Mittwoch, 2. Mai 2018

Avengers: Infinity War

ACHTUNG: Diese Rezension enthält Spoiler.

In seiner Kritik des heiss erwarteten 19. Films der "Marvel Cinematic Universe"-Reihe (MCU) liess sich der New Yorker-Autor Richard Brody zu einer reichlich zweifelhaften Behauptung hinreissen: "Avengers: Infinity War", heisst es schon im Titel des Artikels, "ist eine zweieinhalbstündige Werbung für alle vorhergehenden Marvel-Filme."

Und damit nicht genug, moniert Brody doch obendrein das Fehlen klassischer Figurenzeichnungen: Die zahlreichen Superhelden-Charaktere, deren Abenteuer das Zielpublikum des dritten Avengers-Ensemblefilms in nicht weniger als 18 Grossproduktionen mitverfolgen konnte, "werden nicht eingeführt; sie treten einfach auf, ihr Verhalten definiert von den Schablonen der anderen Filme."

Die beste Antwort auf diese Vorwürfe lieferte der kanadische Autor und Akademiker Anthony Oliveira in einem ebenso witzigen wie klarsichtigen Twitter-Thread: "Man könnte dasselbe über die Figuren in Homers Ilias sagen." Was einst der Olymp war, ist heute die serialisierte Popkultur, "die davon ausgeht, dass man ein gewisses Grundwissen mitbringt". Ein Theaterbesucher im alten Griechenland wusste genauso von den Eigenheiten des Zeus wie ein einigermassen aufmerksamer Kinobesucher des 21. Jahrhunderts mindestens eine vage Ahnung davon hat, wer Iron Man ist.

Es ist diese bemerkenswerte kulturelle Wiedererkennbarkeit, welche die Filmabteilung von Marvel Comics, inzwischen von Disney aufgekauft, in den letzten zehn Jahren vorangetrieben hat. Innert vergleichsweise kurzer Zeit avancierten Figuren wie Captain America, Thor oder die Guardians of the Galaxy dank des MCU vom hauptsächlich amerikanischen Comic-Phänomen zu globalen Ikonen.

Was diese Ikonen seit Jon Favreaus Iron Man (2008) durchgemacht haben, kulminiert nun in Avengers: Infinity War, dem vielleicht ambitioniertesten Crossover aller Zeiten. Nachdem in seinen Vorgängern Helden, Bösewichte und das ultimative Objekt der Begierde – die sogenannten "Infinity Stones", mit deren Hilfe eine mächtige Person das Universum unterjochen könnte – eingeführt wurden, findet diese Konstellation hier nun einen vorläufigen Höhepunkt.

Thanos (Josh Brolin) plant, mit Hilfe der sogenannten "Infinity Stones" die Hälfte allen Lebens im Universum auszulöschen.
© Marvel Studios
Die Avengers sind seit den Ereignissen in Captain America: Civil War (2016) – inszeniert von den Infinity War-Regisseuren Anthony und Joe Russo – zerstritten. Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr.) hat sich den Superhelden-Regulierungsmassnahmen ergeben und widmet sich zunehmend seinem Privatleben, während Captain America (Chris Evans) als Staatsfeind Nummer eins im Untergrund weilt.

Bruce Banner alias Hulk (Mark Ruffalo) und Thor (Chris Hemsworth) befinden sich nach Thor: Ragnarok (2017) indessen auf einem Irrflug durchs Universum. Dort machen sie in der ersten Szene des Films erstmals persönlich Bekanntschaft mit Marvels Erzschurken: dem Titanen Thanos (Josh Brolin), der sich die Infinity Stones unter den Nagel reissen will, um die Hälfte allen Lebens im Universum auszulöschen – aus "humanitären" Gründen.

Unmöglich, alle Handlungsstränge, die in Infinity War zusammengeführt werden, aufzuzählen, sind doch ausser Jeremy Renners Hawkeye und Paul Rudds Ant-Man sämtliche bekannten MCU-Gesichter auf der Leinwand zu sehen. Darin liegt auch der primäre Reiz dieses Films: Rasante Actionsequenzen wechseln sich ab mit dem Aufeinandertreffen von Figuren, die sich entweder noch gar nie oder schon lange nicht mehr gegenüber gestanden haben. Wer hätte gedacht, dass sich die Guardians of the Galaxy (Chris Pratt, Zoe Saldana, Dave Bautista, Pom Klementieff, Bradley Cooper, Vin Diesel) so gut mit Thor verstehen? Wer freute sich nach Black Panther (2018), dem besten Marvel-Film, nicht darauf, Shuri (Letitia Wright), der technisch versierten Schwester des Black Panther (Chadwick Boseman), dabei zuzusehen, wie sie die designierten Avengers-Tüftler in den Schatten stellt?

Superhelden-Gipfeltreffen: Hier kämpfen Spider-Man (Tom Holland, links), Iron Man (Robert Downey Jr., 2. v. l.) und die Guardians of the Galaxy Drax (Dave Bautista, Mitte), Star-Lord (Chris Pratt, 2. v. r.) und Mantis (Pom Klementieff) Seite an Seite.
© Marvel Studios
Richard Brody hat insofern Recht, als Infinity War ohne Hintergrundwissen – sei es ein grober Überblick über den MCU-Kanon oder eine emotionale Anbindung an seine Protagonisten – nicht funktioniert, nicht funktionieren kann. Dem Film dies anzukreiden, ist aber weder fair noch produktiv. Es ist schlicht nicht möglich, ein gigantisches Crossover-Event zu produzieren und gleichzeitig die in 18 Abenteuern dargelegten Charakterzüge und Konflikte der Beteiligten noch einmal aufzurollen. Franchisen verlangen nun einmal mündige Zuschauerinnen und Zuschauer – und Marvel belohnt diese Mündigkeit einmal mehr.

Die Kehrseite des Ganzen ist jedoch, dass auch Infinity War noch nicht der Endpunkt der Infinity-Stones-Saga ist. Diese Rolle wird (nach aktuellem Wissensstand) seiner noch titellosen Fortsetzung zufallen, dem insgesamt 22. Eintrag ins MCU, ebenfalls inszeniert von den Russo-Brüdern – vorgesehener Kinostart: Mai 2019.

Somit ist dieser Film keine Werbung für seine Vorgänger, wie Brody argumentiert, sondern eher ein Cliffhanger in Spielfilmlänge – der Prolog für den letzten Teil des letzten Teils. Für das vorliegende Werk bedeutet das konkret, dass er eines seiner zentralen Versprechen nicht halten kann: Einer der Gründe, warum Fans Infinity War entgegenfieberten, war die Aussicht, etablierte Helden sterben sehen zu müssen. Denn schon länger wird erwartet, dass Marvel – wie Thanos – sein von Schauspielern mit auslaufenden Verträgen bevölkertes Universum in absehbarer Zukunft zurechtstutzen wird: Nicht nur neue Helden sollen her, sondern auch neue Darsteller in alten Rollen.

Auch der Black Panther (Chadwick Boseman) ist mit von der Partie.
© Marvel Studios
Doch Infinity War reicht es nur zu einem Lippenbekenntnis. Abgesehen von zwei bis drei mehr oder weniger definitiv wirkenden Todesfällen belassen es die Autoren Christopher Markus und Stephen McFeely bei einem zunächst schockierend wirkenden, aber letztlich bedeutungslosen Massaker: Ein gutes Dutzend Helden – darunter mehrere Figuren mit bereits angekündigten Sequels – löst sich kurz vor dem Abspann in seine Einzelteile auf. Dass die Überlebenden in gut einem Jahr – Infinity Stones sei Dank! – versuchen werden, dies rückgängig zu machen, steht zu keinem Zeitpunkt in Frage. Alles andere wäre ein für Marvel uncharakteristischer Akt der Selbstsabotage – und, ganz nebenbei, Vertragsbruch.

Das MCU bleibt damit seinem Ruf des ewigen Aufschubs treu. Allzu frustrierend ist diese faule Ausrede von einem Ende aber dennoch nicht: Zum einen steht davor ein gerade für langjährige, treue Zuschauer hochgradig unterhaltsames Actionspektakel – ein 19. Teil, der frisch genug ist, um einen die Teile 20, 21 und 22 freudig erwarten zu lassen. Zum anderen wirkt ein Jahr Wartezeit in einer Franchise, die zwischen zwei direkt aufeinander aufbauenden Filmen gerne drei Jahre wartet, schon fast wie ein Schnellschuss.

★★★★

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