Samstag, 30. September 2017

mother!

ACHTUNG: Diese Rezension enthält Spoiler.

Die Rolle des Kritiker-Lieblings scheint Regisseur Darren Aronofsky nur bedingt gefallen zu haben. Zuerst liess er auf die mit Oscarnominationen überhäuften The Wrestler (2008) und Black Swan (2010) den konfusen – aber nicht uninteressanten – Bibel-Blockbuster Noah (2014) folgen; und jetzt hat er mit mother! ein eigensinniges Horrordrama gedreht, das die Publikumsmeinung scheidet wie kaum eine andere Produktion in diesem Jahr.

Das ist denn auch einer der vielen Aspekte, die den neuen Film des Kult-Regisseurs von Pi (1998) und Requiem for a Dream (2000) zu einem derart faszinierenden Erlebnis machen. Selbst wenn man von mother! begeistert ist, wird man den Hass verstehen, den gewisse Zuschauer ihm gegenüber empfinden. Und auch in seinem sechsten Werk ist es Aronofsky noch nicht gelungen, sich von seinen bisweilen frustrierenden erzählerischen Ticks zu lösen.

Aber der Reihe nach. mother! handelt von zwei Personen: einem namenlosen Autoren (Javier Bardem) mit Schreibblockade und dessen gut 20 Jahre jüngeren Ehefrau (Jennifer Lawrence). Die beiden leben zurückgezogen in einem wunderschönen alten Haus im Grünen. Während er vergebens versucht, ein neues Werk zu Papier zu bringen, richtet sie ihr Zuhause her, das immer noch die Spuren eines grossen Brandes trägt.

Doch das Idyll wird durch die Ankunft eines Neurologen (Ed Harris) gestört, der sich sogleich häuslich einzurichten beginnt. Bald darauf folgt seine Frau (eine hervorragende Michelle Pfeiffer). Dann tauchen plötzlich deren zerstrittene Söhne (Brian und Domhnall Gleeson) auf. Es dauert nicht lange, bis das von Jennifer Lawrences Figur so schön ausgestattete Haus von respektlosen Menschen überflutet ist, die, trotz ihrer Unhöflichkeit, von "Ihm" – der Abspann identifiziert Bardem als "Him" – mit offenen Armen empfangen werden.

Eine Frau (Jennifer Lawrence) renoviert ein Haus im Nirgendwo.
© Paramount Pictures
So verstreichen die ersten zwei Drittel des Films – irgendwo zwischen kafkaesker Unruhe, absurdem Theater, Arthur Miller und dem Luis Buñuel von El ángel exterminador (1962) und Le charme discret de la bourgeoisie (1972). Hier ist mother! offen für eine breite Palette an möglichen Interpretationen. Jennifer Lawrences nervenaufreibender Kampf um Ordnung in ihrem Haus kann als Kommentar auf eine Geschlechterpolitik gelesen werden, die Frauen nur sehr eng gefasste Rollen zugesteht und ihre Ansichten partout ignoriert. Es könnte die Chronik einer romantischen Beziehung sein, die nach und nach von Kleinigkeiten, angehäuften Unstimmigkeiten und widrigen äusseren Umständen zerfressen wird. Auch der Klimawandel bietet sich als Symbol an, mit Lawrence als zunehmend überforderter "Mutter" Erde. (Wer nationalistische Sympathien hegt, wird das Ganze wahrscheinlich als Anti-Einwanderungs-Traktat lesen, komplett mit einer jungfräulichen Verkörperung ethnokultureller Reinheit.)

Hat man sich mit diesen letztlich dennoch ziemlich nüchtern erzählten 70, 80 Minuten arrangiert, wechselt Aronofsky – ganz der notorische Provokateur – abrupt die Gangart. Auf eine geborstene Wasserleitung, welche die ungebetenen Besucher in die Flucht schlägt, und eine Sexszene hart an der Grenze zur Vergewaltigung folgt eine Schwangerschaft für Lawrence, ein neues Werk für Bardem und eine neuerliche Belagerung ihres trauten Heims. Doch diese artet auf eine Weise aus, die das fröhliche Trinken und Feiern aus dem ersten Teil in allen Belangen in den Schatten stellt. Angetrieben von Bardems Verlegerin (Kristen Wiig), wird das Haus zum Schauplatz eines regelrechten Personenkults. Es folgen Konflikte, es bilden sich Fraktionen; bald schon wird das einst so paradiesische Refugium zu einem barbarischen Schlachtfeld.

Aber irgendetwas ist seltsam in diesem Haus.
© Paramount Pictures
Spätestens hier wird sich das Publikum – passend zum brutalen Kriegstreiben auf der Leinwand – in Bewunderer und Gegner spalten. Grund dafür ist nicht nur der plötzliche Tonfallwechsel, sondern auch die Tatsache, dass Aronofsky vor Beginn des dritten Akts eine folgenschwere Entscheidung trifft: Er ergibt sich seinen Instinkten und lässt eine allegorisch angehauchte Erzählung sich in eine unverhohlene Allegorie verwandeln.

Allzu überraschend ist das angesichts seiner Filmografie nicht. Viele seiner Filme "verstecken" ihren Symbolismus im Vordergrund: Der unterbewertete The Fountain (2006) etwa spielt mit Reinkarnationsmotiven, handelt aber vordergründig von der kreativen Macht des Schriftstellers. Noah lässt sich problemlos als postapokalyptische Dystopie lesen. Und obschon Black Swan ein ziemlich konventionelles Wahnsinns-Narrativ verfolgt, scheint seine Bildsprache getränkt von Einstellungen, welche die abstrakteren Dialogzeilen der Figuren unmissverständlich zu erklären versuchen.

Indem er seine anfängliche Offenheit aufgibt, fügt sich mother! nahtlos in diese Reihe ein und drängt einem seine Interpretation geradezu auf. Kurzum: Aronofsky hat nichts weniger gemacht als die Bibel verfilmt und ihr dabei ein Stück esoterischen Feminismus hinzugefügt. Und die Adaption ist nicht einmal besonders subtil.

Plötzlich tauchen von allen Seiten unbekannte Besucher auf – wie etwa ein aufdringliches Ehepaar (Michelle Pfeiffer, Ed Harris).
© Paramount Pictures
Nachdem Lawrences neugeborenes Kind von der geifernden Menge in Stücke gerissen und verspeist wurde und sie ihr Haus in die Luft gejagt hat, fragt sie den praktisch unversehrten Bardem, wer er sei. Seine Antwort? "I am I", eine geläufige Alternative zum King-James-Bibelvers "I am that I am". Bardem ist also Gott, Lawrence eine Mensch gewordene Mutter Natur, die später auch die Rolle der Maria einnimmt. Ed Harris (laut Abspann "Man") ist Adam – mitsamt frischer Narbe in der Rippengegend –, Michelle Pfeiffer ("Woman") Eva. Domhnall Gleeson, der "älteste Sohn", der seinen Bruder erschlägt, ist Kain. Die offene Wasserleitung, die den Protagonisten vorübergehend Ruhe verschafft, ersetzt Noahs Flut. Selbst die zehn Plagen Ägyptens kommen als spielerische Details vor: eine Kröte unterm Heizofen, blutiges Putzwasser, Grillenzirpen auf der Tonspur.

Auch als der Tonfall umschlägt, bleibt Aronofsky dem Buch der Bücher treu. Bardems grosses neues Werk, dessen Erfolg den schrecklichen Krieg in seinem Haus heraufbeschwört, wurde inspiriert – also quasi unbefleckt geboren – durch Lawrences "Mother". Somit wird Jesus hier zum reinen messianischen Text, dessen ebenso erlöserisches wie apokalyptisches Versprechen erst durch seine Wiederkunft erfüllt wird – und zwar in Form des Sohnes, den Mother ihrem Ehemann gebiert.

Der Besuch stört den Eheman von Jennifer Lawrence' Figur, den grossen Poeten (Javier Bardem), nicht.
© Paramount Pictures
Hier formt Aronofsky seine biblische Allegorie vollends in eine dermassen düstere Auslegung der sogenannt heiligen Schrift, dass Buñuel und Bergman stolz gewesen wären. Schon vor dem dritten Akt ist mother! ein hochgradig subversiver Film. Titel und Erzählperspektive allein negieren die abrahamitische Legende eines männlichen Schöpfergottes, indem sie die Titel gebende Mutter, Ehefrau eines sichtlich älteren Schöpfers, prominent ins Zentrum rücken. Die eigentümlich, aber grossartig, spielende Jennifer Lawrence ist Dreh- und Angelpunkt des Films; die Kamera folgt ihr mit minimalem Abstand auf Schritt und Tritt, gewährt einem sogar Einblick in ihr Innerstes. Ihre Irritation ob der Eindringlinge in ihrem Haus ist die des Publikums, das sich lange nicht sicher sein kann, ob nun die Welt oder etwa doch Lawrence den Verstand verloren hat. Die Prämisse des Films ist das Beklagen einer inhärent verlogen erzählten Menschheitsgeschichte, aus der die Rolle der Frau – der göttlichen Mutter zum göttlichen Vater – gezielt herausgeschnitten wurde.

Folgerichtig ist die Welt – das Haus –, wie wir sie in der letzten halben Stunde sehen, wie bereits in Noah, ein elendes Jammertal. Ein Meer von Menschen, die im Abspann allesamt allegorische Namen wie Adulterer (Chris Gartin), Lingerer (Arthur Holden), Pilferer (Carolyn Fe) und Whoremonger (Genti Bejko) erhalten, lobpreist Bardem, betet seine Abbilder an, während Lawrence nur Hohn, Spott, Schläge und Tritte kassiert.

Entweder die Welt wird wahnsinnig oder die Titel gebende Mutter.
© Paramount Pictures
Das ist die Basis, auf welcher der liberal-jüdisch erzogene Aronofsky die christliche Offenbarung uminterpretiert und Gott letztlich die Entscheidungsgewalt über seine Schöpfung entzieht. Entgegen der buchstäblichen Lehre, dass der zurückgekehrte Jesus das Ende der Welt mit sich bringen wird, erzählt mother! von einer Parusie, in der die Menschheit im Angesicht des ihr prophezeiten Erlösers ihn und sich selbst vor lauter Fanatismus in Stücke reisst. Die Apokalypse kommt nicht von Gottes-, sondern von Menschenhand – besiegelt durch den feurigen Zorn der Muttergöttin. (Insofern bestehen spannende Parallelen zwischen diesem Film und Disneys Moana.) Doch das Wort, und somit auch das letzte, ist nun einmal – leider – bei Gott, und so muss denn auch diese Geschichte da aufhören, wo sie begonnen hat. Dem Chaos entsteigt eine neue Welt. Es ist das zyklische Weltbild, das man von Aronofsky aus The Fountain und Noah kennt.

Man muss diese wuchtige Allegorie nicht gut finden. Jede Kritik, die argumentiert, dass der dritte Akt das Potenzial der ersten beiden – grandios in ihrer durch Bild- und Tongestaltung sorgfältig konstruierten Atmosphäre des Unbehagens – verschenkt, ist nachvollziehbar. Doch obwohl sich die zahlreichen Schichten dieses Films schliesslich mehr oder weniger in eine einzige zusammenfalten lassen, regt das ganze Konstrukt dennoch zum intensiven Nachdenken über all seine Elemente und Ansätze an. Aronofsky ringt hier mit den ganz grossen Gedanken, die ihn auch in Noah umtrieben, hat mit mother! aber ein deutlich geeigneteres Vehikel gefunden, sich mit ihnen zu befassen. Das Resultat ist wirr, unbequem, manchmal frustrierend – und grosses Kino.

★★★★★

Sonntag, 17. September 2017

BoJack Horseman (4. Staffel)

© Netflix

"Im Laufe dreier immer besser werdenden Staffeln etablierte sich die animierte Netflix-Sitcom BoJack Horseman als eine der witzigsten und erwachsensten Serien im US-Fernsehen. Mit Staffel vier, die seit dem 8. September gestreamt werden kann, haben sich Series Creator Raphael Bob-Waksberg und Chef-Animatorin Lisa Hanawalt einmal mehr selbst übertroffen."

Ganzer Artikel auf Maximum Cinema (online einsehbar).