Mittwoch, 11. November 2015

Dheepan

Es war wohl kein Zufall, dass sich im Mai 2015, inmitten der anhaltenden internationalen Flüchtlingskrise, die Cannes-Festivaljury um Joel und Ethan Coen dazu entschloss, die Goldene Palme einem Beitrag zu verleihen, der sich um die Erlebnisse einer Familie von Kriegsmigranten dreht. Doch Jacques Audiards Dheepan bewegt sich weit abseits von moralisierendem Betroffenheitskino oder warnendem Konservatismus. Für ihn ist das Phänomen kein Politikum, für das eine Lösung gefunden werden muss, sondern eine Realität, mit der es sich zu arrangieren gilt.

Audiard (De battre mon cœur s'est arrêté, Un prophète, De rouille et d'os) macht es einem nicht einfach, seinen Film durch die verzerrte Optik vorgefasster Meinungen zu sehen, da er von Anfang an auf altbekannte Figurenstereotypen verzichtet. Als Protagonist dient ihm Sivadhasan (grossartig: Antonythasan Jesuthasan), ein Soldat der militant-separatistischen tamilischen Gruppierung Tamil Tigers, der am Ende des srilankischen Bürgerkriegs nach Europa emigriert, um der Verfolgung durch die Regierung zu entgehen. Er erhält den Namen eines Toten, Dheepan, und bekommt eine Frau (Kalieaswari Srinivasan) und ein neunjähriges Mädchen (Claudine Vinasithamby) zur Seite gestellt, die sich als Dheepans dem Krieg zum Opfer gefallene Ehefrau Yalini und Tochter Illayaal ausgeben sollen.

Das Identifikationsbild der sich den Schrecken des Krieges widersetzenden Familie ist damit grundsätzlich ausser Kraft gesetzt; im Zentrum stehen ein mutmasslicher Kriegsverbrecher und zwei ihm unbekannte Menschen, die ihre Angehörigen bei seinem Kampf verloren haben. Simpel ist am Krieg nichts, und auch mit der Flucht davor ist sein Schatten nicht aus der Welt geschafft. Für Dheepan, Yalini und Illayaal trifft das nicht nur in Form von Trauma und der fundamental problematischen neuen Familiensituation zu, sondern auch auf noch viel sichtbarere Art und Weise.

Unter dem falschen Namen Dheepan flieht der Tamil-Tigers-Soldat Sivadhasan (Antonythasan Jesuthasan) von Sri Lanka nach Frankreich. Um als Familienvater durchzugehen, wird ihm ein neunjähriges Mädchen (Claudine Vinasithamby) zur Seite gestellt.
© filmcoopi
Nachdem die Drei in Frankreich aufgenommen worden sind, werden sie in einen verfallenden Häuserblock am Ortsrand einer Pariser Banlieue verfrachtet. Dort erhält Dheepan Arbeit als Hausmeister; Yalini betreut einen älteren Herrn (Faouzi Bensaïdi); und Illayaal besucht in der nahen Grundschule eine Integrationsklasse. Doch auch der "friedliche" Westen erweist sich als alles andere als konfliktfrei: Sowohl Dheepan als auch Yalini finden schnell heraus, dass ihr neues Zuhause im Brennpunkt eines Problemviertel-Bandenkriegs steht.

Mehr noch als in Un prophète interessiert sich Audiard wenig für dramatische Verstrickungen und eine Handlung im klassischen Sinne. Getragen von Eponine Momenceaus prägnanter, stellenweise aber dennoch verträumt ausschweifender Kameraführung, bewegt sich Dheepan anmutig vorwärts; der Wechsel der Jahreszeiten und die graduelle Anpassung der Figuren an die französischen Gepflogenheiten werden nicht explizit gezeigt, sondern fein angedeutet.

Auch eine Frau (Kalieaswari Srinivasan), die sich als Dheepans Frau Yalini ausgeben muss, begleitet den traumatisierten Kämpfer nach Europa.
© filmcoopi
In eindringlichen, im Stile Asghar Farhadis und Ken Loachs geschriebenen und inszenierten Episoden gräbt der Film tief in die Wunden, die Krieg, Flucht und Neuanfang bei den Protagonisten hinterlassen haben. Sowohl innen als auch aussen tobt der Krieg, in den Köpfen und im Handeln, in den eigenen vier Wänden und draussen auf dem Hof. Nicht selten spielen sich zwischen Dheepan, Yalini und Illayaal uneingespielt wirkende, von ungelenken Pausen durchsetzte Dialoge ab; in der Wohnung herrscht Schweigen; derweil vor den Fenstern des Hausmeister-Appartements Besucher von Baseball-Schläger tragenden Türstehern kontrolliert werden und ab und zu sogar Schüsse abgefeuert werden. In einer der besten Szenen skandiert ein betrunkener Dheepan im Keller seines Wohnblocks mit verzerrtem Gesicht und Tränen in den Augen eine Schlachthymne der Tamil Tigers.

Die Eskalation des unverdrängbaren Traumas, die sich den ganzen Film über abzeichnet, tritt schlussendlich in überraschend schockierender Weise ein, mündet daraufhin aber in einen irritierend antiklimaktischen Epilog, der sich ebenso als idealistische Kapitulation Audiards wie auch als ironisierter Traum deuten lässt. Nicht zuletzt deswegen ist Dheepan ein (noch) weniger leicht verdauliches Werk als Un prophète und De rouille et d'os – und ist aus gerade aus diesem Grund wohl auch der beste Film, den Audiard in den letzten zehn Jahren gedreht hat.

★★★★

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