Donnerstag, 25. September 2014

Der Kreis

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Wenige westeuropäische Länder liegen filmkulturell und -politisch dermassen brach wie die Schweiz, wo Kreativität bei den Förderstellen auf eher wenig Gegenliebe stösst. Für frischen Wind sorgt die Halbdokumentation Der Kreis, welche lediglich von ihren Darstellern an wahrer Grösse gehindert wird.

Dass das Schweizer Kino spätestens seit der Jahrtausendwende ein trauriges Bild abgibt, ist gemeinhin bekannt und, womöglich abgesehen von den vehementesten Zelluloid-Patrioten, akzeptiert. Olivier Moeschler zeigt in seinem Buch "Der Schweizer Film" auf, wie die hiesige siebte Kunst in die Lage geraten ist, in der "staatliche Fokussierung auf den Kassenerfolg" den Ton angibt. Florian Keller hat einen viel diskutierten Artikel verfasst, in dem er pointiert den helvetischen Hang zum "Schissfilm" analysiert und zerlegt – Diagnose: Die Schweizer Filmschaffenden, oder zumindest die verantwortlichen Behörden, scheuen vor jeglichem Traditionsbruch, jeglicher Bemühung, dem Publikum ein Kinoerlebnis ausserhalb der Norm zu bieten, zurück, was über die Jahre zu gefälligen Nichtigkeiten wie Sternenberg, Jeune homme oder Stationspiraten geführt hat. Und sogar in die Populärkultur hat diese Misere bereits Eingang gefunden: "Sie het Zürigschnetzlets gmacht und säit, 'I ha Zürigschnetzlets gmacht'", besingt Manuel Stahlberger im Lied "Schwizer Film" die frustrierende Angst vor dem Unkonventionellen und der damit verbundenen Zuschaueremanzipation.

In diesem Kontext darf Stefan Haupts Dokudrama über die mehrsprachige Zürcher Homosexuellenzeitschrift Der Kreis, welche zwischen 1943 und 1967 als Nachfolgepublikation von Freundschafts-Banner (1932), Schweizerisches Freundschafts-Banner (1933–1936) sowie Menschenrecht (1937–1942) erschien und während der Fünfzigerjahre die weltweit einzigen schwul-lesbischen Grossanlässe organisierte, durchaus als Erfolg bezeichnet werden. Haupt verschmilzt in Der Kreis seine Erfahrungen in der Gattung der Dokumentation (I’m Just a Simple Person, Downtown Switzerland, Sagrada – el misteri de la creació) mit denen, die er als Regisseur von Spielfilmen wie Utopia Blues oder How About Love gesammelt hat: Gespielte Szenen über den Kreis-Alltag ab 1957 gehen nahtlos über in Interviews mit überlebenden Beteiligten. Die Konzeption sprengt die etablierten Genregrenzen; die Thematik – die Schweiz als Land, in dem Homosexualität, anders als etwa in Deutschland, schon relativ früh entkriminalisiert wurde, Zürich als "liberalsti Stadt vo de Wält", anhaltende Vorbehalte in der Bevölkerung, diskriminierende Polizeimassnahmen – erhält in der Historiografie in der Regel weniger Aufmerksamkeit als die berühmt-berüchtigten Globuskrawalle von 1968 und ist somit in den Medien bloss marginal präsent. Ein "Schissfilm" ist Der Kreis definitiv nicht. 

Die Kreis-Abonnenten Ernst Ostertag (Matthias Hungerbühler, links) und Röbi Rapp (Sven Schelker) verlieben sich während der Fünfzigerjahre im LGBT-Mekka Zürich.
© Ascot Elite Entertainment Group
Dreh- und Angelpunkt des Films ist die Beziehung der Kreis-Lesezirkel-Mitglieder Ernst Ostertag (gespielt von Matthias Hungerbühler) und Röbi Rapp (Sven Schelker), welche 2003, nach 46 gemeinsamen Jahren, als erstes homosexuelles Paar in der Schweiz amtlich getraut wurden und welche in den dokumentarischen Passagen des Films spannende Einblicke in die um 1960 schwer schikanierte, ausgegrenzte LGBT-Szene gewähren. Trotz eines etwas holprigen Drehbuchs – die eingestreuten kontemporären Anspielungen auf Joseph McCarthys "Nazi-Methoden", Camus, de Beauvoir und den Besuch der alten Dame wirken allzu forciert – gelingt Haupt die Verbindung von anregender Oral History und sozialhistorischem Drama mit aktueller Relevanz recht gut; Letzteres ergänzt Ersteres anstatt es zu reproduzieren. Mit Ausnahme des äusserlich John Waters nachempfundenen Anatole Taubman erleidet Der Kreis jedoch in schauspielerischer Hinsicht total Schiffbruch. Auch das überzeugendste Konzept ist einem Cast nicht gewachsen, welcher pauschal in deklamatorischen Sprechrhythmus sowie überbetonte Mimik und Gestik verfällt; hieran zerbricht die Illusion. Das Schweizer Kino hat noch einen weiten Weg vor sich. Doch das Jahr 2014, welches uns Der Goalie bin ig und Der Kreis gegeben hat, lässt auf eine bessere Zukunft hoffen.

★★★

Mittwoch, 24. September 2014

Of Horses and Men

© filmcoopi

★★

"Just what one is supposed to gain from seeing Of Horses and Men remains obscure up to the not-so-bitter end. Even though it may motivate hopeful close readings, it is nowhere near interesting, arresting, or indeed astute enough to sustain such efforts for a very long time."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 18. September 2014

The Wind Rises

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Eine Ära geht zu Ende: Nach elf Filmen gab der japanische Animationsmeister Hayao Miyazaki, Mitbegründer des weltberühmten Studio Ghibli, im August 2013 seinen Rücktritt bekannt. Sollte sich dieser bestätigen, so hat er mit The Wind Rises ein grandioses Altersopus hinterlassen.

Wozu braucht diese Welt Kunst? Wenn es möglich ist, diese leider immer noch allzu häufig gestellte Frage in Form eines Films zu beantworten, dann hat es Miyazaki mit seiner Biografie des japanischen Flugzeugdesigners Jiro Horikoshi (1903–1982), dem führenden Ingenieur hinter den gefürchteten Weltkriegs-Kampffliegern Mitsubishi A5M und Mitsubishi A6M Zero, geschafft. The Wind Rises – der Titel ist von der Linie "Le vent se lève! Il faut tenter de vivre!" aus Paul Valérys Gedicht "Le Cimetière marin" abgeleitet – ist ein zutiefst bewegendes cineastisches Gedicht, eine abwechselnd erhebende und melancholische Ode ans Schöpfertum, dessen Werke den kühnsten Träumen Form zu geben und Flügel zu verleihen vermögen, schliesslich aber von der pragmatisch gesinnten Menschheit wieder zurecht gestutzt und an den profanen Utilitarismus gekettet werden.

Der vom Fliegen begeisterte Jiro (gesprochen von Hideaki Anno, selber ein bedeutender Anime-Künstler) entschliesst sich im Kindesalter dazu, wie sein Idol, Flugpionier Giovanni Battista Caproni (Nomura Mansai), Flugzeuge nicht steuern, sondern entwerfen zu wollen. Verrichtet er als arrivierter Mitsubishi-Designer seine Arbeit aber im Namen der Ästhetik, sind Vorgesetzte, Regierung und deutsche Bündnispartner jedoch nur an einem interessiert: Wie lassen sich die Horikoshi-Modelle bewaffnen? Während einer Sitzung gibt Jiro zu bedenken, sein neuester Entwurf würde sich ohne eingebaute Gewehre erheblich flinker bewegen, was seine Kollegen in brüllendes Gelächter ausbrechen lässt. (Neben allem anderen ist The Wind Rises auch ein Film darüber, wie sich Japan zwischen den Weltkriegen darum bemühte, den Weg in die Moderne zu finden.)

Dass Technik eine autonome Kunstform ist, dass ihre inhärente Schönheit erst unter politisch-ideologischem Missbrauch dem oft beklagten zerstörerischen Potential weicht – all dies beschreibt der Pazifist Miyazaki mit beeindruckender Subtilität. Ein blutrotes Feuerband am Horizont genügt ihm, eine Parallele zwischen dem verheerenden Kanto-Erdbeben von 1923 – eine fantastische, beängstigende, an Szenen in Isao Takahatas Grave of the Fireflies erinnernde Sequenz, in der Bilder und Tondesign perfekt ineinander greifen – und dem Kriegsschrecken zu ziehen, den Jiros Flieger ab den Dreissigerjahren in alle Winkel des pazifischen Raumes brachten.

"Jiro Dreams of Flying": Jiro Horikoshi (Stimme: Hideaki Anno) stellt seine Leidenschaft für das Entwerfen von Flugzeugen in den Dienst der japanischen Regierung.
© Frenetic Films
Doch der dramaturgisch bisweilen etwas unstete Film erzählt nicht vom moralischen Scheitern seines Protagonisten, der sich trotz grosser Liebe zu seiner tuberkulosekranken Ehefrau Nahoko (Miori Takimoto) nie ganz von seiner zeitraubenden Arbeit lösen kann. Vielmehr porträtiert Miyazaki mit Jiro den archetypischen Künstler, welcher dazu gezwungen ist, seine frei schwebenden Träume mit den Anforderungen der Realität zu vereinen. So ist The Wind Rises letztlich auch ein anmutiges Selbstporträt, in dem das vielleicht prominenteste Motiv aus Miyazakis Schaffen – das Fliegen – endgültig ins Zentrum gerückt und ästhetisch perfektioniert wird. Nach den Titelfiguren in Nausicaä of the Valley of the Wind, My Neighbor Totoro, Kiki’s Delivery Service und Porco Rosso, der Heldin des Oscargewinners Spirited Away sowie allen Beteiligten im unterbewerteten Meisterstück Castle in the Sky erhebt sich nun der Meister in Gedanken selber in die Höhe. Das Resultat sind farbenprächtige Tableaux von berückender Schönheit; The Wind Rises rangiert unter den visuell begeisterndsten Ghibli-Werken. "Ein Künstlerleben", meint Caproni einmal zu Jiro, "währt zehn gute Jahre". Miyazakis währte deren 35. 

★★★★★

Donnerstag, 11. September 2014

Qu'est-ce qu'on a fait au Bon Dieu?

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?, der jüngste Komödien-Kassenschlager aus Frankreich – "der neue Intouchables", wie allenthalben zu hören ist – bietet amüsanten Kulturschock-Humor, doch der mit allzu viel Personal bevölkerte Film geht mit seinem Potential zu verschwenderisch um.

"Was haben wir dem lieben Gott nur zu Leide getan?", wehklagen Monsieur Claude (wunderbar: Christian Clavier) und Madame Marie Verneuil (Chantal Lauby), nachdem ihre jüngste Tochter Laure (Élodie Fontan) ihnen ihren Ehemann in spe, den schwarzen Ivorer Charles Koffi (Noom Diawara), vorgestellt hat. Für das gutbürgerliche, katholische, überzeugt gaullistische Ehepaar wurde damit der Bogen vollends überspannt; noch weiter scheint ihre Toleranz nicht zu reichen, haben sie doch erst gerade, nach einem desaströsen Familientreffen und einem versöhnlichen gemeinsamen Weihnachtsfest, ihren Frieden mit der Gattenwahl ihrer drei anderen Töchter geschlossen: Isabelle (Frédérique Bel) ehelichte den muslimischen Anwalt Rachid (Medi Sadoun), Odile (Julia Piaton) den erfolglosen jüdischen Unternehmer David (Ary Abittan) und Ségolène (Émilie Caen) den chinesischstämmigen Bankier Chao (Frédéric Chau). Und nun droht also die Ankunft des charmanten Charles, dessen Vater (Pascal Nzonzi) wenig erfreut ist über die geplante Vermählung seines Sohnes mit einer Vertreterin der "weissen Aggressoren", die fragile Harmonie zu torpedieren. 

Philippe de Chauverons sympathischen Film mit dem Millionen-Erfolg Intouchables von Olivier Nakache und Éric Toledano zu vergleichen, tut ihm beileibe keinen Gefallen. Die Zuschauerzahlen mögen ähnlich beeindruckend sein; auch die Thematik, welche vor dem Hintergrund erstarkender Front-National-Xenophoben abgehandelt wird, ist derjenigen des Vorgängers verwandt; doch Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu? ist – sowohl als Komödie als auch als soziokulturell relevantes Werk – in jederlei Hinsicht der unterlegene Film. Teil des Problems ist bei der Plot-Konzeption zu suchen: Monsieur Verneuils Weg zur Akzeptanz seiner multikulturellen Familie ist willkürlichen Zeitsprüngen unterworfen; zwischen einzelnen Sequenzen liegt nicht selten mehr als ein Jahr, was einen stringenten Erzählfluss verunmöglicht. Als noch irritierender jedoch erweist sich der schiere Überfluss an Protagonisten: Nicht nur fehlt dadurch einigen Akteuren jegliches Profil – so etwa den gänzlich austauschbaren Isabelle, Odile und Ségolène; dem Film kommt so auch die emotionale Zugkraft abhanden. Während Intouchables von der hervorragend ausgeleuchteten Freundschaft seiner beiden Hauptfiguren lebte, erschöpft sich der Reiz von Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu? in seinen leider zu dünn gesäten Kalauern.

Claude (Christian Clavier, vorne Mitte) und Marie Verneuil (Chantal Lauby, vorne rechts) finden keinen Gefallen an ihren Schwiegersöhnen, darunter dem Juden David (Ary Abittan, hinten 2.v.l.) und dem Muslim Rachid (Medi Sadoun, hinten rechts).
© Frenetic Films
Zugegeben, es sind lustige Kalauer. Gerade das Zusammenspiel von Rachid, David und Chao, welche, genau wie Claude und Marie, zur Stereotypisierung und zu rassistischen Seitenhieben neigen, führt zu diversen köstlichen Momenten; auch die karikiert-bigotten Vorurteile Koffi Seniors gegenüber dem europäischen Kontinent sorgen für manchen Lacher. Doch letztendlich ist der Humor eher hemdsärmelig denn bissig; die ernsthaften Ansätze (so etwa der unbehagliche Hyper-Gallizismus, den Claudes Schwiegersöhne demonstrativ an den Tag legen), omnipräsent in Intouchables, weichen bis zum Schluss den Klischees einer konventionellen romantischen Komödie, in der die kulturellen Unterschiede mit einem ordentlichen Gelage unter Männern, die zwischenmenschlichen Konflikte mit der Lösung einer haarsträubend unlogischen Parade von Missverständnissen aus der Welt geschafft werden. Was bleibt, ist das Gefühl einer vergebenen Chance.

★★

Sonntag, 7. September 2014

La chambre bleue

Mit seiner Verfilmung von Georges Simenons 1964 erschienenem Roman La chambre bleue reiht sich Mathieu Amalric – hauptberuflich Schauspieler (Rois et reine, Munich, Le scaphandre et le papillon), wenngleich er für seine Komödie Tournée 2010 in Cannes sowohl mit dem Regiepreis als auch mit der FIPRESCI-Kritikertrophäe geehrt wurde – in eine erlesene Sammlung von Filmemachern ein, die das Schaffen des legendären belgischen Literaten des 20. Jahrhunderts für die Leinwand adaptiert haben. Amalric bewegt sich in einem cineastischen Kanon, welcher über die Jahre von Giganten wie Duvivier, Renoir, Carné, Clouzot, Hathaway, Chabrol, Melville, Tavernier und Tarr bearbeitet und geprägt wurde – und erweist sich als würdiger Nachfolger.

Sein La chambre bleue ist ein minutiös konstruiertes Drama auf der Schnittstelle zwischen französischem Autorenkino und dem Hollywood-Melodram der Vierziger- und Fünfzigerjahre, eine versierte Umsetzung von Simenons Vision einer ewig unzufriedenen, vom Leben gelangweilten, von den eigenen Ausbrüchen aber überforderten, ja überwältigten Gesellschaft. Einem Untersuchungsrichter (der leise begeisternde Laurent Poitrenaux) vorgeführt, erinnert sich der verhaftete Unternehmer Julien Gahyde (Amalric) an seine Affäre mit Esther (Stéphanie Cléau), der Frau eines alten Bekannten, mit der er sich ein Jahr lang regelmässig in einem Hotelzimmer – dem Titel gebenden "blauen Zimmer" – traf.

Amalric und Co-Autorin Cléau gehen sparsam mit den Informationen darüber um, weshalb sich Julien in Polizeigewahrsam befindet. Scheint es zu Beginn noch möglich, dass er lediglich als Zeuge aussagt, wird schon bald klar, dass er eines Verbrechens beschuldigt wird. Die Frage, wie – und ob – er dieses begangen hat, ist untrennbar mit seiner Beziehung zu Esther verbunden, ebenso mit den Gedanken, welche er gegenüber seiner Frau Delphine (Léa Drucker) und seiner kränklichen Tochter (Mona Jaffart) hegt.

Julien (Mathieu Amalric) lässt sich auf eine fatale Affäre mit Esther (Stéphanie Cléau) ein.
© Look Now!
In elegant komponierten, immer wieder ungewöhnlich kadrierten Bildern (im klaustrophobischen 4:3-Format) zeigt Amalric, wie sein Julien Gahyde rückblickend versucht, Sinn und Ordnung in seine Aktionen, seine Begierden, seine Äusserungen zu bringen, ohne dass der Zuschauer je genau feststellen könnte, ob mit der "Wahrheit", einer subjektiven Version davon oder lediglich einem verzweifelten Lügengebilde konfrontiert wird. Julien ist ein befangener und damit inhärent unzuverlässiger Erzähler, doch dies scheint für das Urteil über die mehrlagige Geschichte unerheblich zu sein. Worauf La chambre bleue stattdessen hinauswill, ist das konstruktivistische Konzept der uneruierbaren Wahrheit: Julien ist nicht in der Lage, eine Motivation, einen stringenten Denkprozess in seiner Affäre mit Esther zu finden, was eine objektive Beurteilung des Falls letztlich nahezu unmöglich macht. Die Flucht des frustrierten Spiessbürgers ins blaue Zimmer wird für ihn selber zum Mysterium.

Diese Suggestivkraft verbindet Amalrics Film mit Regisseuren wie Chabrol und Renoir; derweil seine stilistischen Inspirationen anderswo zu orten sind: Die von Kameramann Christophe Beaucame streckenweise frontal aufgenommenen Dialogszenen evozieren Yasujiro Ozu; der Einsatz von Grégoire Hetzels klassischem Score scheint dem Stilkatalog eines William Wyler oder eines Douglas Sirk entlehnt. Doch das vielleicht grösste Verdienst von La chambre bleue ist, dass er sich über all seine filmischen Präzedenzen erhebt und eine autonome Handschrift an den Tag legt. Amalric, der Schauspieler, und Amalric, der Regisseur, arbeiten hier beide auf höchstem Niveau.

★★★★

Donnerstag, 4. September 2014

Guardians of the Galaxy

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Iron Man, Hulk, Thor, Captain America – die klingenden Namen der Avengers garantieren der Filmabteilung von Marvel Comics seit nunmehr sechs Jahren konstant stattliche Umsätze. Nun wird in Guardians of the Galaxy eine weniger bekannte Heldentruppe ins Rampenlicht gerückt. Dem Spass ist das keineswegs abträglich.

Wer mit beinahe jeder Produktion die 500-Millionen-Dollar-Marke an den Kinokassen knackt, der kann getrost einmal ein Wagnis wie die Adaption der unter den nicht einschlägig Informierten weitestgehend unbekannten Guardians of the Galaxy-Comics eingehen. Es ist nicht zuletzt dieser Liebe zum vollständigen eigenen Kanon zu verdanken, dass Marvel der Konkurrenz von DC schon längst den Rang abgelaufen hat. Während bei DC Drehbuchautoren an Pressekonferenzen Comic-Fans beleidigen, die Aufmerksamkeit strikt den inzwischen praktisch miteinander verschmolzenen Aushängeschildern Batman und Superman gilt und potentiell ergiebigen Figuren wie Martian Manhunter, Green Arrow oder – allen voran – Wonder Woman der Sprung auf die Leinwand auf Grund ihrer "unrealistischen" Natur verwehrt wird, erfreut sich Stan Lees Marvel an der kunterbunten Vielfalt ihrer nicht selten haarsträubenden Charaktere. DC schweigt vergangene Fehlschläge (Batman & Robin) zu Tode; Marvel beweist Selbstironie und ruft dem Publikum in James Gunns Guardians of the Galaxy das schon fast vergessene Desaster Howard the Duck (1986) in Erinnerung. DC brütet über der "lächerlichen" Prämisse von Wonder Woman; Marvel und Gunn erheben einen schiesswütigen Waschbären und einen sprechenden Baum zu Protagonisten.

Trotz der nicht selten hohen Qualität der Einträge in die Avengers-Reihe bietet die Sammlung von Marvels "B-Prominenten" in Guardians of the Galaxy eine willkommene Abwechslung zum solide etablierten Figurenkreis des Studios. Statt nordischer Götter (Thor), Genies in mechanischen Anzügen (Iron Man), genetisch veränderter Soldaten (Captain America) und nuklearer Wutungetüme (Hulk) fokussiert sich Gunn, Regisseur der Superhelden-Satire Super, auf den Erdling Peter Quill alias Star-Lord (TV-Komödiant Chris Pratt auf Kurs Richtung Star-Status), welcher 1988 nach dem Tod seiner Mutter vom Alien-Banditen Yondu (Michael Rooker) adoptiert wurde. Als Peter auf einem verlassenen Planeten eine mysteriöse Kugel entdeckt und damit ins Visier des ausserirdischen Warlords Ronan (Lee Pace) gerät, trifft er auf Gamora (Zoe Saldana), Ziehtochter von Avengers-Erzfeind Thanos (Josh Brolin), den wortgewandten Muskelprotz Drax the Destroyer (Wrestler Dave Bautista) sowie das "dynamische" Kopfgeldjäger-Duo Rocket (Stimme: ein herausragender, allerdings kaum erkennbarer Bradley Cooper) und Groot (Stimme: Vin Diesel) – Ersterer ein hochintelligenter, aus einem Forschungslabor entflohener Waschbär, Letzterer ein humanoider Baum, welcher nur den Satz "I am Groot" (von Diesel mit erstaunlicher Varietät gesprochen) von sich geben kann. Obwohl die einzelnen Figuren grundverschiedene Ziele verfolgen und sich gegenseitig mehreren Auftraggebern auszuliefern gedenken, sehen sie sich gezwungen zusammen zu spannen, um der Bedrohung Ronans trotzen zu können.

"Band of Misfits": Die interstellar gesuchten Kriminellen (v.l.) Gamora (Zoe Saldana), Rocket (Stimme: Bradley Cooper), Peter Quill (Chris Pratt), Groot (Stimme: Vin Diesel) und Drax (Dave Bautista) vereinen sich zu den Guardians of the Galaxy.
© Marvel Studios
Zwar vermag Guardians of the Galaxy mit seiner Geschichte kaum zu überraschen – er folgt dem dramaturgischen Schema der Avengers-Filme –, doch er sprüht nichtsdestoweniger förmlich vor Fantasie: Im Stile von Star Trek und der Romanserie The Hitchhiker's Guide to the Galaxy von Douglas Adams ist es Gunn und seiner Crew hier gelungen, ein lebendiges, mannigfaltiges Universum voller individueller Schauplätze und variantenreicher Alien-Spezies zu schaffen. Zudem unterstreicht der durchgehend unterhaltsame Film Marvels Ruf, im Vergleich zu DC nuanciertere, mehrdimensionale Figuren erschaffen zu haben, auf eindrückliche Art und Weise. Gerade abseits, mitunter aber auch inmitten der (exzellent animierten) Actionsequenzen zeichnet sich Guardians of the Galaxy mit durchaus emotionalen Charaktermomenten aus, in denen besonders – man hätte es nicht für möglich gehalten – Bradley Coopers Rocket Raccoon zu glänzen weiss. Ein Blockbuster mit dem Herz am rechten Fleck.

★★★