Sonntag, 4. November 2012

On the Road

Dass eines der Kultwerke der Beat-Generation, Jack Kerouacs autobiografischer Roman On the Road aus dem Jahr 1957, als "unverfilmbar" gilt, ist nicht der einzige Grund, warum Walter Salles' Adaption verhältnismässig viel Aufmerksamkeit erhält. Denn eine Kinoverfilmung ist bereits seit 55 Jahren in Planung, Namen wie Marlon Brando, Francis Ford Coppola, Gus Van Sant, Joel Schumacher, Brad Pitt, Colin Farrell und Ethan Hawke wurden über die Jahrzehnte mit dem Projekt assoziiert. Die mehr als ein halbes Jahrhundert dauernde Pre-Production merkt man dem Film kaum an. Im Gegenteil: On the Road lässt das Gefühl vermissen, auf grosser Literatur zu basieren.

USA, 1947: Der Tod seines Vaters stürzt den Möchtegern-Schriftsteller Sal Paradise (Sam Riley) in eine Lebens- und Schaffenskrise. Hilfe erhält er aus ungewöhnlicher Quelle: Sein Freund Carlo Marx (Tom Sturridge) stellt ihm den rebellischen Dean Moriarty (Garrett Hedlund) und dessen erst 16-jährige Ehefrau Marylou (Kristen Stewart) vor. Die beiden Lebenskünstler faszinieren den eher häuslichen Sal und er macht sich mit ihnen auf, die grosse Weite Amerikas zu durchqueren. Frei nach dem Motto "Sex, Drugs, and Bebop-Jazz" erkunden die Taugenichtse in mehreren Etappen, über mehrere Jahre hinweg, mal zusammen, mal getrennt, das Land, treffen auf Verbündete und Gleichgesinnte wie etwa den exzentrischen Autor Old Bull Lee (Viggo Mortensen) und ertragen Deans Hin und Her zwischen Marylou und Camille (Kirsten Dunst). Derweil macht sich Sal eifrig Notizen, denn den Traum vom grossen amerikanischen Roman hat er noch nicht aufgegeben.

Die Bedeutung von On the Road liegt bekanntermassen in zwei Aspekten: Zum einen wäre da Kerouacs Prosa, welche der literarischen Beat-Kunst praktisch im Alleingang eine Stimme gab. Sie begründete, was Ginsberg und Burroughs in Howl und Naked Lunch zur Vollendung bringen sollten. Zum anderen ist das Buch ein essentielles Stück Kulturgeschichte; es erzählt von der grossen Zeitenwende nach Wirtschaftskrise und Weltkrieg, als die junge, desillusionierte College-Generation – zu jung um gekämpft zu haben, zu alt, um als Kinder zu gelten – nach neuen Ausdrucksformen suchte. On the Road schlägt die Brücke zwischen Amerikas erster Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zu Ende ging, und der zweiten, welche um 1950 ihren Anfang nahm.

Schreiberling Sal (Sam Riley, links) und der rebellische Dean (Garrett Hedlund) ziehen gemeinsam durch die USA.
Walter Salles (Diarios de motocicleta) ist sich beider Tatsachen bewusst. Oft zitiert er das Original Wort für Wort, er lässt die Inkarnationen von Kerouacs Mitstreitern Allen Ginsberg (Carlo Marx) und William S. Burroughs (Bull Lee) ihr Schaffen selbstreflexiv kommentieren – "I'm 21. When I'm 23, I'm gonna write one big poem", so etwa Carlo –, der Plot ist fast sklavisch der Vorlage unterworfen. Stimmig wirkt dies nicht immer. Um dem Sinn und Geist des Autors gerecht zu werden, opfern Salles und Drehbuchverfasser José Rivera die Stringenz, das Ganze wirkt episodenhaft und unausgeglichen. Beziehungen werden eingeführt, nur um gleich wieder von der Bildfläche zu verschwinden; wie genau es zur Freundschft zwischen Sal und Dean kommt, bleibt ebenso offen wie der Zweck von den unnötigen – obgleich schauspielerisch ansprechenden – Gastauftritten von Steve Buscemi und Amy Adams.

Besser schneidet On the Road beim Versuch ab, den Subkultur-Zeitgeist einzufangen. Zwar erweist sich die Palette der Darsteller als unterschiedlich begnadet, wobei mitunter das Gefühl entsteht, man wohne einer Retro-Kostümparty bei. Kristen Stewart und Kirsten Dunst lassen Tiefgang vermissen, während sich Sam Riley, der nach Ian Curtis in Control wieder eine Ikone der Gegenkultur spielen darf, und vor allem Garrett Hedlund wacker schlagen. Glücklicherweise machen die Bilderwelten von Kameramann Éric Gautier viele der erzählerischen Mängel des Films wett. Fast jede Einstellung ist ein kleines Sepia-Kunstwerk – vor allem dann, wenn die streckenweise irritierend hektische Kamera einmal innehält. Mithilfe der stilsicheren Ausstattung gelingt es Salles und Gautier, eine effektive Atmosphäre bittersüsser Nostalgie zu konstruieren. Die Schatten der Vergangenheit sind noch nicht überwunden – auf den Feldern Kaliforniens stehen die Schwarzen und pflücken Baumwolle –, doch die Nuclear Family der sich anbahnenden Fünfzigerjahre kündigt sich bereits auf Werbetafeln im unbebauten Niemandsland an.

"My life on the road": Sal bringt seine Erlebnisse zu Papier.
In diesem Rahmem wird noch einmal die letzte grosse Ära amerikanischer Wanderlust zelebriert. Sal, Dean und Marylou bewegen sich von Algiers, Louisiana, nach San Francisco, von Willcox, Arizona, nach Denver und New York; die USA, von der Kleinstgemeinde bis zur Wolkenkratzer-Metropole, werden abgelaufen und -gefahren. Bewohnt wird das Land von einem grundverschiedenen Volk, ethnisch – in einer der besten Szenen brüstet sich Dean damit, dass seine Tochter englisches, deutsches, irisches, holländisches und schottisches Blut in sich trägt ("100 per cent wonderful") –, aber auch ideologisch, womit On the Road auch hervorragend ins heutige Amerika passt. Der Film spielt in einer romantisierten Zeit, in der ein gebildeter Schreiberling wie Sal von einem Pick-Up-Truck aus Iowa nicht nur als Anhalter mitgenommen wird, sondern von den ebenfalls mitreisenden Hinterwäldlern aufs Herzlichste empfangen wird.

Es fällt schwer, den Vergleich zwischen Walter Salles' Film und der aktuellen Adaption von The Rum Diary nicht zu bemühen, nicht zuletzt, weil Ersterer Sal als eine Art Prototyp von Hunter Thompson inszeniert. Beide versuchen sich an einem Koloss der amerikanischen Untergrundliteratur, beide gehen die Sache zu zahm an. On the Road begeht keineswegs Verrat an Jack Kerouacs Meisterstück, doch er verpasst es, dem Werk ein substantielles filmisches Denkmal zu setzen. Er zieht vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen.

★★★

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