Donnerstag, 27. November 2014

The Hunger Games: Mockingjay – Part 1

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Nicht nur Suzanne Collins' Hunger Games-Bücher, sondern auch deren Verfilmungen sind kluge, figurenzentrierte Kritiken an politischem Stillstand und medialer Manipulation. Auch der erste Teil des in zwei Tranchen erscheinenden Trilogie-Abschlusses Mockingjay weiss zu überzeugen.

Trotz kritischen Beifalls sowohl für Gary Ross' The Hunger Games (2012) als auch für Francis Lawrences Catching Fire (2013) hat die Hunger Games-Franchise nach wie vor gegen ein Stigma zu kämpfen. Die Tatsache, dass diese dystopischen Science-Fiction-Blockbuster – mit ihrem Titel gebenden Wettkampf, in dem sich 24 Jugendliche zum Amüsement einer dekadenten Diktatur einmal jährlich bis auf den Tod bekämpfen, thematisch irgendwo zwischen Lord of the Flies und Kinji Fukasakus Battle Royale anzusiedeln – auf einer Reihe von Bestsellern aus dem Young-Adult-Genre basieren, scheint sie im kollektiven Bewusstsein von ernsthafter Diskussion auszuschliessen; sie bleiben auf den Mainstream zugeschnittenes Popcorn-Kino. Dass der letzte Teil der Serie – wie Harry Potter and the Deathly Hallows (2010/11) und The Twilight Saga: Breaking Dawn (2011/12) davor – wohl nicht nur aus künstlerischem Antrieb heraus auf zwei Filme aufgeteilt wird, erschwert es einem, gegen die reine Mainstream-Schubladisierung zu argumentieren.

Doch Mockingjay – Part 1 von Francis Lawrence, geschrieben von Peter Craig (The Town) und Danny Strong (preisgekrönt für den TV-Film Game Change), wartet neben seinen vereinzelten, äusserst wirkungsvoll inszenierten Action-Sequenzen und seiner detailliert-subtilen Figurenzeichnung mit Bildern und Subtext auf, welche den Anspruch der Franchise eindrücklich unterstreichen. Panem, das postapokalyptische Land auf dem Boden der heutigen USA, in dem das Kapitol unter Präsident Coriolanus Snow (Donald Sutherland) zwölf Distrikte unterdrückt und versklavt, befindet sich seit den gewaltsam abgebrochenen Hungerspielen in Catching Fire in Aufruhr. Die Distrikte rebellieren gegen Snows Joch, das Kapitol entsendet "Friedenswächter", welche Aufrührer öffentlich hinrichten lassen. Distrikt 12, die Heimat von Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence, einmal mehr mit famoser Leinwandpräsenz), der zweifachen Hunger-Games-Überlebenden und Symbolfigur der Rebellen, wurde dem Erdboden gleich gemacht; eine der drastischsten Einstellungen des Films zeigt einen mit Skeletten und verkohlten Leichen übersäten Platz. Nun lebt Katniss im längst zerstört geglaubten Distrikt 13, wo unter der Führung von Präsidentin Alma Coin (Julianne Moore) die endgültige Revolution vorbereitet wird. Zu diesem Zweck soll die schwer traumatisierte 17-Jährige in einer Reihe von Propaganda-Filmen mitwirken, doch es fällt ihr schwer, den Enthusiasmus von Coin und Kapitol-Überläufer Plutarch Heavensbee (der grossartige Philip Seymour Hoffman) zu teilen, befindet sich doch ihr Hunger-Games-Partner Peeta Mellark (Josh Hutcherson) in den Fängen des Kapitols.


Rebellenführerin Alma Coin (Julianne Moore, rechts) will Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) als Werbeträgerin der Revolution gegen das tyrannische Kapitol einsetzen.

© Impuls Pictures AG

Der hochgradig atmosphärische Mockingjay ist introvertierter als seine beiden Vorgänger. Regisseur Lawrence nutzt die ihm zur Verfügung stehende Zeit, um Charaktere und ihre Beziehungen untereinander zu vertiefen, Spannung auf- und die Welt von Panem auszubauen – ein Vorzug der Filme gegenüber ihren Buchvorlagen ist die über Katniss' Ich-Erzählung hinaus gehende Reichweite –, den Fokus auf die Mechanismen der Macht zu legen. Während Snow die Sicherheit des Status quo predigt und vor dem gefährlichen Chaos eines Systemwechsels warnt – Parolen, die im Zeitalter der neu erstarkenden kapitalistischen Klassengesellschaft und der "Privileg-Oligarchie" (Zitat Donald Sutherland) durchaus vertraut klingen –, bedient sich auch Distrikt 13 unlauterer Methoden im Kampf um Kontrolle; Integrität spielt im Krieg eine untergeordnete Rolle. Doch Lawrence gelingt es stets, das Kleine mit dem Grossen zu verbinden: Grandios die Szene, in der Jennifer Lawrence zu einem gesanglichen Intermezzo anhebt, bevor ihr Lied, eine melancholische Mörderballade, plötzlich aus den Kehlen Hunderter Rebellen erklingt, die sich auf dem Weg befinden, einen Kapitol-Damm zu sprengen. Mockingjay – Part 1 beweist allen Genre-Vorurteilen zum Trotz eine bewundernswert umgesetzte politische Sensibilität; eine bessere, seriösere Blockbuster-Reihe hat Hollywood zur Zeit nicht zu bieten.

★★★★

Montag, 24. November 2014

Diplomatie

Wo soll die Betonung liegen, wenn man über Volker Schlöndorffs neuesten Film spricht? Sagt man "Di-plomatie" und verweist auf den Schauplatz Paris und Cyril Gélys gleichnamiges französischsprachiges Theaterstück, das die Basis von seinem und Schlöndorffs Drehbuch bildet? Oder zieht man "Diploma-tie" vor, vielleicht aufgrund der Nationalität des Regisseurs, oder weil die deutsche Sprache besser ohne Artikel auskommt als die französische?

Egal, welche Antwort man für die richtige halten mag, darüber zu reden lohnt sich allemal. Denn Diplomatie ist neben vielem anderen auch eine Verneigung vor der Titel gebenden Institution selbst, dem Glauben, dass alles diskutiert werden kann, dass auf dem diplomatischen Weg auch unter widrigsten Umständen eine gangbare Lösung, ein Kompromiss zum Wohle der Allgemeinheit gefunden werden kann. Dieser kann auf Umwegen und krummen Pfaden, dank Zufällen und kleinen Fügungen des Schicksals zu Stande gekommen sein; doch solange die Menschen miteinander reden, besteht Hoffnung.

Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein zur Legende gewordenes Gespräch, das in der Nacht vom 24. auf den 25. August im Pariser Grand Hôtel Meurice zwischen dem schwedischen Konsul Raoul Nordling (André Dussollier) und dem Wehrmacht-General Dietrich von Choltitz (Niels Arestrup) stattgefunden haben soll. Von Choltitz, konfrontiert mit der übermächtigen Alliierten-Armee, welche auf das besetzte Paris zumarschiert, hat Befehl, die Metropole komplett zu zerstören, sollte die verbleibenden Kräfte der grossdeutschen Armee die Stellung nicht halten können. Sämtliche Brücken der Stadt sind vermint und bereit, gesprengt werden, ebenso Notre Dame, das Opernhaus, der Louvre, der Triumphbogen, der Eiffelturm. Nordling, ein gebürtiger Pariser, schleicht sich durch einen Geheimgang in von Choltitz' Suite, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Wenige andere Ereignisse des Zweiten Weltkriegs haben sich als so mysteriös erwiesen wie die Nicht-Zerstörung von Paris – nicht weil Zweifel darüber bestehen, wie es dazu gekommen ist, sondern weil die Rettung der modernen europäischen Kulturstadt schlechthin mehr oder minder auf von Choltitz allein zurückzuführen ist. Von seiner Entlassung aus alliierter Kriegsgefangenschaft 1947 bis zu seinem Tod 1966 hielt er daran fest, die Entscheidung, die Stadt zu verschonen, habe er sowohl aus militärischen Gründen (auch in den Trümmern verschanzte Wehrmacht-Truppen hätten die Alliierten nicht aufgehalten) als auch aus menschlichen (Sorge um die Zivilbevölkerung und Rücksicht auf die kulturgeschichtliche Bedeutung von Paris) getroffen. Zweifel an dieser Version werden wohl nicht zuletzt deshalb nie verstummen, weil zu einem früheren Zeitpunkt während des Krieges unter von Choltitz' Kommando im ukrainischen Sewastopol Tausende von Juden hingerichtet wurden. 

Kriegsbrüder: Konsul Raoul Nordling (André Dussollier, rechts) will den Wehrmacht-General Dietrich von Choltitz (Niels Arestrup) davon abbringen, Paris zu zerstören.
© JMH
Nordlings Rolle in der Rettung von Paris ist bis heute umstritten; historisch verbrieft ist sein nächtliches Gespräch mit dem General nicht. Doch Schlöndorff, wie schon René Clément im Befreiungs-Kriegsepos Paris brûle-t-il? (Gert Fröbe als von Choltitz, Orson Welles als Nordling), lässt sich in Diplomatie von der Legende leiten, verzichtet aber weit gehend auf Cléments umfassende Perspektive. Abgesehen von einigen notwendigen Eingriffen von Choltitz' Adjudanten, bleibt das Duo von Choltitz und Nordling das Herzstück seines Films. Diese liefern sich im Pariser Morgengrauen ein packendes, nuanciertes Rededuell, in dem der Preis einer Kapitulation – die Verhaftung von Choltitz' und seiner dem Sippenhaft-Gesetz unterworfenen Familie in Baden-Baden – mit dem Verlust Abertausender von Menschenleben sowie eines unwiederbringlichen Kulturschatzes abgewogen wird.

Nicht nur glänzt Diplomatie durch sein im allerbesten Sinne theaterhaftes Drehbuch, in dem die Poesie von Gélys Stück erhalten geblieben ist ("Generäle haben oft die Möglichkeit, etwas zu zerstören, aber nur selten die Chance, etwas zu errichten"). Arestrup und Dussollier debattieren mit der Verve und der Eingespieltheit jener Schauspieler, welche bereits das Vergnügen hatten, den Stoff monatelang auf einer Pariser Bühne zu spielen. Die Zwei sind augenscheinlich innigst mit ihrer jeweiligen Figur vertraut, leuchten doch beide ihre Rollen mit all ihren Geheimnissen, Vorbehalten und unausgesprochenen Motivationen hervorragend aus, ohne je allzu viel davon Preis geben zu müssen. 

Diplomatie ist ein Gemeinschaftseffort, die Summe der herausragenden Beiträge von Schlöndorff, Gély, Arestrup und Dussollier – ein minimalistisches Kammerspiel über die menschliche Komponente des Krieges, die Schattierungen in der Riege der "Kriegstreiber" und die Hoffnung des diplomatischen Lösungswegs. (Hätte jemand wie Nordling von Choltitz auch in Sewastopol von seinem Befehl abbringen können?) Wer die Sprache, jene definierende Gabe der Menschheit nutzt, wird zu einem menschlichen Ergebnis kommen, so die humanistisch-optimistische Moral dieses beeindruckenden Films.

★★★★

Donnerstag, 20. November 2014

The Salt of the Earth

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Seine Bilder faszinieren seit den Siebzigerjahren die ganze Welt; nun beleuchtet Wim Wenders den Mann hinter der Kamera. Die bewegende Dokumentation The Salt of the Earth über den Fotografen Sebastião Salgado erzählt von der Vielfältigkeit, der Schrecklichkeit und der Schönheit unseres Planeten. 

Für Wenders, den Schöngeist des Neuen Deutschen Films (Alice in den Städten, Im Lauf der Zeit, Der Himmel über Berlin), war der Dokumentarfilm nie ein Ort für Werke, deren einziger Zweck die Faktenvermittlung ist. Seine Non-Fiction-Beiträge zur siebten Kunst – wie etwa auch jene seines NDF-Kollegen Werner Herzog – sind keine trockenen Abschlussarbeiten, sondern persönliche Stimmungsbilder mit ästhetischem Anspruch: Tokyo-Ga handelt ebenso von seinem Regie-Idol Yasujiro Ozu wie von dessen Einfluss auf ihn; Buena Vista Social Club verbindet Musik- und Sozialhistorie, Pina machte das Dokumentarkino mit der 3-D-Technik vertraut. (Herzog versuchte mit Cave of Forgotten Dreams ein Jahr später dasselbe.)

The Salt of the Earth bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Zwar ist der Film im Grossen und Ganzen in linearer Chronologie des Lebens von Sebastião Salgado strukturiert, doch unter Wenders und Co-Regisseur Juliano Ribero Salgado, Salgados ältestem Sohn, wird aus dieser Vita ein vielschichtiges Porträt eines Mannes und der Welt, die er seit 40 Jahren unermüdlich bereist. 1944 im Herzen Brasiliens geboren, wird Salgado, über den Umweg eines erfolgreich abgeschlossenen Wirtschaftsstudiums, zu einem "Sozialfotografen". Ab Mitte der Siebzigerjahre zieht er für diverse Buchprojekte kreuz und quer durch die Kontinente: Er bildet die "anderen Amerikas" von Argentinien bis Mexiko ab, beschäftigt sich intensiv mit der Sahelzone, hält Hungersnöte in Äthiopien, Mali und im Niger sowie die Völkermorde in Ruanda und Jugoslawien auf wuchtigen Schwarzweissfotos fest – bevor er psychisch an seine Grenzen stösst und sich der Ethnografie und dem Naturschutz widmet. Seit den Neunzigerjahren treibt er Wiederaufforstungsprojekte im atlantischen Regenwald voran und reist in den tiefsten Dschungel, um Naturvölker zu fotografieren.


Regisseur Wim Wenders (links) erweist dem brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado (rechts) mit „The Salt of the Earth“ sein filmische Reverenz.
© filmcoopi
Obschon der Film an Wenders' Bewunderung für den sozial engagierten Weltenbummler aufgehängt ist, hält sich der Regisseur mit Kommentaren und persönlichen Einblicken respektvoll zurück, wenngleich auch er ab und an in die Herzog'sche Falle tappt, gewisse Tatsachen allzu pathetisch kontextualisieren zu wollen. Seine Rolle ist letztlich auf die des Chronisten beschränkt, der dem Zuschauer Salgados Familie vorstellt, über die kuriose Erfahrung, einen Film über einen Fotografen zu drehen, sinniert ("Der schiesst zurück!") und per verspieltem Jump Cut das Zepter an Salgado Junior übergibt.

Das Zentrum von The Salt of the Earth – nicht nur thematisch, sondern auch dramaturgisch – ist Salgado, welcher den Zuschauer durch seine unzähligen Bilder führt, deren Entstehungsgeschichte beschreibt und aus ihnen seine Schlüsse zieht – "der Mensch ist ein schreckliches Tier"; "Gewalt ist nicht das Monopol weit entfernter Länder"; "was in Äthiopien passierte, war brutale politische Unehrlichkeit". Wenders inszeniert diese Reminiszenzen äusserst effektiv: Oft sind nur die Fotos selber zu sehen; minutenlang wird man mit schonungslosen Abbildungen menschlichen Leids konfrontiert – Leichenberge in einem Flüchtlingslager, verhungernde und bereits verhungerte Kinder, mit Skeletten übersäte Kirchen und Schulzimmer. Salgados Reise durch die eigene Karriere wird so zur kathartischen Erfahrung, seine Evolution vom Sozial- zum Naturfotografen zum Sinnbild einer Welt, die trotz, oder gerade wegen, ihrer Krisen lernen muss zu versuchen, eine bessere, harmonischere Zukunft zu schaffen. 

★★★★

Samstag, 15. November 2014

Before I Go to Sleep

Nichts an diesem Thriller ist innovativ, Plot und Schauspieler scheinen auf Autopilot zu laufen, Anspruch und Ambition sind derart tief angesetzt, dass es letzten Endes irrelevant ist, ob das Ganze funktioniert oder nicht. Rowan Joffés Verfilmung von S. J. Watsons Erstlingsroman Before I Go to Sleep verlangt nichts von seinem Publikum und gibt ihm dementsprechend wenig.

Ja, wer sich diesen Film in der Absicht, intellektuell stimuliert zu werden, ansehen will, wäre mit der Betrachtung trocknender Farbe ebenso gut bedient. Doch Joffés Regiedebüt hat den entscheidenden Vorteil eines gewissen Unterhaltungswerts – allen Klischees und Ungereimtheiten, die sich innerhalb seiner lobenswert straffen 90-minütigen Laufzeit tummeln, zum Trotz.

Als Aufhänger muss der längst der Parodie zum Opfer gefallene Dramatik-Generator Amnesie herhalten: Von der ist nämlich Christine Lucas (Nicole Kidman) befallen, seit sie vor knapp zehn Jahren einen schweren Unfall erlitt. Wenn die 40-Jährige morgens aufwacht, hat ihr Gehirn alle tags zuvor gespeicherten Informationen wieder gelöscht; ihre Erinnerungen reichen knapp bis zu ihrem 20. Lebensjahr. Jeden Morgen sieht sich Christine ängstlich und verwirrt in ihrem Zimmer um und muss sich von ihrem ihr unbekannten Ehemann Ben (Colin Firth) über ihre Lage aufklären lassen. Sobald er zur Arbeit gefahren ist, erhält sie einen Anruf vom Neuropsychologen Dr. Nasch (Mark Strong), der ihr dabei helfen will, ihr Gedächtnis zurück zu erlangen. Als ersten Schritt schlägt er ihr das Führen eines Videotagebuches vor, was sie vor dem misstrauischen Ben geheim halten soll.

Before I Go to Sleep verfolgt diesen Mystery-Plot – an sich eine chronologisch korrekt angeordnete Version von Christopher Nolans Memento – mit einer beinahe rührenden Ernsthaftigkeit, obwohl allein schon die Prämisse unzählige Fragen aufwirft: Warum wird eine mental schwer angeschlagene Person ohne psychologischen Beistand aus der stationären Behandlung entlassen? Weshalb lässt man sie tagtäglich alleine gewähren? Wie überzeugend ist eine selektive Amnesie, die, wie es scheint, Verkehrsregeln löscht, aber das Wissen über das Bus- und Bahnsystem im Grossraum London unangetastet lässt (Christine wird zweimal fast überfahren, findet aber problemlos nach Greenwich)? Auch die im Laufe des Films auftauchenden Erklärungsversuche wissen kaum je zu befriedigen.

Christine (Nicole Kidman) leidet an Amnesie: Schläft sie ein, löscht ihr Gehirn alles, was sie weiss. 
© Frenetic Films
Doch der Film greift niemals nach Themen oder Ansätzen, denen er nicht gewachsen ist; Seitenhiebe gegen die Pharmaindustrie (siehe Side Effects) oder eine zumindest einigermassen seriöse Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen (Spellbound) masst sich Joffé zu keinem Zeitpunkt an. Seine Aufmerksamkeit gilt der Form: Before I Go to Sleep ist rasant erzählt und mit ansprechenden Bildern ausgeschmückt. Dies hinterlässt schlussendlich aber genauso wenig Eindruck wie der Umstand, dass sich Kidman, Firth und Strong durch eine Handlung hangeln, die zielstrebig von haarsträubenden Wendungen zu falschen Fährten und wieder zurück eilt und sich zuletzt vollends dem Seifenoper-Kitsch ergibt. Before I Go to Sleep ist schlicht und ergreifend zu farblos, zu fade, zu generisch, um sich darüber aufzuregen.

★★

Donnerstag, 13. November 2014

Interstellar

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Wird über Christopher Nolan gesprochen, wird gerne der Begriff "Meisterregisseur" bemüht. Mit Filmen wie Memento, The Dark Knight und Inception mauserte sich der Brite zum populärsten Hollywood-Filmemacher der Gegenwart. Doch Interstellar, sein neuestes Opus magnum, ist eine Selbst-Demontage.

Es war einmal ein Projekt, ersonnen von Produzentin Lynda Obst und Physiker Kip Thorne, welches den vielleicht grössten noch unrealisierten Schritt in der wissenschaftlichen Entwicklung des Menschen – die Eroberung des Weltalls – auf die Leinwand bannen sollte. Steven Spielberg bekundete Interesse, tat sich mit Drehbuchautor Jonathan Nolan zusammen und begann mit der Erarbeitung einer Rohfassung von dem, was nun unter dem Titel Interstellar weltweit in den Kinos zu sehen ist. Doch nach einigen Jahren der Planung wurde Spielberg von Jonathans älterem Bruder Christopher, welcher zu diesem Zeitpunkt gerade The Dark Knight Rises, den dritten und letzten Teil seiner Batman-Reihe abgedreht hatte, als designierter Regisseur ersetzt; Teile des bestehenden Drehbuch-Entwurfs wurden übernommen, andere von Grund auf überarbeitet. Ein Blick in die Produktionsgeschichte kann vielleicht als Erklärungshilfe dafür dienen, dass Interstellar nach knapp drei Stunden Laufzeit den Eindruck hinterlässt, man habe gerade drei verschiedene Filme von höchst unterschiedlicher Qualität gesehen.

Da wäre einmal das erste Drittel von Christopher Nolans Weltraum-Epos: In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft steht die Menschheit am Rande des Aussterbens; Staubstürme und Pflanzenfäule bedrohen die globale Nahrungsversorgung. Wie so viele andere ist der ehemalige Astronaut Cooper (Matthew McConaughey) dazu gezwungen, als Bauer zu arbeiten. Diese ersten 40, 50 Minuten glänzen mit ihrer atmosphärischen Darstellung einer keineswegs abwegigen Dystopie; Kameramann Hoyte van Hoytema weiss diese triste Zukunft in herausragende impressionistische Bilder zu übersetzen. Verfasst wurde dieses Kapitel offenbar weitestgehend in Eigenregie Jonathans.

Neue Horizonte: In der nahen Zukunft erforschen Cooper (Matthew McConaughey, links), Amelia (Anne Hathaway) und Romily (David Gyasi) erdähnliche Planeten in einer fremden Galaxie.
© 2014 Warner Bros. Ent.
Eine Schwerkraft-Anomalie im Zimmer seiner Tochter führt Cooper in ein geheimes NASA-Labor im Untergrund, wo Wissenschaftler (darunter Michael Caine und Anne Hathaway) eine Expedition durch ein Wurmloch in der Nähe von Saturn vorbereiten; Interstellar wird zum Science-Fiction-Abenteuer – das zweite Drittel beginnt. Hinter dem Wurmloch nämlich befindet sich eine fremde Galaxie, in der potenziell bewohnbare Planeten nur darauf warten, von Cooper und einigen anderen NASA-Piloten erforscht zu werden. Hier macht sich denn auch die Drehbuch-Mitarbeit des diesbezüglich eher begrenzt begabten Christopher bemerkbar: Der Tonfall wird sentimentaler, die Dialogzeilen abgedroschener; der wissenschaftliche Fachjargon häuft sich, ebenso die von Hans Zimmers Score stimmig begleiteten Actionszenen, in denen sich Nolan einmal mehr als begnadeter Inszenator erweist. Noch überzeugt der Film weit gehend als grundsolide Science-Fiction-Unterhaltung.

Doch im Schlussdrittel hebt Nolan ab, will zu viel und verschätzt sich kolossal. Eine Reise durch die Dimensionen mündet in eine salbadernde Dreiviertelstunde voller unerklärlich spontaner Erkenntnisse, an Selbstparodie grenzender Möchtegern-Komplexität und haarsträubender, geradezu hanebüchen harmonischer Auflösungen; man fühlt sich erinnert an die desaströsen Kitsch-Fabeln Cloud Atlas und Winter’s Tale. Der Versuch, wie einst Stanley Kubrick in der konfus-brillanten, auf Ambiguität abzielenden "Beynd the Infinite"-Sequenz in 2001: A Space Odyssey die Grenzen der Logik zu sprengen, kann Nolan nicht gelingen: Dafür ist sein Kino zu wörtlich, zu sehr davon besessen, jede Einzelheit erklären zu müssen. In Interstellar wird aus dem "Meisterregisseur" ein ganz profaner Blender. 

★★

Sonntag, 9. November 2014

Mr. Turner

Gerade noch schien Mike Leighs Reputation als Filmemacher in Stein gemeisselt: Als scharfer Beobachter der britischen Gesellschaft wird er der Filmgeschichte in Erinnerung bleiben, als Schöpfer feinfühliger Sozialdramen wie Life Is Sweet, Secrets & Lies, Vera Drake oder Another Year. Seine Figuren sind mitten aus dem Leben gegriffen, ihre Sorgen und Probleme sind nicht selten den Zuschauern wohlbekannte Alltäglichkeiten; wie bei Ken Loach erkennen sich in seinen Filmen Grossbritanniens Mittel- und Arbeiterklassen wieder.

Ein zweieinhalbstündiges Porträt eines englischen Nationalmalers passt da eigentlich kaum ins Konzept. Doch was wie ein radikaler Bruch Leighs mit seiner bisherigen Filmografie – Ausnahme: das Musical Topsy-Turvy – anmuten mag, hat mehr mit seinem angestammten Terrain zu tun als sich im ersten Augenblick vermuten lässt, stellt aber zugleich auch einen faszinierenden Aus- und Aufbruch eines souveränen Altmeisters dar. 

Mr. Turner erzählt in üppigen 149 Minuten von den letzten 23 Jahren im Leben Joseph Mallord William Turners (1775–1851), dem vielleicht bedeutendsten bildenden Künstler, sicherlich dem wichtigsten Maler der Romantik, den England hervorgebracht hat. Schon in jungen Jahren als enormes Talent gefeiert, jahrzehntelang der von Kollegen sowohl bewunderte als auch beniedene Liebling von Adel und Königshaus, hoch geachtet als begnadeter Landschaftsmaler, wandte sich der verschrobene Einzelgänger gegen Ende seines Lebens einem abstrakteren Stil zu, der ihm im frühen viktorianischen Zeitalter nichts als Spott eintrug. "He's clearly losing his eyesight", höhnt Prince Albert (Tom Wlaschiha) beim Gang durch die Royal Academy of Arts; "A dirty yellow mess", giftelt Queen Victoria (Sinead Matthews) die Nase rümpfend.

Leighs Film ist nicht zuletzt eine Hommage an einen eigensinnigen Künstler, der sich Zeit seines Lebens eisern weigerte, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen und sich selbstzufrieden in seinem Ruhm zu sonnen. Anders als etwa sein Zeitgenosse William Wordsworth, der Lyrik-Gigant der englischen Romantik, verwandelte sich Turner (Timothy Spall) nicht von einem einstigen Ikonoklasten in ein lebendes Monument, das in jedem neuen Ansatz, jedem Versuch der Innovation ein Sakrileg festzustellen glaubte. Im Gegenteil: Turner setzte mit seinem virtuosen Spiel mit dem Licht, das in seinen späteren Bildern feste Formen verschwimmen liess, sein eigenes künstlerisches Erbe aufs Spiel – im Namen der eigenen ästhetischen Vision.

Der Ikonoklast: J. M. W. Turner (Timothy Spall, rechts) wird in ganz Grossbritannien als genialer Maler bewundert – bevor er eine neue Richtung einschlägt.
 © Pathé Films AG
Und diese, das wird in Mr. Turner offensichtlich, entwickelte sich parallel zu den Umwälzungen, die sich zu Turners Lebzeiten in seiner Heimat abspielten. Die Glorie der idyllischen georgianischen Epoche wich der industriellen Pracht des Viktorianismus; eines der populärsten Bilder Turners zeigt die Abschleppung des Kriegs-Segelschiffs Temeraire, das Admiral Nelson in der Schlacht bei Trafalgar grosse Dienste leistete, durch ein Dampfboot. Durch die pittoresken Landschaften, deren Wiedergabe auf Leinwand Turner zu einer wohlhabenden Berühmtheit machten, fuhren nun plötzlich pechschwarz rauchende Lokomotiven; während sich London zum dunstigen Kaminschlot-Moloch von Charles Dickens wandelte, verabschiedete sich Turners Kunst von klaren Konturen und nahm eine Gestalt in, die wenig später die französischen Impressionisten inspirieren sollte.

Dies ist denn auch der Berührungspunkt von Leighs "konventionelleren" Sozialdramen und seiner episodisch aufgezogenen Künstlervita: Sie zeigt nicht nur ein Land, sondern auch eine Gesellschaft im Wandel. Lesley Manville – aus Another Year noch in bester Erinnerung – taucht als Mary Somerville auf, eine der wenigen bekannten Wissenschaftlerinnen in einer Ära, der derartig aktive Frauen hochgradig suspekt waren. Auch anderswo ist der Übergang zur Moderne spürbar, etwa in Turners Gespräch mit dem zweiten Ehemann seiner Geliebten Sophia Booth (Marion Bailey), welcher vor der Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire traumatische Jahre als Zimmermann auf einem Sklavenschiff zugebracht hatte.

Was Leigh mit dem meisterhaft inszenierten Mr. Turner letztendlich gelungen ist, ist eine zu keinem Zeitpunkt professiorial wirkende Kontextualisierung von Turners Leben und Wirken. Mit wundervoller Eleganz verbindet der Film das Private mit dem Öffentlichen; vom Gang von William Turner Senior (Paul Jesson) über einen Londoner Markt bis zu jenen Szenen, deren Fokus sich plötzlich von Turner auf sein Umfeld verschiebt, welches er – wie Leigh – stets mit der Aufmerksamkeit des Chronisten begutachtet.

Der Künstler: Turner in Aktion, grandios in Szene gesetzt von Regisseur Mike Leigh und Kameramann Dick Pope.
© Pathé Films AG
Beeindruckende Sorgfalt lässt der Film auch in seiner Darstellung der Periode zwischen 1828 und 1851 walten – diese Art der Verortung muss das Publikum selber vornehmen, da Leigh auf das Einblenden von Jahreszahlen verzichtet. Nicht nur wird der Zeitgeist mit Kostümen und Ausstattung zum Leben erweckt; Leigh hat es in seinem Drehbuch ausgezeichnet verstanden, das Ganze mit einer authentischen, minutiös ausgerabeiteten Sprache auszuschmücken. Vielleicht das Einzige, was in diesem reichen Zeitbild zu wünschen übrig lässt, ist Turners Verhältnis zu den Frauen in seinem Leben. Ausser seinem späten häuslichen Glück mit Mrs. Booth bleiben seine anderen Beziehungen – darunter mit seiner langjährigen Haushälterin Hannah (Dorothy Atkinson) und deren Tante (Ruth Sheen), mit der er um 1800 zwei Töchter gezeugt hatte – eher unklar umrissen.

Doch dies sind geringfügige Einwände zu einem insgesamt magistralen Film, der von einem grandiosen Timothy Spall getragen wird, welcher Turners sauertöpfische Grunz- und Grummellaute virtuos als Ausdrücke tief liegender Gefühle zu interpretieren weiss. Vollendet wird das Ganze von Kameramann Dick Pope, der Leighs dezent subtile Vision in betörende, von Turner'schem Licht durchflutete Bilder übersetzt. Mr. Turner ist eine famose Verneigung eines grossen Künstlers vor dem anderen.

★★★★★

Donnerstag, 6. November 2014

Deux jours, une nuit

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Luc und Jean-Pierre Dardenne, die grossen Realisten des französischsprachigen Kinos, widmen sich in Deux jours, une nuit einmal mehr der belgischen Arbeiterklasse – diesmal aber mit einer hinter dem Naturalismus verborgenen politischen Botschaft. Das macht den Film artifizieller, aber keineswegs schlechter.

Das Wochenende ist der vielleicht ultimative Triumph der Gewerkschafts-Bewegung; seit etwas mehr als einem Jahrhundert geniessen in den westlichen Industriestaaten die meisten Arbeiter das Recht, sich zwei Tage die Woche von den Strapazen des Alltags zu verabschieden und sich ganz dem eigenen Wohlbefinden zu widmen. So jedenfalls sieht es die Theorie vor. In der Praxis jedoch, wie es die Regie-Brüder Dardenne (La promesse, Rosetta, L'enfant, Le gamin au vélo) in Deux jours, une nuit geradezu parabelhaft illustrieren, hält dieser Traum den unausweichlichen Anforderungen und Zwängen der globalisierten Wirtschaft nicht Stand.

Sandra (Marion Cotillard) will nach einer schweren Depression ihre Arbeit in einer Sonnenkollektoren-Fabrik wieder aufnehmen, doch Dumont (Batiste Sornin), ihr Vorgesetzter, hat andere Pläne für sein Unternehmen: Er hat Sandras Kollegen darüber abstimmen lassen, ob sie sie wieder in die Firma integrieren sollen oder nicht; wenn nicht, profitieren die verbleibenden Arbeiter vom Lohnüberschuss und erhalten einen Bonus von 1'000 Euro. Zwei stimmen für Sandra, 14 gegen sie. Da aber der Vorarbeiter (Olivier Gourmet) einige Leute eingeschüchtert hat, wird die Abstimmung am darauf folgenden Montag wiederholt. Für Sandra bedeutet dies ein Wochenende voller Gespräche, in denen sie mit Hilfe ihres Mannes Manu (Fabrizio Rongione) versucht, ihre Kameraden umzustimmen – die Arbeit dringt ein in die gewerkschaftlich erstrittene Freizeit.

Dem Film gelingt es hervorragend, diese Transgression mit subtilsten Mitteln einzufangen; dass es sich dabei um eine Übertretung gesellschaftlich anerkannter Grenzen handelt, wird niemals angesprochen, sondern von den Protagonisten kommentarlos hingenommen. Sandra "ertappt" auf ihrer Reise durch die zahlreichen heruntergekommenen Lütticher Industrie-Vororte ihre Kollegen, viele davon Immigranten, dabei, wie sie ihre finanziellen Mittel aufbessern wollen: Manche verkaufen handgemachte Fliesen, andere reparieren Autos oder assistieren im Waschsalon, wieder andere helfen aus als Fussballtrainer für Kinder oder arbeiten schwarz im Lebensmittelgeschäft. Unter dem Druck von Rezession und internationalem Wettbewerb hat das Wochenende seinen Status gänzlich verloren, was sich selbst in der Struktur des Films bemerkbar macht: Das Ganze folgt einem wohl bewusst repetitiven Schema – Sandra besucht einen Mitarbeiter, bittet um dessen Stimme, hört sich dessen Erklärung für sein Bonus-Votum an –, das den immer gleichen Trott des Arbeitsalltags widerzuspiegeln scheint.

Sandra (Marion Cotillard) muss im Laufe eines Wochenendes ihre Mitarbeiter davon überzeugen, gegen einen Bonus zu stimmen, der ihr die Stelle kosten würde.
© Xenix Filmdistribution
Das menschliche Drama in diesem letztlich tristen, aber dennoch – auch durch einige allzu glückliche Wendungen und Zufälle – seltsam erhebenden Film kreist um das uralte ethische Dilemma von der Bedeutung des Einzelnen im Angesicht einer gleichgestellten Masse: Von der problematischen Methode abgesehen, handelt Dumont – als Chef nicht nur während des Wochenendes unantastbar – unmoralisch, wenn er Sandra zum monetären Vorteil von 16 anderen Arbeitern entlässt? (In seinen Schlussminuten verschiebt der Film das Gewicht dieser Frage auf geschickte Art und Weise.) Und als emotionales Zentrum figuriert Sandra, von Marion Cotillard zurückhaltend, aber kraftvoll gespielt, deren äusserst lebensecht eingefangene Depression zum Symbol für ein korruptes System wird, in dem Menschen zu Entscheidungen gedrängt werden, welche sich moralisch nicht verantworten lassen. In Deux jours, une nuit verlieren die Dardennes ein Stück ihres radikalen Dokumentarismus und gewinnen dafür neue politische Relevanz.

★★★★