Donnerstag, 15. Januar 2015

Relatos salvajes

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

In Relatos salvajes, international vertrieben unter dem Titel Wild Tales, zerlegt der Argentinier Damián Szifrón mit sechs schwarzhumorigen Kurzfilmen die Bestie Mensch und ihren naiven Stolz über die eigene Zivilisiertheit auf genüssliche und vergnügliche Art und Weise.

Geschichte Nummer eins dauert nur knapp fünf Minuten: Eine Gruppe von Flugzeugpassagieren entdeckt, dass sie alle denselben Pechvogel nicht nur kennen, sondern auch ihren Teil zum Scheitern seines Lebens beigetragen haben. Die Situation evoziert die heitere Flug-Farce Los amantes pasajeros, doch anders als Pedro Almodóvar, der als Produzent bei Relatos salvajes mitwirkte, macht Szifrón kurzen Prozess und lässt den Flieger ungespitzt in den Garten eines älteren Ehepaars donnern. Begleitet von Gustavo Santaolallas grossartigem musikalischen Hauptthema – ein Hauch von Morricone –, folgt der Vorspann: Die Namen von Darstellern – der bekannteste unter ihnen wohl Ricardo Darín (El aura, XXY, El secreto de sus ojos, Un cuento chino) –, Technikern und Geldgebern werden über Bilder von Löwen, Adlern, Haien, Tigern und allerlei anderen Wildtieren eingeblendet. Der Mensch ist und bleibt ein wildes Tier, so die Andeutung, selbst in der zivilisiertesten Umgebung.

Von der rabiaten Flugzeug-Ouvertüre arbeitet sich der Film vor zu einem Restaurant in der Pampa, wo sich eine junge Frau (Julieta Zylberberg) an einem Gast rächt, dessen Finanz-Betrügereien ihren Vater in den Selbstmord getrieben haben. Via einer skurril-stationären Neuauflage von Steven Spielbergs Duel – das Segment trägt den sprechenden Titel "El más fuert" ("Der Stärkste") – erreicht Szifrón die Stadt: Hier erleidet ein Sprengmeister (Darín) dank privatwirtschaftlicher Bürokratie einen Nervenzusammenbruch; dort bemüht sich die Schickeria darum, ihrem Gärtner (Germán de Silva) ein Verbrechen anzuhängen. Und zum Schluss wird eine Hochzeitsfeier gnadenlos in ihre blutigen Einzelteile zerlegt.

"Das Phantom der Zivilisiertheit": Damián Szifróns Episodenfilm macht auch vor dem heiligen Brauch der Hochzeit nicht Halt (im Bild: Diego Gentile und Érica Rivas).
© Pathé Films AG
Manche dieser Segmente sind lustiger als andere; gewisse bleiben eher auf Grund von Schauspiel und Inszenierung denn punkto Gehalt in Erinnerung. Was Szifrón hier aber zweifellos gefunden hat, ist ein erfrischend anderer filmischer Modus für die satirische Dekonstruktion menschlicher Heucheleien, hat sich in den letzten Jahren das Kammerspiel-Format von Carnage und Le prénom doch etwas festgefahren. Gerade in der sechsten Episode scheint sich Relatos salvajes eine Scheibe vom späten Luis Buñuel abzuschneiden, indem mit genüsslich abseitiger Sardonie die Gültigkeit bourgeoiser Strukturen hinterfragt wird. Obwohl Braut (Érica Rivas) und Bräutigam (Diego Gentile) beide auf ihre Weise Amok laufen, hält die gut situierte Gästeschaft unbeirrt an den althergebrachten Traditionen fest und beharrt darauf, die leeren bürgerlichen Hochzeitsbräuche abzuarbeiten. In der Manier eines Le charme discret de la bourgeoisie oder eines Le fantôme de la liberté erinnert der Film daran, dass Ehe letztendlich nichts anderes als die religiöse Sanktionierung animalischer Fleischeslust ist. Gemeinsam mit den im argentinischen Kino mittlerweile obligaten Seitenhieben gegen die haarsträubenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im Land erweist sich dies als stärkstes Motiv dieser höchst unterhaltsamen schwarzen Komödie: Gesellschaft merzt das Wilde im Menschen nicht aus; sie verstärkt es nur.

★★★★

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