Donnerstag, 11. Juli 2019

Visual Albums, "I Am Easy to Find" und "Anima"

© 4AD / Netflix

Es gibt viele Gründe, warum das Beyoncé-Album Lemonade (2016) zu den wichtigsten Kunstwerken dieses Jahrzehnts gehört: Die Scheibe etablierte Beyoncé Knowles-Carter als grössten lebenden Popstar – ein Status, den sie zuletzt mit dem gefeierten Konzertfilm Homecoming (2019) über ihren Auftritt beim letztjährigen Coachella-Festival weiter zementierte. Lemonade, erschienen im Jahr der Trump-Wahl, setzte neue Standards für die politische Seite der Popmusik und hatte somit wohl Vorbildfunktion für Performances wie Childish Gambinos "This Is America" oder Stormzys viel diskutiertes Glastonbury-Konzert vor wenigen Wochen.

Und das Album war – nicht zuletzt – ein sogenanntes "Visual Album", das, dem Namen entsprechend, nicht nur aus Musik, sondern auch aus Filmmaterial besteht, welches das Gehörte zusätzlich kontextualisiert. Lemonade war nicht das erste Werk dieser Art – je nach Definition lässt sich schon Richard Lesters Beatles-Film A Hard Day's Night (1964) als Visual Album bezeichnen –, sondern reihte sich ein in eine lange, illustre Reihe von Verschmelzungen von Musik und Bild, von Pink Floyds The Wall (1982) über Princes Purple Rain (1984) bis hin zu Beyoncés eigenem Beyoncé (2013).

Doch es scheint, als habe Lemonade eine breite Wiederentdeckung des Visual Albums angestossen. Allein im ersten Halbjahr 2019 sind bereits zwei prominente Vertreter dieses Mediums erschienen: Zur Veröffentlichung der neuen LP der Alternative-Rock-Gruppe The National hat Mike Mills (Beginners, 20th Century Women) den experimentell erzählten Kurzfilm I Am Easy to Find gedreht, während Paul Thomas Anderson (There Will Be Blood, Phantom Thread) zum dritten Soloalbum des Radiohead-Frontmannes Thom Yorke den selbsternannten "One Reeler" Anima beisteuerte.

Unterlegt von Song-Fragmenten aus dem gleichnamigen The-National-Album, porträtiert I Am Easy to Find das Leben einer Frau – von Anfang bis Ende gespielt von Alicia Vikander, ohne CGI und Alters-Make-up – von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Situiert wird das Gezeigte – gefilmt in wunderschönem, scharfem Schwarzweiss – mithilfe von Untertiteln, die in ihrer lyrischen Schlichtheit wie eine Modernisierung der Zwischentitel aus der Stummfilmzweit wirken ("The feeling of being alone", "Surprised at how much others delude themselves").

Wer Mike Mills kennt, weiss, was zu erwarten ist. Wie die jeweiligen Enden von Beginners (2010) und 20th Century Women (2016) ist auch I Am Easy to Find vor allem an der Frage interessiert, welche Spuren eine einzelne Person auf der Welt hinterlässt. Und wie in seinen Langspielfilmen kommt Mills auch hier zum Schluss, dass jede und jeder grösser als er oder sie selbst ist, dass wir alle mehr berühren, mehr beeinflussen, mehr bewegen als wir je wissen können. Im Zusammenspiel mit den melancholischen Klängen von The-National-Sänger Matt Berningers Stimme entsteht so eine berührende fiktive Biografie, deren emotionale Kraft zwar nicht von der Hand zu weisen ist, die sich aber auch dem Vorwurf der Manipulation nicht gänzlich entziehen kann.

Im Zuge seiner beiden bekanntesten Regiearbeiten hat Mills ein feines Gespür dafür entwickelt, wie er ein Publikum zu Tränen rühren kann. In I Am Easy to Find wirkt der Einsatz dieser Kniffe bisweilen aber, als filmte er auf Autopilot: erste Liebe, Selbstzweifel, Selbstfindung, Krebs – für die grob skizzierte Alicia Vikander gilt exakt dasselbe wie für Ewan McGregor und Christopher Plummer in Beginners und für Annette Bening, Elle Fanning und Greta Gerwig in 20th Century Women. Universalität und sachdienliche Vereinfachung liegen hier empfindlich nahe beieinander.

Alicia Vikander in I Am Easy to Find.
© 4AD
Letztlich ist I Am Easy to Find ein kompetent inszeniertes Schattentheater – ein Film, in dem Figurentypen eine schablonenhafte Geschichte erzählen, bei der das Umgehen jeglicher Spezifik zum Konzept zu gehören scheint. Dazu passt die Rolle der Musik: Die mitunter herrlich verqueren Texte von The National ("I'm scared that I won't have the balls to punch a Nazi") sind nebensächlich; die Songs dienen einzig der atmosphärischen Unterstützung – purer Pop, auf den sich potenziell jedes nur erdenkliche Gefühl projizieren lässt.

Im Vergleich zu Mills' Film wirkt Paul Thomas Andersons Anima mehr wie eine Sammlung klassischer Videoclips. Ein Mann (Thom Yorke), eine Frau (Dajana Roncione) und eine Menge namenloser Statisten tanzen sich zu ausgewählten Songs von Yorkes Album Anima wie im Halbschlaf durch surreal-dystopische Räume.

Anderson, zu dessen Motiv-Repertoire ein unbändiges Interesse an Kultur und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gehört, hat sich hier eindeutig vom Hollywood der Zwischenkriegsjahre inspirieren lassen. Yorkes schüchternes Werben um Roncione erinnert an die vergleichbaren Bemühungen, die Charlie Chaplin in City Lights (1931) oder Buster Keaton, auf der Kuppelstange einer Lokomotive sitzend, in The General (1926) unternehmen. Es wird getanzt, als hätten Busby Berkeley und Gene Kelly sich in Modern Dance unterrichten lassen.

Handwerklich und choreografisch sind diese visuellen Umsetzungen von Yorkes kargen elektronischen "Klang-Dekonstruktionen" atemberaubend. Kreativität und Vision dieses viertelstündigen Traumtanzes stehen zu keinem Zeitpunkt infrage, ebenso wenig Thom Yorkes Qualitäten als chaplinesker Bewegungskünstler.

Doch wie seine Schauplätze – und viele von Andersons Spielfilmen – ist Anima geprägt von einer emotionalen Kälte, die in direktem Kontrast zur Geschichte in ihrem Zentrum steht. Yorke und Roncione sind Dreh- und Angelpunkt dieser impressionistischen Anekdote, doch ähnlich wie Alicia Vikander in I Am Easy to Find bleiben sie Typen, unscharf umrissene Romantiker, deren Abenteuer ganz und gar dem Formalismus untergeordnet wird. Ohne sich sichtlich von seinem Protagonisten-Paar zu entfernen, scheint das Ganze die beiden irgendwann dennoch zu vergessen und zu beschliessen, dass die formale Brillanz der Unternehmung der Aufmerksamkeit des Publikums würdiger ist. Der Mensch rückt in der Hintergrund, der Tanz, die kollektive Bewegung, in den Vordergrund.

Thematisch mag dies stimmig sein – immerhin spielt der Film ja in einer gleichgeschalteten, sedierten Gesellschaft –, doch das ist eben die Krux der postmodernen Kunst: Das performative Reproduzieren jener Verhältnisse, die innerhalb eines Werkes angeprangert werden, ist ein theoretischer Ansatz, der sich nur schwer befriedigend umsetzen lässt. So bleiben die spielerischen Verweise auf Chaplin, Keaton und Berkeley unergiebige Referenzen: Sie werden imitiert, aber kaum weitergedacht. Insofern passt Anima perfekt in den Anderson-Kanon, dessen Filme als Gedankenexperimente oft am besten funktionieren.

Dajana Roncione und Thom Yorke in Anima.
© Netflix
Es lässt sich argumentieren, dass Anima und I Am Easy to Find, obwohl sie in manchen Bereichen herausragende Arbeit leisten, illustrieren, was für ein heikles Unterfangen Visual Albums sind. Sowohl Anderson als auch Mills schaffen es zwar, die Musik von Thom Yorke respektive The National zu einem visuell beeindruckenden, thematisch spannenden Kurzfilm zu verdichten, der ihren jeweiligen Sensibilitäten als Regisseur entspricht – doch in letzter Konsequenz misslingt ihnen der Brückenschlag zwischen den Medien. Während Mills The National zu einer letztlich austauschbaren Geräuschkulisse für seine eigene Philosophie macht, verheddert sich Anderson in seiner Hommage an Kino, Musik und Tanz. Darüber zu sprechen, lohnt sich aber allemal.

I Am Easy to Find – ★★★
Anima – ★★★

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