Dienstag, 30. Juli 2019

The Lion King

Vor langer, langer Zeit – Anfang 2006 – fand irgendwo in einer Disney-Chefetage eine Strategiesitzung statt, die heute beinahe symbolträchtig wirkt: Es hätte die Weichen für die künstlerische Zukunft des Unterhaltungsmagnaten stellen sollen, doch seine Ergebnisse erwiesen sich schliesslich als kapitale Fehlkalkulationen.

Es war das Jahr, in dem Disney die Animationsschmiede Pixar aufkaufte und mit Ed Catmull und John Lasseter zwei Pioniere der Computeranimation an die Spitze der altehrwürdigen Walt Disney Animation Studios berief. Nicht nur hatten beide, als sie zu Disney kamen, bereits einmal als Pixar-CEOs gewaltet: Catmull hatte 1972 Geschichte geschrieben, als er mit der Kurzdokumentation A Computer Animated Hand das Potenzial der noch jungen digitalen Technologien aufzeigte. 23 Jahre später schuf Lasseter seinen eigenen Meilenstein, als er mit Toy Story den ersten komplett computeranimierten Langspielfilm überhaupt drehte.

Zum Zeitpunkt ihrer Berufung hatte Disney seit zwei Jahren keinen klassisch animierten Film mehr gemacht. Nach Home on the Range (2004) sollte damit endgültig Schluss sein – die Zeichentrick-Crews waren schon 2003 aus der Heimat von Mickey Mouse und Donald Duck entlassen worden. Doch diesem Paradigmenwechsel wollten Catmull und Lasseter Einhalt gebieten: Zu diesem Zweck holten sie sowohl die aufgelösten Arbeitsgruppen als auch die legendären Disney-Renaissance-Regisseure Ron Clements und John Musker – die Macher von The Little Mermaid (1989), Aladdin (1992) und Hercules (1997) – zurück an Bord und verkündeten eine neue Ära der Disney-Animation. Es ginge, so Lasseter, um "das Erbe des Studios".

Die Zeichentrick-Offensive entpuppte sich als Rohrkrepierer. Nicht mehr als zwei dieser Filme liess Disney noch auf Home on the Range folgen – das Prinzessinnenmärchen The Princess and the Frog (2009) und ein neues Winnie the Pooh-Abenteuer (2011). Kommerziell blieben beide Produktionen hinter den Erwartungen zurück, woraufhin man zum ursprünglichen Plan zurückkehrte und fortan ausschliesslich auf die 3-D-Karte setzte. Der Erfolg von computeranimierten Filmen wie Frozen (2013), Big Hero 6 (2014), Zootopia (2016) und Moana (2016, inszeniert von Clements und Musker) hat dem Studio zumindest wirtschaftlich Recht gegeben. "Wir haben die Ergebnisse analysiert und Umfragen gemacht", sagte Lasseter vor drei Jahren in einem Interview über das gescheiterte Zeichentrick-Projekt. "Das Publikum fand es zu altbacken."

Simba – der neue Prinz der Savanne.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH
Es lohnt sich, im Jahr 2019 auf diese Episode in der Disney-Historie zurückzublicken. Denn dieser zaghafte Versuch zweier Giganten des 3-D-Entertainments, Kostenoptimierung, Zielgruppen-Marketing und den Erhalt des amerikanischen Big-Budget-Zeichentrickfilms unter einen Hut zu bringen, war in vielerlei Hinsicht der Prolog zu Disneys neuestem Blockbuster-Konzept: Warum neuen Zeichentrick produzieren, wenn sein einziger zählbarer Wert die damit verbundene Nostalgie ist?

Zugegeben, es ist ein geniales Stück Box-Office-Alchemie, auf das Disney hier gestossen ist. Man nehme beliebte Stoffe aus dem eigenen Kanon – Dumbo (1941), Cinderella (1950) The Jungle Book (1967), Beauty and the Beast (1991), Aladdin, The Lion King (1994) –, lege die Kinderfilmklassiker mithilfe berühmter Schauspieler*innen und fortgeschrittener CGI-Technologie als "Realspielfilme" neu auf und Abrakadabra: Die inzwischen erwachsenen Fans der Originale strömen nostalgisch gestimmt – und im Idealfall samt Kind und Kegel – ins Kino, um die bekannten Geschichten in neuem Gewand zu erleben.

Doch inzwischen muss man doch die fast schon naiv anmutende Frage stellen, wo in dieser perfekt geölten Unterhaltungsmaschinerie die Kunst geblieben ist. Das soll, wohlverstanden, nicht als elitärer Aufruf zur philosophischen Nabelschau verstanden werden – mit Kunst ist hier vielmehr der Wert gemeint, über den eine Neuinterpretation unabhängig von ihrer Vorlage verfügt.

Der ungestüme Simba (Stimme: JD McCrary) hat viel von seinem Vater Mufasa (James Earl Jones) zu lernen.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH
Unter den sogenannten "Disney-Live-Action-Remakes" war das bislang zumindest einigermassen gegeben: The Jungle Book (2016) war mit seiner interessanten 3-D-Interpretation von anthropomorphen Tieren eine neuartige Kuriosität, die mit einer Handvoll hervorragender Sprechleistungen von Darstellern wie Idris Elba und Christopher Walken über Jon Favreaus steife Inszenierung hinwegtäuschen konnte. Tim Burtons Dumbo (2019) erweiterte die ursprüngliche Geschichte auf unsinnige, aber zweifellos unerwartete Weise. Bill Condons Beauty and the Beast (2017) und Guy Ritchies Aladdin (2019), die bis dato wohl Unkreativsten ihrer Art, liessen wenigstens in gewissen Momenten eine kritische Auseinandersetzung mit dem Original erkennen.

Mit The Lion King, Favreaus zweitem Disney-Remake, wurde der Bogen nun aber überspannt. Die Wiederauflage des vielleicht populärsten Disney-Renaissance-Titels ist zugleich eine perverse Perfektionierung der "Zeichentrick als vermarktbare Nostalgie"-Formel und eine ästhetische Bankrotterklärung.

Es beginnt bereits damit, dass zwischen der Version von 1994 und jener von 2019 nur bedingt ein Medienwechsel stattgefunden hat. Aus zweidimensionalem Zeichentrick wurde hier nicht ein mit digitalen Tricks angereicherter Realspielfilm, sondern ein fotorealistischer 3-D-Animationsfilm, der sich als "Live-Action" ausgibt: Die Löwen, die hier um die Herrschaft über die Savanne ringen, sehen – besonders in der Totale – täuschend echt aus, bestehen aber ebenso wenig aus Fleisch und Blut wie ihre gezeichneten Vorgänger. Aus Animation wurde Animation, die sich nicht als solche zu erkennen gibt.

Simba trifft seine neuen Freunde, Erdmännchen Timon (Billy Eichner) und Warzenschwein Pumbaa (Seth Rogen).
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH
Das heisst nicht, dass dreidimensionale Animation grundsätzlich ein Problem ist, hat Disney mit Filmen wie Bolt (2008) und Tangled (2010) sowie seiner Kollaboration mit Pixar doch selber seinen Teil dazu beigetragen, dass sich die Computeranimation verdientermassen als essenzielle Trickfilm-Disziplin etablieren konnte.

Doch Animation kommt von "animare", dem lateinischen Wort für "Leben einhauchen". Es ist das Medium, in dem leblose Objekte lebendig werden können, in dem das Unmögliche möglich gemacht wird. Mit der Musical-Anthologie Fantasia (1940) hat Disney, noch unter der Ägide von "Onkel" Walt Disney höchstpersönlich, einen ganzen Film über diese Magie der Animation gedreht – versinnbildlicht durch Mickey Mouse, der als Goethes Zauberlehrling einen Besen zum Leben erweckt. Wollte man die Metapher auf aktuelle Disney-Produktionen ausweiten, wäre Favreaus Lion King wohl das, was dabei herauskommt, als Mickey die Kontrolle über sein wandelndes Haushaltsutensil verliert.

Der gezeichnete Lion King von 1994 funktioniert visuell, weil die sichtbare Künstlichkeit seiner Animation fester Bestandteil des ästhetischen Konzepts ist. Mit viel Aufwand wurden während der Produktion Löwen und andere Tiere studiert, um sie möglichst originalgetreu – also nicht anthropomorphisiert – darzustellen, bevor sie expressiv koloriert und in eine mit Gesangseinlagen durchsetzte Handlung geworfen wurden, die sich an westafrikanischen Epen und Shakespeares Hamlet orientierte. Die Realität savannischen Lebens war Bestandteil des Films, aber nicht dessen Dreh- und Angelpunkt – den Löwen wurde (menschliches) Leben eingehaucht.

Simba, seine beste Freundin Nala (Shahadi Wright Joseph) und Königsberater Zazu (John Oliver) sind das Resultat fortgeschrittenster CGI-Technik.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH
Bei Favreau hingegen soll die Animation dermassen lebensecht sein, dass sie das Publikum vergessen lässt, dass es sich bei den Löwen auf der Leinwand nicht um echte Tiere handelt. Doch weil das Remake in allen anderen Belangen eine mehr oder weniger exakte Kopie des Originals ist – einschliesslich Songs und Shakespeare'scher Intrigen –, öffnet sich zwischen Anspruch und Resultat, zwischen Ästhetik und Inhalt, ein unüberbrückbarer Graben: Diesem Lion King wird Leben entzogen statt eingehaucht. Die einst so mitreissende Geschichte um den Löwenprinzen Simba (hier gesprochen von JD McCrary und Donald Glover), seinen Vater Mufasa (James Earl Jones, wie bereits 1994) und seinen hinterlistigen Onkel Scar (herausragend: Chiwetel Ejiofor) ist eine leb- und seelenlose CGI-Werkschau geworden.

Es ist eigentümlich faszinierend, wie langweilig ein Familienmelodram plötzlich werden kann, wenn es von Figuren vorgetragen wird, die im Namen von zoologischer Akkuratesse der Fähigkeit beraubt werden, Emotionen zu zeigen und zwei Stunden lang, ungeachtet des psychischen Befindens, das gleiche ausdruckslose Löwen-Pokerface tragen. Beim finalen Kampf zwischen Gut und Böse fällt es in der Hitze des Gefechts sogar schwer, die Kontrahenten auseinanderzuhalten.

Scar (Chiwetel Ejiofor) will Mufasa die Herrschaft über die Savanne abjagen.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH
Diese visuellen Voraussetzungen, zu denen auch ein frustrierend konservativer Gebrauch von Farbe gehört, verwandeln gerade die Musicalnummern in bemühte und bemühende Angelegenheiten, da fotorealistische Tiere verständlicherweise nicht in sonderlich aufwändige Choreografien verwickelt werden können, ohne dass ihnen dabei die Realitätsnähe abhandenkommt. Also wird hier vorab en passant gesungen: Scar stolziert an seinen Hyänen-Komplizen vorbei und bellt unmusikalisch ein paar Fetzen von "Be Prepared" in die Runde; Simba, Erdmännchen Timon (Billy Eichner) und Warzenschwein Pumbaa (Seth Rogen) trällern den Wohlfühlsong "Hakuna Matata" vor sich hin, während sie in einer gänzlich ereignislosen Sequenz einen Waldweg entlangschlendern. Irgendwann wird noch ein austauschbarer neuer Song von Beyoncé, die Simbas Freundin Nala ohne erkennbaren Enthusiasmus spricht, eingespielt.

So bemüht der Film auch ist, sich vor dem Original zu verneigen, so sehr bleibt zum Schluss das Gefühl, die beste Hommage wäre eine Absage – oder wenigstens eine Neukonzeption – des Remakes gewesen. The Lion King ist der erste Eintrag in die nicht eben ruhmreiche Franchise der modernen Disney-Remakes, der nicht im Geringsten dazu fähig ist, auf eigenen Beinen zu stehen. Es gibt keinen Moment in Favreaus Film, der im Vergleich zum Original über einen Mehrwert verfügt – keine Innovation, keine Bereicherung, keine anregende alternative Interpretation, und damit keinen Grund, diese Version der gezeichneten jemals vorzuziehen.

"Sag mir, wo die Emotionen sind. Wo sind sie geblieben?"
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH
The Lion King ist filmgewordene Nostalgie – ein gnadenloser autokannibalistischer Akt – und damit vielleicht die logische Konsequenz dessen, was Ed Catmull und John Lasseter im Zuge ihrer Zeichentrick-Offensive widerfahren ist. Sie beriefen sich auf "das Erbe von Disney", initiierten den Neubeginn der Disney-Zeichentrickkultur, wurden von den Gewinnmargen ihrer Versuche enttäuscht und kehrten zum kommerziellen Erfolg der Computeranimation, deren Geburtshelfer sie einst gewesen waren, zurück.

Und nun verwaltet der Disney-Koloss sein Erbe auf seine eigene Art: Wenn sich die alten Formen nicht mehr rentieren, lässt man die wehmütigen Erinnerungen daran eben mit CGI-Technologie gewinnbringend wiederauferstehen. Die Rechnung scheint an den Kinokassen aufzugehen – auch ohne eigenständigen künstlerischen Wert. Stimmen die Zahlen, wird es so weitergehen. Schwierig, hier nicht an den Zauberlehrling zu denken, der seinen lebenden Besen Einhalt gebieten will: "Immer neue Güsse / Bringt er schnell herein, / Ach! und hundert Flüsse / Stürzen auf mich ein."

Mittwoch, 24. Juli 2019

Parasite

© Filmcoopi

★★★★★

"Die bisweilen bizarren Wendungen verkommen niemals zum Selbstzweck, sondern tragen, wie schon in Bongs postapokalyptischem Actionfilm Snowpiercer (2013), entscheidend zur Schärfung der komplexen Motive bei, die hier verhandelt werden. Parasite ist eine rabenschwarze Satire, die mit lakonischem Witz und provokanter Schonungslosigkeit eine Geschichte über Klassenkampf und Klassenidentität erzählt und dabei die oft beschworene Illusion der kapitalistischen Meritokratie aufs Korn nimmt."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar)

Donnerstag, 11. Juli 2019

Visual Albums, "I Am Easy to Find" und "Anima"

© 4AD / Netflix

Es gibt viele Gründe, warum das Beyoncé-Album Lemonade (2016) zu den wichtigsten Kunstwerken dieses Jahrzehnts gehört: Die Scheibe etablierte Beyoncé Knowles-Carter als grössten lebenden Popstar – ein Status, den sie zuletzt mit dem gefeierten Konzertfilm Homecoming (2019) über ihren Auftritt beim letztjährigen Coachella-Festival weiter zementierte. Lemonade, erschienen im Jahr der Trump-Wahl, setzte neue Standards für die politische Seite der Popmusik und hatte somit wohl Vorbildfunktion für Performances wie Childish Gambinos "This Is America" oder Stormzys viel diskutiertes Glastonbury-Konzert vor wenigen Wochen.

Und das Album war – nicht zuletzt – ein sogenanntes "Visual Album", das, dem Namen entsprechend, nicht nur aus Musik, sondern auch aus Filmmaterial besteht, welches das Gehörte zusätzlich kontextualisiert. Lemonade war nicht das erste Werk dieser Art – je nach Definition lässt sich schon Richard Lesters Beatles-Film A Hard Day's Night (1964) als Visual Album bezeichnen –, sondern reihte sich ein in eine lange, illustre Reihe von Verschmelzungen von Musik und Bild, von Pink Floyds The Wall (1982) über Princes Purple Rain (1984) bis hin zu Beyoncés eigenem Beyoncé (2013).

Doch es scheint, als habe Lemonade eine breite Wiederentdeckung des Visual Albums angestossen. Allein im ersten Halbjahr 2019 sind bereits zwei prominente Vertreter dieses Mediums erschienen: Zur Veröffentlichung der neuen LP der Alternative-Rock-Gruppe The National hat Mike Mills (Beginners, 20th Century Women) den experimentell erzählten Kurzfilm I Am Easy to Find gedreht, während Paul Thomas Anderson (There Will Be Blood, Phantom Thread) zum dritten Soloalbum des Radiohead-Frontmannes Thom Yorke den selbsternannten "One Reeler" Anima beisteuerte.

Unterlegt von Song-Fragmenten aus dem gleichnamigen The-National-Album, porträtiert I Am Easy to Find das Leben einer Frau – von Anfang bis Ende gespielt von Alicia Vikander, ohne CGI und Alters-Make-up – von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Situiert wird das Gezeigte – gefilmt in wunderschönem, scharfem Schwarzweiss – mithilfe von Untertiteln, die in ihrer lyrischen Schlichtheit wie eine Modernisierung der Zwischentitel aus der Stummfilmzweit wirken ("The feeling of being alone", "Surprised at how much others delude themselves").

Wer Mike Mills kennt, weiss, was zu erwarten ist. Wie die jeweiligen Enden von Beginners (2010) und 20th Century Women (2016) ist auch I Am Easy to Find vor allem an der Frage interessiert, welche Spuren eine einzelne Person auf der Welt hinterlässt. Und wie in seinen Langspielfilmen kommt Mills auch hier zum Schluss, dass jede und jeder grösser als er oder sie selbst ist, dass wir alle mehr berühren, mehr beeinflussen, mehr bewegen als wir je wissen können. Im Zusammenspiel mit den melancholischen Klängen von The-National-Sänger Matt Berningers Stimme entsteht so eine berührende fiktive Biografie, deren emotionale Kraft zwar nicht von der Hand zu weisen ist, die sich aber auch dem Vorwurf der Manipulation nicht gänzlich entziehen kann.

Im Zuge seiner beiden bekanntesten Regiearbeiten hat Mills ein feines Gespür dafür entwickelt, wie er ein Publikum zu Tränen rühren kann. In I Am Easy to Find wirkt der Einsatz dieser Kniffe bisweilen aber, als filmte er auf Autopilot: erste Liebe, Selbstzweifel, Selbstfindung, Krebs – für die grob skizzierte Alicia Vikander gilt exakt dasselbe wie für Ewan McGregor und Christopher Plummer in Beginners und für Annette Bening, Elle Fanning und Greta Gerwig in 20th Century Women. Universalität und sachdienliche Vereinfachung liegen hier empfindlich nahe beieinander.

Alicia Vikander in I Am Easy to Find.
© 4AD
Letztlich ist I Am Easy to Find ein kompetent inszeniertes Schattentheater – ein Film, in dem Figurentypen eine schablonenhafte Geschichte erzählen, bei der das Umgehen jeglicher Spezifik zum Konzept zu gehören scheint. Dazu passt die Rolle der Musik: Die mitunter herrlich verqueren Texte von The National ("I'm scared that I won't have the balls to punch a Nazi") sind nebensächlich; die Songs dienen einzig der atmosphärischen Unterstützung – purer Pop, auf den sich potenziell jedes nur erdenkliche Gefühl projizieren lässt.

Im Vergleich zu Mills' Film wirkt Paul Thomas Andersons Anima mehr wie eine Sammlung klassischer Videoclips. Ein Mann (Thom Yorke), eine Frau (Dajana Roncione) und eine Menge namenloser Statisten tanzen sich zu ausgewählten Songs von Yorkes Album Anima wie im Halbschlaf durch surreal-dystopische Räume.

Anderson, zu dessen Motiv-Repertoire ein unbändiges Interesse an Kultur und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gehört, hat sich hier eindeutig vom Hollywood der Zwischenkriegsjahre inspirieren lassen. Yorkes schüchternes Werben um Roncione erinnert an die vergleichbaren Bemühungen, die Charlie Chaplin in City Lights (1931) oder Buster Keaton, auf der Kuppelstange einer Lokomotive sitzend, in The General (1926) unternehmen. Es wird getanzt, als hätten Busby Berkeley und Gene Kelly sich in Modern Dance unterrichten lassen.

Handwerklich und choreografisch sind diese visuellen Umsetzungen von Yorkes kargen elektronischen "Klang-Dekonstruktionen" atemberaubend. Kreativität und Vision dieses viertelstündigen Traumtanzes stehen zu keinem Zeitpunkt infrage, ebenso wenig Thom Yorkes Qualitäten als chaplinesker Bewegungskünstler.

Doch wie seine Schauplätze – und viele von Andersons Spielfilmen – ist Anima geprägt von einer emotionalen Kälte, die in direktem Kontrast zur Geschichte in ihrem Zentrum steht. Yorke und Roncione sind Dreh- und Angelpunkt dieser impressionistischen Anekdote, doch ähnlich wie Alicia Vikander in I Am Easy to Find bleiben sie Typen, unscharf umrissene Romantiker, deren Abenteuer ganz und gar dem Formalismus untergeordnet wird. Ohne sich sichtlich von seinem Protagonisten-Paar zu entfernen, scheint das Ganze die beiden irgendwann dennoch zu vergessen und zu beschliessen, dass die formale Brillanz der Unternehmung der Aufmerksamkeit des Publikums würdiger ist. Der Mensch rückt in der Hintergrund, der Tanz, die kollektive Bewegung, in den Vordergrund.

Thematisch mag dies stimmig sein – immerhin spielt der Film ja in einer gleichgeschalteten, sedierten Gesellschaft –, doch das ist eben die Krux der postmodernen Kunst: Das performative Reproduzieren jener Verhältnisse, die innerhalb eines Werkes angeprangert werden, ist ein theoretischer Ansatz, der sich nur schwer befriedigend umsetzen lässt. So bleiben die spielerischen Verweise auf Chaplin, Keaton und Berkeley unergiebige Referenzen: Sie werden imitiert, aber kaum weitergedacht. Insofern passt Anima perfekt in den Anderson-Kanon, dessen Filme als Gedankenexperimente oft am besten funktionieren.

Dajana Roncione und Thom Yorke in Anima.
© Netflix
Es lässt sich argumentieren, dass Anima und I Am Easy to Find, obwohl sie in manchen Bereichen herausragende Arbeit leisten, illustrieren, was für ein heikles Unterfangen Visual Albums sind. Sowohl Anderson als auch Mills schaffen es zwar, die Musik von Thom Yorke respektive The National zu einem visuell beeindruckenden, thematisch spannenden Kurzfilm zu verdichten, der ihren jeweiligen Sensibilitäten als Regisseur entspricht – doch in letzter Konsequenz misslingt ihnen der Brückenschlag zwischen den Medien. Während Mills The National zu einer letztlich austauschbaren Geräuschkulisse für seine eigene Philosophie macht, verheddert sich Anderson in seiner Hommage an Kino, Musik und Tanz. Darüber zu sprechen, lohnt sich aber allemal.

I Am Easy to Find – ★★★
Anima – ★★★

Mittwoch, 10. Juli 2019

Photograph

© Filmcoopi

★★★

"Anstatt auf grosse Emotionen verlässt sich Batra auf einen sachlich-schlichten Erzählstil. Da aber Rafi und Miloni – trotz guter Leistungen von Nawazuddin Siddiqiui und Sanya Malhotra – nicht sonderlich scharf umrissene Figuren sind, wirkt diese Zurückhaltung nicht subtil, sondern kühl und distanziert. Die einzige grosse Ausnahme bildet die allerletzte Szene des Films, mit der Batra eine wunderschöne selbstreflexive Verneigung vor der Magie der Kino-Romantik gelungen ist."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar)

Dienstag, 2. Juli 2019

Shaft

© Netflix / Warner Bros. Pictures



"Obwohl auch hier finstere Verbrecher, Schiessereien und kernige Sprüche auf dem Programm stehen, wollen Regisseur Tim Story (Ride Along) und die Drehbuchautoren Kenya Barris (Black-ish) und Alex Barnow das Ganze offenbar mit Sitcom-Humor aufpeppen – eine Entscheidung, die gründlich daneben geht. Hier werden den Darstellern, insbesondere dem sporadisch amüsanten Samuel L. Jackson, Witze und Dialogzeilen aufgebürdet, die nicht nur uninspiriert, sondern sehr oft auch verblüffend reaktionär sind."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar)