Donnerstag, 6. November 2014

Deux jours, une nuit

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Luc und Jean-Pierre Dardenne, die grossen Realisten des französischsprachigen Kinos, widmen sich in Deux jours, une nuit einmal mehr der belgischen Arbeiterklasse – diesmal aber mit einer hinter dem Naturalismus verborgenen politischen Botschaft. Das macht den Film artifizieller, aber keineswegs schlechter.

Das Wochenende ist der vielleicht ultimative Triumph der Gewerkschafts-Bewegung; seit etwas mehr als einem Jahrhundert geniessen in den westlichen Industriestaaten die meisten Arbeiter das Recht, sich zwei Tage die Woche von den Strapazen des Alltags zu verabschieden und sich ganz dem eigenen Wohlbefinden zu widmen. So jedenfalls sieht es die Theorie vor. In der Praxis jedoch, wie es die Regie-Brüder Dardenne (La promesse, Rosetta, L'enfant, Le gamin au vélo) in Deux jours, une nuit geradezu parabelhaft illustrieren, hält dieser Traum den unausweichlichen Anforderungen und Zwängen der globalisierten Wirtschaft nicht Stand.

Sandra (Marion Cotillard) will nach einer schweren Depression ihre Arbeit in einer Sonnenkollektoren-Fabrik wieder aufnehmen, doch Dumont (Batiste Sornin), ihr Vorgesetzter, hat andere Pläne für sein Unternehmen: Er hat Sandras Kollegen darüber abstimmen lassen, ob sie sie wieder in die Firma integrieren sollen oder nicht; wenn nicht, profitieren die verbleibenden Arbeiter vom Lohnüberschuss und erhalten einen Bonus von 1'000 Euro. Zwei stimmen für Sandra, 14 gegen sie. Da aber der Vorarbeiter (Olivier Gourmet) einige Leute eingeschüchtert hat, wird die Abstimmung am darauf folgenden Montag wiederholt. Für Sandra bedeutet dies ein Wochenende voller Gespräche, in denen sie mit Hilfe ihres Mannes Manu (Fabrizio Rongione) versucht, ihre Kameraden umzustimmen – die Arbeit dringt ein in die gewerkschaftlich erstrittene Freizeit.

Dem Film gelingt es hervorragend, diese Transgression mit subtilsten Mitteln einzufangen; dass es sich dabei um eine Übertretung gesellschaftlich anerkannter Grenzen handelt, wird niemals angesprochen, sondern von den Protagonisten kommentarlos hingenommen. Sandra "ertappt" auf ihrer Reise durch die zahlreichen heruntergekommenen Lütticher Industrie-Vororte ihre Kollegen, viele davon Immigranten, dabei, wie sie ihre finanziellen Mittel aufbessern wollen: Manche verkaufen handgemachte Fliesen, andere reparieren Autos oder assistieren im Waschsalon, wieder andere helfen aus als Fussballtrainer für Kinder oder arbeiten schwarz im Lebensmittelgeschäft. Unter dem Druck von Rezession und internationalem Wettbewerb hat das Wochenende seinen Status gänzlich verloren, was sich selbst in der Struktur des Films bemerkbar macht: Das Ganze folgt einem wohl bewusst repetitiven Schema – Sandra besucht einen Mitarbeiter, bittet um dessen Stimme, hört sich dessen Erklärung für sein Bonus-Votum an –, das den immer gleichen Trott des Arbeitsalltags widerzuspiegeln scheint.

Sandra (Marion Cotillard) muss im Laufe eines Wochenendes ihre Mitarbeiter davon überzeugen, gegen einen Bonus zu stimmen, der ihr die Stelle kosten würde.
© Xenix Filmdistribution
Das menschliche Drama in diesem letztlich tristen, aber dennoch – auch durch einige allzu glückliche Wendungen und Zufälle – seltsam erhebenden Film kreist um das uralte ethische Dilemma von der Bedeutung des Einzelnen im Angesicht einer gleichgestellten Masse: Von der problematischen Methode abgesehen, handelt Dumont – als Chef nicht nur während des Wochenendes unantastbar – unmoralisch, wenn er Sandra zum monetären Vorteil von 16 anderen Arbeitern entlässt? (In seinen Schlussminuten verschiebt der Film das Gewicht dieser Frage auf geschickte Art und Weise.) Und als emotionales Zentrum figuriert Sandra, von Marion Cotillard zurückhaltend, aber kraftvoll gespielt, deren äusserst lebensecht eingefangene Depression zum Symbol für ein korruptes System wird, in dem Menschen zu Entscheidungen gedrängt werden, welche sich moralisch nicht verantworten lassen. In Deux jours, une nuit verlieren die Dardennes ein Stück ihres radikalen Dokumentarismus und gewinnen dafür neue politische Relevanz.

★★★★

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