältigten Gesellschaft. Einem Untersuchungsrichter (der leise begeisternde Laurent Poitrenaux) vorgeführt, erinnert sich der verhaftete Unternehmer Julien Gahyde (Amalric) an seine Affäre mit Esther (Stéphanie Cléau), der Frau eines alten Bekannten, mit der er sich ein Jahr lang regelmässig in einem Hotelzimmer – dem Titel gebenden "blauen Zimmer" – traf.

Amalric und Co-Autorin Cléau gehen sparsam mit den Informationen darüber um, weshalb sich Julien in Polizeigewahrsam befindet. Scheint es zu Beginn noch möglich, dass er lediglich als Zeuge aussagt, wird schon bald klar, dass er eines Verbrechens beschuldigt wird. Die Frage, wie – und ob – er dieses begangen hat, ist untrennbar mit seiner Beziehung zu Esther verbunden, ebenso mit den Gedanken, welche er gegenüber seiner Frau Delphine (Léa Drucker) und seiner kränklichen Tochter (Mona Jaffart) hegt.

Julien (Mathieu Amalric) lässt sich auf eine fatale Affäre mit Esther (Stéphanie Cléau) ein.
© Look Now!
In elegant komponierten, immer wieder ungewöhnlich kadrierten Bildern (im klaustrophobischen 4:3-Format) zeigt Amalric, wie sein Julien Gahyde rückblickend versucht, Sinn und Ordnung in seine Aktionen, seine Begierden, seine Äusserungen zu bringen, ohne dass der Zuschauer je genau feststellen könnte, ob mit der "Wahrheit", einer subjektiven Version davon oder lediglich einem verzweifelten Lügengebilde konfrontiert wird. Julien ist ein befangener und damit inhärent unzuverlässiger Erzähler, doch dies scheint für das Urteil über die mehrlagige Geschichte unerheblich zu sein. Worauf La chambre bleue stattdessen hinauswill, ist das konstruktivistische Konzept der uneruierbaren Wahrheit: Julien ist nicht in der Lage, eine Motivation, einen stringenten Denkprozess in seiner Affäre mit Esther zu finden, was eine objektive Beurteilung des Falls letztlich nahezu unmöglich macht. Die Flucht des frustrierten Spiessbürgers ins blaue Zimmer wird für ihn selber zum Mysterium.

Diese Suggestivkraft verbindet Amalrics Film mit Regisseuren wie Chabrol und Renoir; derweil seine stilistischen Inspirationen anderswo zu orten sind: Die von Kameramann Christophe Beaucame streckenweise frontal aufgenommenen Dialogszenen evozieren Yasujiro Ozu; der Einsatz von Grégoire Hetzels klassischem Score scheint dem Stilkatalog eines William Wyler oder eines Douglas Sirk entlehnt. Doch das vielleicht grösste Verdienst von La chambre bleue ist, dass er sich über all seine filmischen Präzedenzen erhebt und eine autonome Handschrift an den Tag legt. Amalric, der Schauspieler, und Amalric, der Regisseur, arbeiten hier beide auf höchstem Niveau.

★★★★

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