Mittwoch, 14. März 2018

The Purge

Als James DeMonacos dystopischer Horrorthriller The Purge 2013 in die Kinos kam, liess er die Kritik ziemlich kalt. Die Prämisse – dass die USA in naher Zukunft Kriminalität und Arbeitslosigkeit auf ein Minimum reduziert, indem während zwölf Stunden pro Jahr jedes Verbrechen legal ist – sei absurd, meinten viele, die Logik dahinter haltlos, der darauf aufbauende Film schlecht konzipiert und erzählt.

Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, die Welt ist in vielerlei Hinsicht eine andere geworden, The Purge mittlerweile auf Netflix verfügbar. Und wer sich im Jahr 2018 auf dessen Netflix-Seite verirrt und trotz seines Rufes Play drückt, wird mit einem bizarren Filmerlebnis belohnt: einer an sich durchschnittlichen Genre-Produktion, die, nach Jahren der Reifung, weitaus intelligenter wirkt als ihr viele zugestehen wollen.

Im Zentrum von DeMonacos Film steht die Familie Sandin: Nach Jahren der Geldsorgen ist das Ehepaar James (Ethan Hawke) und Mary (Lena Headey) endlich in der Oberschicht angekommen – dank James' hervorragenden Leistungen als Verkäufer von Haus-Sicherheitssystemen, welche die Reichen und Schönen vor den plündernden und mordenden Teilnehmern der alljährlichen Gesetzeslosigkeit, genannt "The Purge", schützen sollen.

Zusammen mit ihren beiden Kindern, dem rebellischen Teenager Zoey (Adelaide Kane) und dem schüchternen Charlie (Max Burkholder), verschanzen sie sich auch in diesem Jahr wieder in ihrer Villa. Aber als ein verwundeter Obdachloser (Edwin Hodge) vor der Tür um Einlass bettelt, hat Charlie ein Einsehen und lässt ihn herein. Doch das entgeht dessen Verfolgern nicht: Bald schon ist das Sandin-Anwesen umstellt von maskierten jungen "Purgern", deren Anführer (Rhys Wakefield) droht, ins Haus einzudringen und die ganze Familie umzubringen, wenn ihnen "das obdachlose Schwein" nicht ausgeliefert wird.

Einige der Vorwürfe, die 2013 gegen The Purge erhoben wurden, haben kaum an Gültigkeit verloren – insbesondere jene, die sich gegen DeMonacos filmemacherische Qualitäten richten. Sein Film ist eine seltsame Mischung aus der Art von staatlich sanktionierter Gewalt, wie wir sie in der Hunger Games-Trilogie zu sehen bekommen, und David Finchers Einbruchsthriller Panic Room (2002). Während Amerika zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens im blutigen Chaos versinkt, setzt DeMonaco auf klaustrophobisches Erzählen und zeigt, wie die Sandins in den eigenen vier Wänden eine Nacht lang ums nackte Überleben kämpfen.

Mary (Lena Headey) und James Sandin (Ethan Hawke) versuchen, mit ihren beiden Kindern die gesetzeslose "Purge" in ihrem befestigten Anwesen auszusitzen.
© Universal Pictures Switzerland
Daraus ergeben sich mehrere Probleme. Zum einen verschenkt The Purge damit einen Teil seiner Innovation: Das Spannende an diesem Film ist seine Prämisse – die Welt, die er entwirft. Amerikanische Vorzeigefamilien, deren McMansion sich in eine Todeszone verwandelt, hingegen ist ein Eckpfeiler des modernen Horrorgenres.

Zum anderen tappt DeMonaco, der auch das Drehbuch schrieb, in die Genre-Falle, seine Figuren unentwegt schreckliche Entscheidungen treffen zu lassen, damit er sie möglichst einfach in Horrorszenarien verwickeln kann. Zoey, die zum Zweck eines frustrierend kurzlebigen und letztlich bedeutungslosen Nebenplots einen Freund (gespielt vom farblosen Tony Oller) zur Seite gestellt bekommt, verbringt den Grossteil der Laufzeit damit, entrüstet aus Zimmern zu stapfen und sich vor ihren bewaffneten Eltern zu verstecken. Charlie, eingeführt als Technik-Genie, verliert seinen Scharfsinn und seine Beobachtungsgabe, sobald eine Szene nach Dramatik verlangt. Und auch bei James und Mary sucht man vergebens nach konsequenten Charakterzügen.

Als ein Obdachloser bei den Sandins Zuflucht sucht, ist ihr Haus plötzlich von bewaffneten "Purgern" umstellt.
© Universal Pictures Switzerland
Alles in allem ist The Purge die Definition von Horror-Massenware, über deren formale Defizite man noch lange reden könnte. Purger-Angriffe werden nicht weniger als dreimal auf dieselbe Art und Weise aufgelöst. Die Dunkelheit, welche die meiste Zeit herrscht, soll Atmosphäre schaffen, macht das Geschehen aber vor allem unnötig unübersichtlich. Und anstatt einer ernstzunehmenden Gefahr wird den Sandins der lächerliche Rhys Wakefield als Antagonist entgegengestellt, dessen Vorstellung einer beängstigenden Darbietung eine minderwertige Imitation von Heath Ledgers Joker zu sein scheint.

Trotzdem ist das Ganze leidlich unterhaltsam und – so unglaublich es auch scheinen mag – überraschend weitsichtig. Schien die Vision einer US-Regierung, welche die gesamte Bevölkerung eine Nacht lang für vogelfrei erklärt, 2013 vielleicht noch weit hergeholt, hat sie inzwischen einen anderen Effekt.

Gesetze für zwölf Stunden auszuhebeln, um den Menschen zu erlauben, "ihr inneres Biest" zu besänftigen und ihre angestaute Wut loszuwerden – mit der Begründung, die Massnahme steigere die nationale Produktivität –, klingt verdächtig wie republikanische Politik in der Ära Trump. Immerhin vertreten inzwischen Parteivertreter auf der nationalen Bühne weissen Nationalismus. Die solidarische Grundidee des sozialen Sicherheitsnetzes wird als unfair bezeichnet. Steuererleichterungen für Superreiche und deren Firmen werden dem Volk als Triumph der Arbeiter- und Mittelklasse verkauft. Schiessereien an Schulen sollen verhindert werden, indem man Lehrerinnen und Lehrer bewaffnet.

Der Anführer der Purge-Bande (Rhys Wakefield) stellt den Sandins ein Ultimatum: Gebt uns den Obdachlosen oder wir bringen euch um.
© Universal Pictures Switzerland
Dieser Hang zu unüberlegter, hyperkapitalistischer, realitätsferner Politik, die in erster Linie Partikularinteressen dient, existierte bei den Republikanern – der Partei, die nicht daran glaubt, dass Barack Obama ein Amerikaner ist – schon vor Trumps Wahl zum US-Präsidenten. Es liegt also nahe, dass DeMonaco an die "Grand Old Party" dachte, als er eine totalitäre, theokratisch-nationalistische Partei ersann, die im Purge-Universum die Macht an sich reisst und die Purge einführt.

So liegt denn der Clou des Films auch nicht darin, dass es die angebliche Katharsis einer jährlichen Mordorgie ist, die Arbeitslosigkeit und Kriminalität praktisch ausgerottet hat. Vielmehr ist dies die Folge finanzieller Ungleichheit: Wer reich ist, kann sich Sicherheitssysteme, Waffen und kugelsichere Westen kaufen. Wer arbeitslos ist, wird während der Purge zu Freiwild. Es ist der radikalkapitalistische US-Individualismus, bis zu seinem logischen Ende gedacht – der sich selbst regulierenden Gesellschaft.

In der Villa der Sandins beginnt eine nervenaufreibende Jagd auf Leben und Tod, vor der auch James' und Marys Kinder, Charlie und Zoey (Adelaide Kane) nicht sicher sind.
© Universal Pictures Switzerland
Es dürfte kein Zufall sein, dass die Rolle des designierten Purge-Opfers – des namenlosen Obdachlosen – dem afroamerikanischen Schauspieler Edwin Hodge zugedacht wurde. Dies spitzt die Satire des Films zu, indem darauf angespielt wird, dass der republikanische Traum vom bewaffneten Individualisten weissen Amerikanern vorbehalten ist. Besonders symbolträchtig wirkt in diesem Zusammenhang die Szene, in der James und Mary sich zum Widerstand gegen die Purger vor der Tür entschliessen – und Hodge verwundet und an einen Stuhl gefesselt zurücklassen.

So sehr The Purge auf der narrativen Ebene enttäuschen mag, so spannend ist es, sich über seine politische Dimension Gedanken zu machen. Seine Ideen, gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung, welche die USA – und die Welt – in den letzten fünf Jahren durchlebt haben, erheben einen bestenfalls durchschnittlichen Genrefilm zu einem spannenden und streckenweise sogar nuanciert argumentierten Zeitdokument.

★★★

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