Donnerstag, 19. Juli 2018

The First Purge

Konzipiert von Regisseur und Drehbuchautor James DeMonaco und produziert vom Horrorstudio Blumhouse (Paranormal Activity, Insidious, Get Out), dreht sich die Purge-Reihe um ein dystopisches Amerika, in dem einmal im Jahr zwölf Stunden lang fast sämtliche Gesetze ausgesetzt werden, was jeweils zu blutigem Chaos auf den Strassen führt. Bekannt ist der perverse Feiertag als "Purge".

Es ist die wohl bizarrste Franchise, die derzeit durch Hollywood geistert. Keiner der inzwischen vier Filme hat es über ein lauwarmes Presseecho hinaus geschafft, keiner fiel komplett durch. Dank vergleichsweise kleiner Budgets können alle als kommerzielle Erfolge verbucht werden; doch zum Kultphänomen wurde The Purge trotzdem nicht. Dennoch wird im September die erste Staffel einer TV-Adaption ausgestrahlt.

Das Eigentümlichste an DeMonacos Kreation ist die Diskrepanz zwischen filmemacherischer Qualität und den Ideen, die dem Ganzen zugrunde liegen. Die Filme pflegen eine Low-Budget-Ästhetik voller schummrig beleuchteter, nebliger Schauplätze, mit denen der Blumhouse-Sparkurs zur stilistischen Handschrift erhoben werden soll. Das allein ist natürlich nicht nur legitim, sondern sogar bewundernswert – ein Hauch von Roger-Corman-Effizienz. Leider aber macht diese Taktik auch vor delikateren Aspekten des Filmhandwerks nicht Halt: vor dem Schnitt etwa, der Kameraführung oder dem Drehbuch. Im Purge-Universum sind überzeugende Figuren und stringente Plots Mangelware.

Und dennoch scheint es, als hätte DeMonaco, als er 2013 The Purge in die Kinos brachte, den Zeitgeist getroffen. Die Handlung war stumpfsinnig, die Charaktere ohne Profil und Tiefe – aber die Vision eines theokratischen Waffenkults an der Spitze der US-Regierung, der mit einer staatlich sanktionierten Gewaltorgie die Gesellschaft von Kriminalität und Armut säubern will, war und ist eine anregende Zuspitzung moderner republikanischer Politik. Blieb dieser satirische Ansatz in The Purge noch angedeuteter Subtext, der sich das Rampenlicht mit einem Nebenplot über vorstädtische Höflichkeitsfassaden teilen musste, wurde er in DeMonacos Sequels Anarchy (2014) und Election Year (2016) konkreter bearbeitet. Im Prequel The First Purge, dem ersten Purge-Film ohne DeMonaco auf dem Regiestuhl, erreicht er einen geradezu radikalen Höhepunkt.

Auf Staten Island wird gegen das Purge-Pilotprojekt demonstriert. Mit dabei ist auch Protagonistin Nya (Lex Scott Davis, Mitte).
© Universal Pictures International Switzerland
Anders als die drei Vorgänger spielt Gerard McMurrays Inszenierung von DeMonacos Drehbuch nicht in der Zukunft, sondern im Jahr 2014 – dem Jahr, in dem die neu an die Macht gekommene "New Founding Fathers of America"-Partei (NFFA) den Purge-Pilotversuch startet. Entworfen wurde das Experiment von der Verhaltensforscherin Dr. May Updale (Marisa Tomei), die darauf hofft, damit den Blutdurst der Menschen ein Jahr lang stillen zu können. Zum Schauplatz wurde New Yorks Staten Island erkoren.

Ausserhalb des Filmuniversums ist 2014 auf Staten Island etwas anderes passiert: Am 17. Juli konfrontierte die New Yorker Polizei den 43-jährigen Afroamerikaner Eric Garner wegen des illegalen Verkaufs von Zigaretten. Nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung wurde er von insgesamt fünf Polizisten eingekreist und von Officer Daniel Pantaleo zu Boden gedrückt. Auf einem Video des Vorfalls ist zu hören, wie Garner elfmal "I can't breathe" sagt, bevor er das Bewusstsein verliert. Auf dem Weg ins Krankenhaus erlitt er einen Herzinfarkt und wurde wenig später für tot erklärt. Gegen Pantaleo wurde keine Anklage erhoben.

Garners Tod sorgte für hitzige Diskussionen über Polizeibrutalität in den USA. Black Lives Matter (BLM) veranstaltete Grossdemonstrationen in seinem Gedenken. Im selben Jahr wurden John Crawford III, Michael Brown, Tamir Rice und viele andere Schwarze unter ähnlichen Umständen getötet. Dasselbe gilt für die Jahre 2015, 2016, 2017 und 2018. Rechtliche Konsequenzen für die Täter bleiben eine Seltenheit.

Nya und ihr Bruder Isaiah (Joivan Wade) versuchen, der nächtlichen Gewaltorgie zu entkommen.
© Universal Pictures International Switzerland
The First Purge nimmt trotz ausschliesslich schwarzer Protagonisten nicht explizit Bezug auf diesen Kontext, doch jede Debatte über McMurrays Film ist unvollständig ohne die Berücksichtigung von BLM, Garner, Brown, Crawford, Rice und deren leider unzähligen Schicksalsgenossen, von Trayvon Martin über Alton Sterling bis Philando Castile. Nicht umsonst endet der Film mit Kendrick Lamars inoffizieller BLM-Hymne "Alright": "We hate po-po / Wanna kill us dead in the street fo sho'".

Natürlich ist DeMonacos Skript keine ausgeklügelte Parabel. Es setzt vorab auf bewährte – teils möchte man auch sagen: altbackene – Genre-Strategien und -Figurenkonstellationen. Hier der gutherzige Drogenkönig (Y'lan Noel), seine Kriminalität verachtende Ex-Freundin (Lex Scott Davis) und deren Bruder (Joivan Wade), dort ein überzeichneter Bösewicht (Rotimi Paul), dessen lächerlicher Sadismus wohl ein Kommentar auf die verheerenden Folgen des "War on Drugs" sein soll.

Auch McMurray und seine Crew erfinden das Franchisenrad nicht neu. Nebel und Dunkelheit stehen weiterhin auf der visuellen Tagesordnung; oft wird erzählt statt gezeigt. Und auch der vierte Teil kommt nicht ohne unnötige Momente, Logiklöcher, Schnittfehler und ins Leere laufende Handlungsstränge aus.

Weisse Milizen treiben ihr Unwesen während der Purge.
© Universal Pictures International Switzerland
Doch die Momente, in denen The First Purge offen politisch wird, entschädigen für jede haarsträubende Frustration. Sie mögen mit der Subtilität eines Vorschlaghammers vorgetragen werden, doch irgendwie passt das zu diesem ungestümen, dreckigen Billig-Thriller. Szenen wie jene, in der Lex Scott Davis' Figur einen in einem Gully versteckten Angreifer, der ihr zwischen die Beine fassen will, mit Pfefferspray abwehrt und als "Pussy-grabbing motherfucker" beschimpft, ist Szenenapplaus wert. Anderswo – fast schon an der Grenze des guten Geschmacks – erschiessen als Polizisten verkleidete Purger Afroamerikaner in einem Sportstadion, begleitet von "America the Beautiful". Es ist der zur Horrorvision weiter gedachte Hass, den die schwarzen Footballspieler erfahren, die in der NFL seit einigen Jahren aus Protest gegen Polizeibrutalität während der Nationalhymne auf die Knie gehen.

Stellenweise ist es angesichts des aktuellen Diskurses in den USA nicht einmal übertrieben, die giftigen Provokationen von McMurray und DeMonaco als mutig zu bezeichnen. Nach und nach kristallisiert sich nämlich eine Jagd von NFFA-finanzierten Milizen auf die Minderheitenbevölkerung Staten Islands heraus. Eingeführt werden diese als weisse Biker mit eisernen Kreuzen auf ihren Fahnen. Wenig später treffen die Protagonisten auf eine Wagenladung Paramilitärs mit Ku-Klux-Klan-Kapuzen. Unter den SWAT-Masken eines Familien ermordenden NFFA-Trupps stecken blonde, blauäugige Quasi-Arier.

Auch Nyas Ex-Freund, der Drogenbaron Dmitri (Y'lan Noel), wird während der Purge-Nacht bedroht.
© Universal Pictures International Switzerland
McMurray und DeMonaco stellen so einen direkten Zusammenhang zwischen der US-Regierung und weissem Ethnonationalismus her – Charlottesville lässt grüssen. Auf eine derartige Bedrohung gibt es in einem Purge-Film nur eine Reaktion: bewaffneten Widerstand. Dass dieser von einem schwarzen Drogendealer ausgeht, illustriert, wie sehr sich diese Franchise mitunter in ihren Metaphern verheddert. Wird hier ein Krimineller zum Retter der Minderheiten erhoben, oder benutzt der Film ihn als Vorwand, um seine nachgerade fetischisierende Darstellung des Blutbads in den KKK-Reihen zu relativieren? Beide Interpretationen sind problematisch.

Und doch haben dieser Film und diese Franchise, in ihrer ganzen chaotischen Widersprüchlichkeit, einen Wert. The First Purge ist wütend, unfokussiert und aktivistisch, bisweilen pubertär und blutrünstig. Er bricht Tabus, macht Fehler, vergreift sich in der Ausdrucksweise. Es ist nicht der Film, den die antirassistischen Bewegungen in den USA, allen voran Black Lives Matter, verdienen. Aber er ist ein weiteres Indiz dafür, wie stark sie die Kultur inzwischen prägen. Gut so.

★★★

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