Donnerstag, 19. März 2015

Chrieg

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Scharfkantig, herausfordernd, inhaltlich und gestalterisch anspruchsvoll – so hat sich das Schweizer Kino seit der Jahrtausendwende nur noch in äusserst seltenen Fällen gezeigt. Doch mit Chrieg, dem wuchtigem Langspielfilm-Debüt des Baslers Simon Jaquemet, keimt neue Hoffnung auf.

Auf der Alp, da ist es schön. In nur sieben kurzen Worten lässt sich die Strategie zusammenfassen, mit der die Schweizer Tourismus-Industrie schon seit Anbeginn des Fernreise-Zeitalters Besucher aus aller Welt in die Berge, in Hotels, Chalets, Kurhäuser und Souvenir-Läden lockt. Denkt man im Ausland an die Schweiz, beschränken sich die Assoziationen – auch dank sorgfältiger Image-Aufrechterhaltung durch globale Marken wie Appenzeller, Ricola oder Toblerone – gemeinhin auf Käse, Schokolade, Kühe und Berge. Diesem bäuerlichen Idyll mit ikonoklastischem Eifer zu begegnen, hat entsprechend hohen Symbolwert – und im Schweizer Kunstschaffen durchaus Tradition. In seinem Seldwyla-Novellenzyklus entlarvte der Stadtzürcher Gottfried Keller das romantische Bild der stolzen Bauerndorf-Nation als verstocktes Kleinbürgertum. "Ce n'est que de la neige et des rochers", beklagt die enttäuschte Hauptfigur von Yves Yersins Film Les petites fugues auf ihrem Hubschrauber-Flug ums ikonische Matterhorn. Für Kurt Gloors Erfinder hält das Landleben letztlich nur Enttäuschung und Rückständigkeit bereit; derweil im Schweizer Kinoklassiker schlechthin, Fredi M. Murers Höhenfeuer, die Alp zum Schauplatz eines alttestamentarischen Sündenfalls wird.

Verlernt haben die Schweizer Filmemacher diesen Berg-Ikonoklasmus zwar nicht – siehe Sennentuntschi, Der Verdingbub oder L'enfant d'en haut –, doch scheint zuletzt ein wenig der thematische Fokus abhanden gekommen zu sein; oft bleibt die Alpen-Kulisse ein Tableau für anderweitige Konflikte. Hier setzt Simon Jaquemets Chrieg an, ein Film, der sich augenscheinlich in der Höhenfeuer-Tradition positioniert und der – obschon vom Regisseur primär als "Visualisierung der Verführung von Gewalt" beschrieben – mit eindrücklichem Furor das alte Idyll zeitgenössisch-kritisch beleuchtet. Der archaische, vornationalstaatlich martialische – schweizerdeutsche – Titel deutet es bereits an: Hier wird zu einem gewissen Grad das Selbstverständnis einer Nation neu ausgehandelt.

Statt Arbeitstherapie wartet auf der Bündner Alp ein von Jugendstraftätern übernommener Bauernhof auf den 15-jährigen Matteo (Benjamin Lutzke).
© Hugofilm
Der Protagonist heisst Matteo (gespielt vom starken Benjamin Lutzke), ist 15 Jahre alt und kommt aus dem Herzen der Schweiz. Dieses liegt jedoch, anders als es uns Die Kinder vom Napf weismachen wollte, nicht in Romoos, sondern in der gesichtslosen Neubau-Agglomeration von Zürich. Sein Schulweg führt ihn an der Autobahn vorbei; abends besorgt er sich am HB den Stoff für seine Joints, bevor er eine Prostituierte zu sich nach Hause einlädt. Nach einer besonders leichtsinnigen Aktion reisst seinen Eltern (John Leuppi, Livia S. Reinhard) der Geduldsfaden: Sie lassen Matteo auf eine Bündner Alp verfrachten, wo er auf dem abgelegenen Bauernhof von Hanspeter (Ernst C. Sigrist) einer dreimonatigen Arbeitskur unterzogen werden soll. Dort angekommen, muss der überrumpelte Teenager aber feststellen, dass der alkoholkranke Hanspeter längst die Kontrolle über den aggressiven Jugendstraftäter Anton (Ste) und dessen Freunde, den ausschaffungsbedrohten Serben Dion (herausragend: Sascha Gisler) und die androgyne Ali (Ella Rumpf), verloren hat.

Dramaturgisch mag Jaquemet aus dieser Prämisse insgesamt zwar nur wenig Überraschendes herausholen, doch im Kontext des komiteegesteuerten Schweizer Kinos kommt der eigenwillige, von moralischen Grautönen beherrschte Chrieg dennoch einer kleinen Revolution gleich. In kargen Bildern und knappen Dialogen schildert der streckenweise die Werke Ulrich Seidls (Hundstage, Import/Export) evozierende Film das ziellose Aufbegehren der vier Jugendlichen gegen jede Form von Autorität – Autorität, die sich in ihrem Verhalten kaum reifer zeigt als die von ihr als „schwierig“ eingestuften Teenager. Auf der Alp, da ist es schön – aber nicht wegen, sondern trotz der Schweizer.

★★★★

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