Samstag, 22. Juli 2017

Grave

Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr stellt ein französischsprachiger Film die Regeln des Horrorgenres auf den Kopf. Nach Olivier Assayas' eindringlicher digitaler Geistergeschichte Personal Shopper experimentiert Julia Ducournaus Langspielfilmdebüt Grave (auch bekannt als Raw), Gewinner des FIPRESCI-Kritikerpreises in Cannes (2016), mit den Konventionen von Body-Horror und Zombie-Fiktion.

Der Verweis auf das florierende Zombie-Subgenre ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. In Grave gibt es keine Untoten im engeren Sinn; die Bezugspunkte der 33-jähirgen Regisseurin sind weniger George A. Romero und John Carpenter als David Cronenberg und Dario Argento. Und doch scheint im deutlich von der Aussenwelt abgegrenzten Mikrokosmos, in dem der Film spielt, etwas Düsteres heranzuwachsen, sodass es nicht schwer fällt, das Ganze als Ouvertüre zu den Zombie-Apokalypsen von Night of the Living Dead (1968) und 28 Days Later (2002) zu lesen.

Im Zentrum von Grave steht Justine (Garance Marillier), die jüngste Tochter einer vegetarisch lebenden Familie, die am Anfang ihrer Ausbildung zur Tierärztin steht. Die Universität, an der auch ihre Schwester Alexia (Ella Rumpf, bekannt aus den Schweizer Filmen Chrieg und Die göttliche Ordnung) studiert, ist für Neuankömmlinge aber kein angenehmes Pflaster. Es ist Tradition, dass die älteren Studenten, die "Veteranen", den Anfängern während der ersten Semesterwoche das Leben zur Hölle machen.

Ducournau inszeniert diese bizarre Gegenwelt mit Schwindel erregender Virtuosität: In langen Einstellungen folgt Ruben Impens' Kamera dem wilden Treiben in den überfüllten Zimmern, Gängen und Kellergewölben des Studentenheims, wo Abend für Abend wilde Partys steigen. Überbordende Bild- und Toneindrücke, wie man sie in vergleichbarer Form in Sebastian Schippers Victoria (2015) gesehen hat, treffen auf absurdes, geradezu infernalisches Treiben, das dem Luis Buñuel von Viridiana (1961) und El ángel exterminador (1962) seine Reverenz erweist.

Justine (Garance Marillier) muss zu Beginn ihres Veterinärstudiums sadistische Initiationsriten durchlaufen.
© Focus World
Buñuels Geist macht sich auch im Charakterbogen bemerkbar, den Ducournaus Hauptfigur beschreibt. Wie einst Viridiana ist auch Justine zu Beginn des Films eine fast schon religiös überhöhte Präsenz – Wunderkind, Vegetarierin, Jungfrau. Doch die Ikone erhält Risse, als die Veteranen die jungen Studenten dazu nötigen, rohe Kaninchennieren zu essen: Denn neben einer allergischen Reaktion, die Teile ihrer Haut abblättern lässt, scheint der Verzehr von Fleisch in Justine einen unstillbaren Hunger auf mehr auszulösen.

Es wird nie explizit darauf eingegangen, was genau hinter Justines Impulsen, die schlussendlich in Kannibalismus münden, steckt. Doch das macht Grave umso effektiver. Der Film ist ein seltsames Horrorwerk, das sich über weite Strecken nicht wie eines verhält – wodurch der Eindruck, den die wahrlich erschreckenden Momente machen, maximiert wird. Von ihren verstörenden Traumbildern bis hin zu ihrer schonungslosen Inszenierung von abgetrennten und angekauten Gliedmassen – Ducournau versteht es hervorragend, ihr Publikum zu packen und nicht wieder loszulassen, ob es nun will oder nicht.

Nicht zuletzt dank ihrer Schwester Alexia (Ella Rumpf) entdeckt die Vegetarierin Justine ihren Appetit für Menschenfleisch.
© Focus World
Wie bei den besten filmischen Tabubrüchen verbirgt sich unter der blutigen Oberfläche eine grosse Auswahl an Motiven und möglichen Interpretationsansätzen. Will man den Buñuel-Vergleich weiterziehen, lässt sich Grave – insbesondere die sexuelle Dimension von Justines "Fleischeslust" – als subversiver Kommentar auf das gestörte Verhältnis der patriarchalischen Gesellschaft zum weiblichen Körper auffassen. Trotz vereinzelter Sexszenen wird dieser hier sozusagen "entsexualisiert", der "Male gaze" ausgehebelt: Entblösste Brüste entbehren jeder erotischen Darstellung; die Kamera fokussiert sich auf Justines blutig gekratzte Haut, die Haare, die sie erbricht, die Schamhaare, die Alexia ihr entfernen will. So widersetzt sich der Film der sexistischen Inszenierungskonvention, die Frauen nur dann Körperlichkeit zugesteht, wenn diese "sauber" und "jungfräulich" daherkommt.

Buchstäblich wird diese Subversion, diese Umkehrung, durch Ducournaus Sexualisierung von Justines Kannibalismus: Das Verspeisen eines Fingers wird zum Höhepunkt der Erotik; beim Sex mit ihrem (homosexuellen) Mitbewohner Adrien (Rabah Naït Oufella) geht ihr Orgasmus damit einher, dass sie ihren eigenen Arm blutig beisst; der vielleicht intimste Moment zwischen ihr und Alexia ist das Verarzten der einander zugefügten Bisswunden. (Inzestuöse Tendenzen sind bei einem klassisch subversiven Kunstfilm wie Grave nie allzu weit.)

Bei Justine wechseln sich Angstzustände und animalischer Hunger ab.
© Focus World
Aus einem anderen Winkel betrachtet, scheint Ducournau auch eine zynische Parabel auf die Normalisierung von Tierfleischkonsum gedreht zu haben. Wiederholt wird auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier eingegangen, auf die Frage, welche Rechte Letztere haben oder haben sollten. Über welche mentalen Kapazitäten verfügen Schweine? Leidet ein vergewaltigter Affe gleich wie eine vergewaltigte Frau? Und akzeptiert man die Prämisse, dass tierische Selbsterkenntnis existiert, bleiben als Konsequenz nicht nur noch Fleischverzicht oder Kannibalismus übrig?

Der Film entlässt einen mit einem flauen Magen und einem Kopf voller unbequemer Fragen wie diesen aus dem Kino. Grave ist ein gleichermassen stürmisches wie verstörendes, faszinierendes und Genre sprengendes Debüt, dessen thematische und ästhetische Selbstsicherheit schlichtweg atemberaubend ist. Julia Ducournau lautet der Name – man sollte ihn sich merken.

★★★★★

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