Donnerstag, 29. Mai 2014

X-Men: Days of Future Past

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Nach elfjähriger Absenz kehrt Regisseur Bryan Singer zur X-Men-Film-Franchise zurück, mit der er das Superheldenkino des neuen Jahrtausends lancierte. Days of Future Past, der insgesamt siebte Eintrag in die Reihe, bietet routiniert-stilsichere Comic-Unterhaltung.

Noch nicht einmal die Hälfte des Jahres 2014 ist vorüber, und dennoch hatten die Kinogänger seit Januar bereits dreimal die Gelegenheit, die Adaption einer Marvel-Comicreihe zu sehen. Im März liessen die Brüder Anthony und Joe Russo den ikonischen Captain America in The Winter Soldier im Stile eines Verschwörungsthrillers der Siebzigerjahre gegen finstere Regierungsschergen antreten, während Marc Webb im April Andrew Garfield ein zweites Mal im Kostüm von Spider-Man über die Leinwand flitzen liess. Ersterer war ein Beleg dafür, wie politisch amerikanisches Mainstream-Kino nach wie vor sein kann; Letzterer erfüllte seinen Zweck als kunterbunte Superhelden-Posse.

Und nun folgt also X-Men: Days of Future Past, einer der am sehnlichsten erwarteten Blockbuster des Jahres. Darin führt Bryan Singer, welcher der Franchise – zum Leidwesen vieler Fans – 2004 nach X-Men und X2 den Rücken kehrte, um für DC den kritischen Flop Superman Returns zu drehen, drei Erzählstränge zusammen: jenen, den Brett Ratner in The Last Stand (2006) baumeln liess – mehrere der Titel gebenden Mutanten starben oder verloren ihre Kräfte –; die Charakterentwicklung des unzerstörbaren Wolverine (Hugh Jackman), welche in X-Men Origins: Wolverine (2009) und The Wolverine (2013) aufgebaut wurde; sowie die Anfänge der X-Men, welche in den Sechzigerjahren von den jungen Mutanten Charles Xavier (James McAvoy) und Erik Lehnsherr (Michael Fassbender) gegründet wurden, gesehen in Matthew Vaughns Prequel/Reboot First Class (2011).

In der in einer nahen Zukunft angesiedelten Rahmenhandlung von Days of Future Past kämpfen die langjährigen Gegenspieler Charles alias Professor X (Sir Patrick Stewart) und Erik alias Magneto (Sir Ian McKellen) – der homoerotische Aspekt der Beziehung wird von Singer endlich, wenn auch sehr subtil, aufgegriffen – wieder auf derselben Seite: Riesige Roboter, die sogenannten Sentinels, haben Menschen und Mutanten an den Rand des Aussterbens gebracht, also schicken die beiden Elder Statesmen Wolverines Bewusstsein in seinen jüngeren Körper, um im Jahr 1973 den Lauf der Geschichte zu ändern. Dazu ist es vonnöten, die Gestaltwandlerin Mystique (Jennifer Lawrence), Magnetos einstige Mitstreiterin, davon abzuhalten, den Wissenschaftler Bolivar Trask (Game of Thrones-Star Peter Dinklage), den Begründer des Sentinel-Programms, zu ermorden.

Jung trifft Alt:Charles Xavier (James McAvoy, links) steht seinem älteren Ich (Sir Patrick Stewart) gegenüber.
© 2013 Twentieth Century Fox Film Corporation.



Wenn Captain America: The Winter Soldier ein kleines Meisterstück des subversiven Genrekinos und The Amazing Spider-Man 2 ein Musterbeispiel für eine unverhohlen spielfreudige Comicverfilmung waren, dann ist X-Men: Days of Future Past irgendwo in der Mitte dieses Spektrums anzusiedeln. Obwohl Bryan Singer weitestgehend auf eine markante Handschrift verzichtet – Farbpaletten, Kompositionen und Bilddramaturgie sind effizient, aber tendenziell austauschbar – und die bei Singer sonst so prominente politische Dimension eine eher marginale Rolle spielt, zeichnet sich sein Film durch erzählerische Stringenz, sorgfältige Figurenzeichnung – schon immer einer Stärke der X-Men-Projekte –, heitere Charakterkomödien-Elemente (Highlight: der pfeilschnelle Jungspund Quicksilver, von Evan Peters wundervoll gespielt) und geradezu makellose Effekte aus. First Class mag nach erstmaliger Sichtung einen stärkeren Eindruck hinterlassen haben, doch Days of Future Past erweist sich schlussendlich als der geschlossenere Film.

★★★

Donnerstag, 22. Mai 2014

Godzilla

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Der König der Monster ist zurück: Exakt 60 Jahre nach dem japanischen Original, 16 nach dem ersten rein amerikanisch produzierten Katastrophenstreifen um die gigantische Urzeit-Echse, zieht Regisseur Gareth Edwards mit Godzilla sämtliche CGI-Register. Das Nachsehen haben die menschlichen Akteure.

In gewisser Hinsicht ist Edwards' 160-Millionen-Dollar-Produktion die Apotheose von Ishirō Hondas Godzilla (1954), auch bekannt als Gojira – ein Portmanteau aus den japanischen Wörtern "gorira" ("Gorilla") und "kujira" ("Wal"). Benutzte Hondas Kaiju-Meilenstein mit der durch Atombomben erweckten Titelfigur noch einen Mann im Gummianzug, der Modellhäuser und -wolkenkratzer in Grund und Boden stampfte, steht Edwards das ganze filmtricktechnische Arsenal des 21. Jahrhunderts zur Verfügung, um den Kern der Franchise – eine Parabel auf die Zerstörungskraft der Nuklearenergie – so fotorealistisch wie möglich auf die Leinwand zu bannen.Und tatsächlich brennt Edwards mit Godzilla ein fulminantes visuelles Feuerwerk ab.

Nach Roland Emmerichs gleichnamigem, an allen Ecken und Enden ungenügendem Eintrag (1998) in die "altehrwürdige" Nippon-Reihe besinnt sich der Brite auf deren Anfänge zurück: Die Erzählung wurde, anders als Emmerichs Machwerk, wieder an den pazifischen Feuerring – zwischen Manila und Las Vegas, den historischen Schauplatz der nuklearen Kriegsführung – verlegt. Edwards' Godzilla gleicht mit seiner bärenartigen Schnauze und seinen kurzkralligen Baumstamm-Beinen wieder weniger dem mit Rückenstacheln aufgemotzten Tyrannosaurus rex, der bei Emmerich in New York wütete, als der schwerfälligen, bulligen Monstrosität aus den Tokusatsu-Produktionen der japanischen Toho-Studios. Mit einer Grösse von gut 100 Metern gibt das oft mit den besinnungslosen, weder guten noch bösen Shinto-Gottheiten der Zerstörung verglichene amphibische Reptil eine beeindruckende Erscheinung ab. Sein ikonischer Schrei, mit dem er sich in Edwards' Film in den Kampf gegen zwei prähistorische Parasiten-Kreaturen – auch sie von akutem Gigantismus befallen – stürzt, geht durch Mark und Bein. Wenn bei der finalen Auseinandersetzung Alexandre Desplats Musikscore die atmosphärisch-verstörenden Kompositionen György Ligetis aus Kubricks 2001: A Space Odyssey zitiert, Gojira in Zeitlupe seinen atomaren Feueratem zum Einsatz bringt und dabei halb San Francisco in Schutt und Asche legt, wird in Sachen überzeugendem CGI-Spektakel sogar Guillermo del Toros Kaiju-Liebeserklärung Pacific Rim (2013) in den Schatten gestellt. Thematische Gravitas und beste Popcorn-Unterhaltung halten sich in diesen Szenen gekonnt die Waage.

 "The Return of the Kaiju": Godzilla (inzwischen ohne Mann im Kostüm, dafür mit CGI) läuft in San Francisco ein.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Es ist entsprechend schade, dass diese Klasse in der Plot-Konzeption von Drehbuchautor Max Borenstein, wenn überhaupt, nur vereinzelt zu finden ist. Zu seinem Glück ist Godzilla allein bereits ein atemberaubendes wandelndes Symbol, sodass die Tatsache, dass sich die Raffinesse seines Skripts überwiegend auf kinematografische Selbstreflexivität – "In 1954, we awakened something", sagt der vom soliden Ken Watanabe gespielte Wissenschaftler Ishirō (!) Serizawa, wohl unterschwellig auch auf das von Gojira begründete Genre verweisend –, nicht allzu schwer ins Gewicht fällt. Auf der menschlichen Ebene jedoch werden die Skript-Schwächen umso schmerzlicher offenkundig: Ein Nuklearforscher (Bryan Cranston) wird nach dem Tod seiner Frau (Juliette Binoche) zum scheinbar paranoiden Eremiten, dem es aber dennoch gelingt, seinen im Militär aktiven Sohn (Aaron Taylor-Johnson) von der Existenz der gefährlichen Urzeit-Ungetüme zu überzeugen. Auch Sally Hawkins und David Strathairn sind in diesen oft in Klischees versinkenden Passagen dabei, mit begrenztem Einfluss auf das Geschehen. Letztendlich sind diese ersten zwei Drittel des rund zweistündigen Films aber ohnehin nur dazu da, überwunden zu werden. Was zählt, ist Godzilla – und der kommt seinen Verpflichtungen vortrefflich nach.

★★★

Donnerstag, 15. Mai 2014

Still Life

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Der vielfach ausgezeichnete anglo-italienische Produzent Uberto Pasolini (The Full Monty) erweist sich in seiner erst zweiten Regiearbeit (nach Machan) auch als feinfühliger Filmemacher. Auf sympathisch spartanische Art und Weise geht er in der Charakterstudie Still Life die grossen Themen Leben und Tod an.

Gäbe es einen Preis für das beste Casting, dann dürfte man die Besetzung von Eddie Marsan als Hauptdarsteller in Still Life zum engeren Favoritenkreis zählen. Marsan ist ein altbekanntes Gesicht im britischen und amerikanischen Kino; in Martin Scorseses Gangs of New York wirkte er mit, in Alejandro González Iñárritus 21 Grams, für Mike Leigh agierte er in Vera Drake und Happy-Go-Lucky; auch in Blockbustern wie V for Vendetta, Hancock, War Horse, Snow White and the Huntsman und Guy Ritchies Steampunk-Sherlock Holmes-Filmen war er zu sehen. Doch berühmt ist er trotz dieser stattlichen Karriere nicht – zu klein sind seine Auftritte, zu gedrungen seine Statur, zu unauffällig sein Äusseres, um sich für die Rolle der zentralen Figur zu empfehlen. Wie etwa ein Harry Dean Stanton fristet er ein Nischendasein als Nebendarsteller; urplötzlich taucht er in der Peripherie einer Einstellung auf; seine Momente im Rampenlicht zeugen von grossem schauspielerischem Können, sind aber dazu verdammt, eine Fussnote in der Ganzheit eines Films zu bleiben.

Und nun findet sich Marsan in einer Hauptrolle wieder, wie einst Stanton in Wim Wenders' Paris, Texas (1984). Anstatt durch die texanische Wüste bewegt er sich durch die Reihenhaus-Meilen der Home Counties, reist nordwärts in die Industriezonen von Yorkshire, nach Südwesten zu den Küstennestern von Cornwall. Als Beamter John May kümmert er sich in Still Life um die Angelegenheiten von Verstorbenen, für die sich keine Hinterbliebenen finden lassen. Er durchforstet den Nachlass, schreibt personalisierte Trauerreden – man fühlt sich an die leidenschaftlichen Briefe erinnert, die Joaquin Phoenix in Her für andere Menschen verfasst –, organisiert Beerdigungen. Wie Marsan am Rand der Szene, so ist John am Rand der Gesellschaft zu finden. Immer wieder lässt Uberto Pasolini ihn eiligen Schrittes durch das Bild huschen oder platziert ihn so weit entfernt von der Mitte der Einstellung, dass er beinahe im Off steht. Als der Gemeinderat beschliesst, Johns Stelle einzusparen, sieht er sich unverhofft mit seinem letzten Fall konfrontiert: In der schmuddeligen Wohnung seines ihm gänzlich unbekannten Nachbarn findet er Hinweise auf dessen entfremdete Familie, darunter dessen Tochter (Downton Abbey-Darstellerin Joanne Froggatt), die er ausfindig zu machen versucht.

Der Beamte John May (Eddie Marsan) reist quer durch England, um die Familie eines vereinsamten Verstorbenen ausfindig zu machen.
 © filmcoopi
Wie es der Titel vermuten lässt, geht es Pasolinis Film weniger um Plot als um das Schaffen von Atmosphäre, die Übersetzung von Johns Lebenssituation in subtil poetisch angehauchte Bilder, viele von ihnen genuine Stillleben. Mit der unaufdringlichen Menschlichkeit von Mike Leigh und der minimalistischen Melancholie von Aki Kaurismäki – dafür ohne Leighs optimistische Wärme und Kaurismäkis lakonisch-ironische Brechung – beleuchtet Still Life die Beziehung zwischen Leben und Tod. (Eine soziokulturelle Analyse könnte in diesem exotiklosen Roadmovie, in dem John kreuz und quer durch England tingelt, um die Verwandten seiner toten Klienten zu finden, einen Kommentar auf ein halbes Jahrhundert der geografisch mobilen Arbeiterklasse ausmachen.) Beerdigungen, Blumen und Elogen werden wiederholt als Rituale identifiziert, von denen ein Verstorbener nichts hat; derweil John in den Fotos seiner "Fälle" seine wahren Seelenverwandten erkennt. Hätte Pasolini auf die letzten fünf Minuten seines ebenso subtilen wie graziösen Films verzichtet, wo er diesem ein eklatant unsubtiles, dramaturgisch unnötiges Ende aufpfropft, wäre dem Cineasten ein echtes filmisches Kleinod gelungen. So bleibt Still Life aber "nur" das Meisterwerk des Eddie Marsan.

★★★★

Donnerstag, 8. Mai 2014

Snowpiercer

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Es ist ein fulminantes englischsprachiges Debüt, das der Südkoreaner Bong Joon-ho mit Snowpiercer abliefert. Die dystopisch-surrealistische Science-Fiction-Satire orientiert sich an George Orwell und Terry Gilliam und trumpft mit Originalität, Intelligenz und bisweilen wahnwitziger Radikalität auf.

Manche Regeln haben sich über die Jahre in den meisten Filmgenres als Standards etabliert. Gehört etwa der Protagonist einer revolutionären Bewegung an, dann ist diese vom Zuschauer als ehrenhaft zu verstehen – es sei denn, sie entwickelt sich in eine unlautere Richtung, woraufhin Figur wie Publikum sich von der Bewegung, nicht aber vom Grundgedanken, abwenden. Moralisch zutiefst verwerfliche Taten wie der Swift'sche Kannibalismus – das Verspeisen von Kleinkindern – oder der gezielte, gewaltsame Tod einer schwangeren Frau sind Vergehen, die, sofern sie überhaupt vorkommen, den Schurken vorbehalten sind. Regisseur und Drehbuchautor Bong Joon-ho, bekannt für Memories of Murder (2003) und den Kaiju-Monster-Streifen The Host (2013), und Produzent Park Chan-wook, der renommierte Filmemacher hinter der berühmt-berüchtigten Vengeance-Trilogie (Sympathy for Mr. Vengeance, Oldboy, Sympathy for Lady Vengeance), lassen diese Regeln in ihrer Adaption des französischen Graphic Novel Le Transperceneige nicht gelten; ihre Revolution ist nicht glorios, ihre Helden assen einst anderer Leute Kinder, ein Protagonist streckt eine schwer bewaffnete Schwangere per Wurfmesser nieder. 

Snowpiercer ist ein unterschwellig perzeptives Stück Film voller Tabubrüche und provokant-abstruser Momente. Angesiedelt im Jahr 2031 – die Umkehr von seinem Erscheinungsjahr 2013, analog zu George Orwells 1948 verfasstem Roman 1984 –, handelt er vom Titel gebenden Zug, der, seit 17 Jahre zuvor eine neue Eiszeit die Menschheit an den Rand des Aussterbens gebracht hat, die wenigen Überlebenden rund um den Globus transportiert, ohne jemals anzuhalten.Während im hinteren Teil des kilometerlangen Gefährts die Arbeiterschicht in menschenunwürdigen Verhältnissen leben, geniesst vorne, so erzählt man sich, die herrschende Klasse ein Leben in Saus und Braus. Und obwohl vergangene Revolutionen scheiterten, etwa unter der Führung des alten Gilliam, gespielt von John Hurt – Hauptdarsteller in Michael Radfords Orwell-Verfilmung Nineteen Eighty-Four – und wohl benannt nach Terry Gilliam, Regisseur der bizarren Kult-Orwell-Variation Brazil (1985), wird nun mit Curtis (Chris Evans) an der Spitze ein neuer Versuch gestartet. 

Die Menschheit lebt in einem Zug – und Curtis (Chris Evans) führt die Revolution der benachteiligten "Hinterschicht" an.
© Ascot Elite
Mit vereinten Kräften kämpft sich die unterdrückte Masse, darunter auch Chris' Freunde Edgar (Jamie Bell) und Tanya (Octavia Spencer) sowie der eigenbrötlerische Techniker Namgoong (Song Kang-ho) und dessen Tochter (Go Ah-sung), voran, um sich an der tyrannischen Ministerin Mason (die herrlich stimmig chargierende Tilda Swinton mit schulmeisterlichem Yorkshire-Dialekt) zu rächen und die Lokomotive einzunehmen, die sich unter der Kontrolle des von den begüterten Passagieren vergötterten Wilford (Ed Harris, womöglich in einer Rückbesinnung auf seine Rolle in The Truman Show) befindet. Auf dem Weg dahin begegnen den Helden verrückte Wissenschaftler, äxteschwingende Regierungstruppen – es entbrennt ein grandioser, im ostasiatischen Stil inszenierter Kampf –, singende Schulkinder und die drogenabhängige Zug-Bourgeoisie.

Doch der ästhetisch brillant realisierte Snowpiercer ist in seinen politischen Ambitionen mehr als blosses Eisenstein'sches Revolutionskino. Mit gnadenloser Schärfe hinterfragt Bong die Nützlichkeit des marxistischen Klassenkampfs, indem er Curtis' Rebellenzug eine korrumpierte Quelle und Wilford plausible Argumente für seine Position andichtet. Veränderung, so das Fazit, ist nur mit radikalem Wandel, mit einem abrupten Systemwechsel zu erreichen. Realismus und Utopismus stehen sich gegenüber: Der Status quo ist beklagenswert, aber stabil; die Alternative könnte ebenso gut im Glück wie im Verderben enden. Wie dies zu lösen ist, überlässt Bong, mit Hilfe seines minimalitisch expressiven Schlussbildes, der Einschätzung des Zuschauers.

★★★★★

Donnerstag, 1. Mai 2014

Transcendence

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Ernsthafte Auseinandersetzungen mit autonomen und selbstbewussten Maschinen – welche vielleicht schon bald Realität sind – und den damit verbundenen transhumanistischen Fragen sind in Hollywood Mangelware. Transcendence stellt sich zunächst der herausfordernden Thematik, verfällt letztlich aber wieder in alte Muster.

Überfliegt man die Synopsis zum Regiedebüt von Kameramann Wally Pfister (Oscar-Nominationen für Batman Begins, The Prestige und The Dark Knight; Oscar für Inception) – Dr. Will Caster (Johnny Depp), Experte für künstliche Intelligenz, wird von einer Ludditen-Terrorgruppe ermordet, schafft es aber gerade noch, sein Bewusstsein auf eine Computer-Festplatte zu laden –, erinnert man sich plötzlich an jene Szene im Pixar-Animationsfilm Ratatouille, in welcher der von Peter O'Toole gesprochene Restaurantkritiker Anton Ego seine Bestellung aufgibt: "You know what I'm craving? A little perspective". Endlich befasst sich eine amerikanische Mainstream-Produktion mit einem der vielleicht wichtigsten Felder der nahen Zukunft: der technologischen Singularität, dem Punkt, an dem die Intelligenz eines Computers diejenige der klügsten Menschen übersteigt, an dem es möglich wird, das Fassungsvermögen des menschlichen Gehirns gänzlich als Code nachvollziehen zu können. Man hofft, dass Transcendence sich nicht den Genre-Platitüden hingibt, wie sie etwa in I, Robot (2004) zu sehen waren, sondern sich auf sachlich-kritische Weise an das heikle, aber nicht minder faszinierende Konzept des Transhumanismus heran wagt.

Doch obwohl Pfisters Film, basierend auf einem jahrelang von Produktionsfirma zu Produktionsfirma weitergereichten Drehbuch von Jack Paglen, sich insgesamt um ein ausgeglichenes Bild des Mensch-Computer-Hybriden bemüht, fällt seine Perspektive schlussendlich enttäuschend begrenzt aus. Was als visuell virtuos realisiertes Science-Fiction-Drama beginnt, dessen Macher sich offenkundig mit der Arbeit von KI-Pionieren und Singularitäts-Denkern wie Alan Turing und Ray Kurzweil beschäftigt haben, degeneriert zunehmend zu irrisinnigem Genre-Humbug, in dem der Datenmensch Will Caster seine Macht zu missbrauchen beginnt, was seine treue Frau (Rebecca Hall – Chemie ist zwischen ihr und Depp nicht auszumachen), seinen besten Freund (Paul Bettany), seinen Mentor (Morgan Freeman) sowie einen Polizisten (Cillian Murphy) dazu bewegt, mit den technikfeindlichen Terroristen, welche aber nichtsdestoweniger Brillen tragen und Auto fahren – eine Ironie, die dem Film zu entgehen scheint –, gemeinsame Sache zu machen.

Mit Hilfe seiner Frau (Rebecca Hall) hat es Dr. Will Caster (Johnny Depp, auf dem Bildschirm) geschafft, sein Bewusstsein auf einen Computer zu laden – sehr zum Erstaunen von Wissenschaftler Joseph (Morgan Freeman, links) und FBI-Agent Buchanan (Cillian Murphy).
© Ascot Elite
So verliert Transcendence mit seinem Rückfall in altbekannte narrative Muster nicht nur ein grosses Stück seines Realitätsbezuges, sondern auch an dramaturgischem Reiz. Die philosophischen Implikationen seines cineastisch vergleichsweise unberührten Themas liegen weit ausserhalb der Reichweite seines löchrigen, auf der emotionalen Ebene kaum bewegenden, bisweilen haarsträubenden Plots. Einzig optisch – mit seinem wirkungsvollen Setdesign, seinen hervorragend komponierten Bildern und seinen kunstvollen Pillow Shots – vermag der Film durchgehend zu überzeugen. Wer eine seriöse Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz sehen will, ist mit Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey schon vor 46 Jahren bestens bedient worden. Die zwischenmenschliche Komponente wurde unlängst von Spike Jonze in Her grandios ausgelotet. Wer an KI-Dystopie im Popcornkino-Format interessiert ist, wird bei James Camerons Terminator 2: Judgment Day fündig. Transcendence ist in all diesen Belangen schlicht nicht gut genug.

★★