Mittwoch, 28. Februar 2018

Ex Libris: The New York Public Library

Die Dokumentarfilme von Frederick Wiseman eignen sich nur bedingt zu mehreren durchgehenden Visionierungen. Oft dauern sie länger als drei Stunden, sie bleiben konsequent im stummen Beobachtermodus, und sie sind von einer fast schon obsessiven Gründlichkeit, die grossen Wert auf sich wiederholende Mechanismen legt. Wer einen Wiseman ein zweites Mal erleben will, tut dies zumeist in Ausschnitten.

Und das ist völlig in Ordnung so. Denn dieses eine Mal, wo man einen von Wisemans sogenannten "Institutionsfilmen" von A bis Z erlebt, genügt, um zu merken, dass man es hier mit einem unangefochtenen Meister seines Fachs zu tun hat. Der Guardian-Kritiker Peter Bradshaw nannte es "film-making which works from the ground up".

Das ist Wisemans Stil, perfektioniert im Laufe einer inzwischen über 50 Jahre währenden Karriere: Er erarbeitet einen Ort "von Grund auf" – fragt sich, was sich in einer öffentlichen Institution abspielt, zeigt dies in minutiösem Detail und tastet sich so langsam an eine höhere Wahrheit heran. Seine Filme tragen ebenso simple wie expressive Titel: High School (1968), Hospital (1970), Juvenile Court (1973), Racetrack (1985), Central Park (1989), Zoo (1993), Ballet (1995), Public Housing (1997), State Legislature (2006), At Berkeley (2013), National Gallery (2014), In Jackson Heights (2015). Sie gehen der Frage nach, wie moderne Gesellschaften funktionieren.

Gerade in den letzten Jahren wurde der 88-jährige Wiseman so zu einem stillen Verfechter von Bildung, Kunst und Diversität – in einer Zeit, wo alle drei unter politischem Dauerbeschuss stehen. At Berkeley setzt der altehrwürdigen Universität Berkeley, einem intellektuellen Zentrum der 68er-Bewegung, ein 244-minütiges Denkmal. National Gallery befasst sich mit der Bedeutung des Museums als Ort der Erinnerung und der Instruktion. Und In Jackson Heights, der als einer der besten Dokumentarfilme des laufenden Jahrhunderts gefeiert wird, ist ein Liebesbrief an eine der buntesten, multikulturellsten Ecken New Yorks.

Ex Libris: The New York Public Library setzt diesen Strang von Wisemans Schaffen nahtlos fort. Über 197 Minuten – ohne Off-Kommentar, ohne Namenseinblendungen, ohne explizite zeitliche und räumliche Verortung – erhält das Publikum Einblick in den Alltag der New York Public Library (NYPL): in ihre zahlreichen Lesesäle, ihre multimedialen Archive, ihre Kinderecken, ihre öffentlichen Veranstaltungen, ihre Vorstandssitzungen, ihre Gala-Dîners.

Die New York Public Library und ihre Zweigstellen sind unentbehrliche kulturelle Zentren in der US-Metropole.
© Xenix Filmdistribution GmbH
"Eine Bibliothek ist mehr als nur ein Bücherlager", mahnt eine niederländische Rednerin während der Präsentation eines neuen NYPL-Gebäudes, und Ex Libris trägt dieser Mahnung Rechnung. Nicht nur beschäftigt sich die Bibliothek mit weitaus mehr als nur Büchern; sie beschränkt sich auch nicht auf ein einziges Gebäude. Mittels Einstellungen von Strassenschildern und Hausfassaden schlängelt sich Wisemans "Narrativ" durch die Streets und Avenues von New York, von Zweigstelle zu Zweigstelle, markiert durch rote Flaggen mit einem Löwen-Logo – feste Bestandteile des urbanen Gefüges: chinesischer Waschsalon, dominikanischer Fast-Food-Laden, NYPL-Filiale.

So entsteht nach und nach das Bild der Bibliothek als limbisches System einer informierten und aktiven Bevölkerung. Das beginnt mit ihren Bücher- und Kunstsammlungen, ihren Kunstdarbietungen und den von ihr organisierten Diskussionen mit Persönlichkeiten wie Richard Dawkins, Elvis Costello, Patti Smith oder Ta-Nehisi Coates.

"Mehr als nur ein Bücherlager": In der NYPL entsteht die aufgeklärte Gesellschaft von morgen.
© Xenix Filmdistribution GmbH
Doch das ist nur die Oberfläche. Tausende von New Yorkern sind auf das Gratis-WLAN oder die Laptop- und Modem-Ausleihprogramme der NYPL angewiesen, um Zugang zum Internet zu haben. Sie stellt ihre Räumlichkeiten für Blindenschrift-Kurse zur Verfügung, für Informationsveranstaltungen für Behinderte, für Kinder-Förderprogramme, Seminare, Lesezirkel und Senioren-Tanzgruppen. Einwanderer erhalten hier Zugriff auf Ressourcen, die ihnen bei der Integration und der Einbürgerung helfen, sowie auf Zeitungen, Magazine und Filme, die sie aus ihrer Heimat kennen. Zwischen den Bücherregalen ist Platz für Debatten unter Gemeinschaftsarbeitern und Aktivisten.

Durchsetzt ist dieses NYPL-Panoptikum, wie schon National Gallery, von den trockenen, aber unentbehrlichen Gesprächen in unspektakulären Sitzungszimmern, wo Budgets, fiskalische Jahre, Sponsoren, Gönner und die Zusammenarbeit mit der Stadtregierung das Thema sind. Dies sind nie die attraktivsten Szenen in Wisemans Filmen, doch es ist bedeutsam, dass er immer wieder, in jedem erdenklichen Kontext, zu ihnen zurückkehrt: Eine Institution ist kein Elfenbeinturm; sie kann ihren Beitrag nur dann leisten, wenn sie sich an die äusseren Umstände anpassen und auf Veränderungen reagieren kann. Eine gesunde Institution, wie auch eine gesunde Gesellschaft, wächst an ihren Herausforderungen. (Hier liegt ein unerwarteter Berührungspunkt zwischen einer Wiseman-Dokumentation und der NBC-Sitcom Parks and Recreation.)

Die NYPL ermöglicht Introspektion.
© Xenix Filmdistribution GmbH
Insgesamt ist die Botschaft von Ex Libris natürlich nicht dem Zufall überlassen. Wiseman, der im Abspann als Produzent, Regisseur, Schnittmeister und Tontechniker aufgeführt ist, weiss, dass es keine neutrale Kamera gibt – und somit vertritt auch dieser Film, bei aller stiller Beobachtung, eine Weltanschauung, wenn auch keine explizit vertretene Meinung. Das Material, das es in die Endfassung geschafft hat, betont Gleichberechtigung und Emanzipation, Chancengleichheit und aufrichtiges Nachdenken über Privilegien, Kunst und Kultur, Wissenschaft und Forschung, Recherche und Geschichtsbewusstsein, Bildung und bürgerliches Engagement.

Ohne die Nennung auch nur eines einzigen Politikernamens stellt sich Ex Libris gegen mentale und physische Mauern, gegen Antiintellektualismus und die wieder in Mode gekommene Stimmungsmache gegen angebliche "Küsteneliten". Introspektion, wie sie Bibliotheken wie die NYPL ermöglichen, ist trotz des politisch feindseligen Klimas weder elitär noch arrogant. Sie ist das Fundament einer offenen, integrativen Gesellschaft.

★★★★★

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