Mittwoch, 2. Mai 2018

In den Gängen

Seit einigen Jahren zeichnet sich im westeuropäischen Kino eine ganz spezielle Art des Alltagsdramas ab: Unverkennbar mitinspiriert von Ken Loach, dessen sozialistische Filme stets das Ideologische mit dem Emotionalen verbinden, zeigen diese Werke die entmenschlichende Natur von Arbeit unter dem Spätkapitalismus – ganz im marxistischen Sinne.

Die Tragikomödie Samba (2014) von Éric Toledano und Olivier Nakache gehört zu diesem Kanon dazu – ein Porträt des modernen Paris, in dem Freizeit ein unerreichbarer Luxus geworden ist. Im oscarnominierten Deux jours, une nuit (2014) der Dardenne-Brüder opfert Marion Cotillard ein Wochenende, um ihre Arbeitskollegen davon zu überzeugen, sie nicht wegzurationalisieren. Stéphane Brizés La loi du marché (2015) erzählt davon, wie Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer gegeneinander ausspielen. Loach selbst steuerte mit seinem Palme-d'or-Gewinner I, Daniel Blake (2016), einer Tragödie über die Absurdität des ausgehöhlten britischen Sozialstaats, zu diesem inoffiziellen Subgenre bei.

Thomas Stubers In den Gängen, nach einer Kurzgeschichte von Drehbuch-Co-Autor Clemens Meyer, schlägt in die gleiche Kerbe. Schauplatz des Dramas ist ein abgelegener Grossmarkt irgendwo im Leipziger Umland. Hier tritt der junge Christian (der einmal mehr hervorragende Franz Rogowski) seine neue Stelle an: Gemeinsam mit dem alten Grossmarkt-Hasen Bruno (grossartig: Peter Kurth) kümmert er sich um die Getränkeabteilung. Nach Schichtende, lange nach Sonnenuntergang, wartet Christian allein auf seinen Bus, der ihn nach Hause bringt – in seine marode Plattenbauwohnung in einer gesichtslosen Vorstadt.

Trotz leichter Überlänge und einer bisweilen allzu losen Erzählstruktur ist In den Gängen ein subtiles, äusserst menschliches Drama über den Alltag im Dienstleistungssektor und den ewigen Kampf, im ewig gleichen Trott Verstand und Identität nicht zu verlieren. So findet der schweigsame Christian in Bruno einen väterlichen Freund, im Vorarbeiter Rudi (Andreas Leupold) einen einfühlsamen Chef und in der unglücklich verheirateten Süsswarenangestellten Marion (Sandra Hüller) eine Kollegin, in die er sich verliebt.

Christian (Franz Rogowski) findet im Grossmarkt Gefallen an Marion (Sandra Hüller).
© Xenix Filmdistribution GmbH
Diese Konstellation hat diverse Kommentatoren, wie etwa Michael Sennhauser und Selim Petersen, dazu verleitet, den Film als "beschwingend" zu bezeichnen. In den Gängen mag diesen Aspekt haben – seine Inszenierung von Arbeitsfreundschaften und seine gänzlich ostalgiefreie Würdigung des DDR-Solidaritätsgedankens sind das schlagende Herz der Geschichte.

Doch muss man sich schlussendlich dennoch fragen: Wäre all dies nicht auch unter besseren Bedingungen möglich? Stuber und Meyer beleuchten eine Welt, in der, willentlich oder nicht, alles Leben am Arbeitsplatz stattzufinden scheint: "In den Gängen" wird gelacht, geraucht, geflirtet, getrauert und Geburtstag gefeiert, doch stets mit der Uhr im Augenwinkel und der unsichtbaren Chefetage im Hinterkopf. Nach Arbeitsende wartet hingegen nur Dunkelheit, Kälte, einsamer Alkoholkonsum und ein verlottertes oder – in Marions Fall – totes Zuhause. Hier wird tatsächlich nicht gearbeitet, um zu leben, sondern gelebt, um zu arbeiten – und das wohl für wenig mehr als den Mindestlohn.

In seiner mitunter an Aki Kaurismäki erinnernden Lakonie lässt der Film offen, was als romantisch und was als tragisch aufzufassen ist. Ohne moralischen Zeigefinger konzentriert sich In den Gängen ganz auf seine klar umrissenen Figuren und ihr Streben nach Menschlichkeit und ermöglicht einem so einen differenzierten Blick auf die emotionale wie auch auf die ideologische Ebene: Wenn Christian und Marion das Meeresrauschen im Gabelstapler hören, ist die Poesie dieser Entdeckung nicht von der Hand zu weisen. Doch gleichzeitig kann man sich auch fragen, warum die beiden denn eigentlich nicht ans Meer fahren können.

★★★★

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