Sonntag, 28. April 2013

Kon-Tiki

Nur ein kleiner Teil des globalen Kinopublikums wird jemals den Film zu Gesicht bekommen, der im Januar 2013 unter dem Titel Kon-Tiki für den Fremdsprachen-Oscar nominiert wurde. Im Bestreben, da hin gehende Wünsche des 2002 verstorbenen Thor Heyerdahl, auf dessen gleichnamiger Expedition das Projekt basiert, zu würdigen, griffen die Regisseure Joachim Rønning und Espen Sandberg auf eine Technik aus der Frühzeit des Tonfilms zurück: War eine Szene im Original (hier: auf Norwegisch) abgedreht, spielten die Darsteller sie noch einmal – im vorliegenden Fall auf Englisch. Diese Wiederauflebung einer cineastischen Tradition passt, denn Kon-Tiki ist altmodisches Abenteuerkino: mitreissend, beeindruckend, unvollkommen.

Während seiner Feldforschungen in Polynesien in den 1930er Jahren entdeckt der norwegische Ethnograf Thor Heyerdahl (Pål Sverre Valheim Hagen) mit seiner Frau Liv (Agnes Kittelsen) Erstaunliches: Die Mythen der Einheimischen, die Strömungen des Pazifiks sowie alte Götterstatuen, welche jenen auf dem südamerikanischen Festland ähneln, bringen ihn dazu, die Lehrmeinung, die polynesischen Inseln wären von Asien aus besiedelt worden, zu hinterfragen. Knapp zehn Jahre lang versucht Thor vergeblich, die Welt der Wissenschaft von seiner These zu überzeugen. 1946 beschliesst er, den praktischen Beweis anzutreten: Er baut ein originalgetreues Floss namens "Kon-Tiki", mit dem er, wie einst die peruanischen Ureinwohner, den Ozean überqueren und das polynesische Archipel erreichen will – getragen von den Meeresströmungen. Mit einer fünfköpfigen Mannschaft sticht er im April 1947 in See, wo sein primitives Gefährt Haien, Stürmen und Materialermüdung ausgesetzt ist.

Sechs Männer kämpfen in einem kaum steuerbaren Boot mitten im Meer um ihr körperliches und mentales Überleben, umgeben von einer end- und uferlos scheinenden Wassermasse. Die Ähnlichkeit, die Norwegens fünfter oscarnominierter Film mit Life of Pi, dem zahlenmässigen Gewinner der Academy Awards 2013, trägt, ist unübersehbar. Sogar einer der Hauptkritikpunkte, den sich Ang Lees Romanadaption regelmässig anhören musste – dass sie, wie ein früher Tonfilm, ihre Eloquenz verliert, wenn die Stille den Worten weicht –, trifft auf Kon-Tiki zu: Mit dem an sich hehren Ziel, Thor Heyerdahls bahnbrechende transpazifische Flossfahrt mit menschlichem Interesse anzureichern, liessen sich Joachim Rønning und Espen Sandberg (das Duo hinter Bandidas) zu mitunter dubioser künstlerischer Freiheit hinreissen.

Noch herrscht die Zivilisation: die Gruppe um Thor Heyerdahl (Pål Sverre Valheim Hagen, 2.v.l.) vor ihrem Aufbruch.
© dcm
Das zwischenmenschliche Drama, welches sich zwischen den Männern abspielt, wirkt in gewissen Momenten ein wenig zu künstlich, die Spannung zu sehr komponiert; Heyerdahls Kampf um seine Theorie wird auf ein simples Gut-Böse Schema reduziert: die bärtigen, holzbeinigen Abenteurer, die Erben Darwins, gegen die verknöcherten Stubenhocker der elitären National Geographic Society. Die englische Fassung führt stellenweise zu arg gestelzten Dialogen. Auch dramaturgisch ist Kon-Tiki nicht über jeden Zweifel erhaben, zumal sich der Löwenanteil seiner Laufzeit mit den ersten 1500 Kilometern der mehr als viermal so langen Strecke befasst.

Ähnlich wie Life of Pi jedoch ist auch Kon-Tiki ein Film, bei dem die Erwähnung vereinzelter Mängel letztlich Pedanterie gleich kommt. Geschichte werden Rønning und Sandberg mit ihrer Verfilmung eines der grossen Abenteuer der Moderne nicht schreiben, noch vermögen sie Ang Lees religionsphilosophisches Drama qualitativ zu überbieten; doch ist es ihnen gelungen, Heyerdahl ein (fiktionalisiertes) filmisches Denkmal zu setzten, welches den ehrfürchtigen Zuschauer in den Zustand kindlichen Staunens versetzt.

Archaischer Kampf: Ein Hai attackiert das Floss.
© dcm
Daran haben zweifellos Geir Hartly Andreassens Aufnahmen, verfeinert mit eindrücklichen Spezialeffekten, grossen Anteil. Die Entscheidung, Kon-Tiki im Meer statt im Studiotank zu drehen, rechtfertigt sich in jeder Einstellung: Der Pazifik, obwohl auf der Leinwand vertreten durch die Gewässer um Malta, Thailand und die Malediven, wird so zum lebendigen Ozean, wo am Himmel eine echte Sonne strahlt, der Horizont ein realer Horizont ist, wo sich unter der Wasseroberfläche nicht ein Kunststoffboden, sondern wahrhaftiger Meeresgrund befindet. So minim der Unterschied auch sein mag, er ist spürbar.

Doch Kon-Tiki ist mehr als ein Augenschmaus und auch mehr als eine Verneigung vor der Leistung von Thor Heyerdahl, Herman Watzinger (Anders Baasmo Christiansen), Bengt Danielsson (Gustaf Skarsgård), Knut Haugland (Tobias Santelmann), Erik Hesselberg (Odd-Magnus Williamson) und Torstein Raaby (Jakob Oftebro). Das Werk ist ein Plädoyer für Heyerdahls pantheistischen Pioniergeist, eine nostalgische Rückbesinnung auf die Zeit, in der das Mysterium und die Unzähmbarkeit der Erde noch selbstverständlich waren.

Mit sich und der Welt im Reinen: die "Kon-Tiki" auf dem Pazifik.
© dcm
Die Crewmitglieder der "Kon-Tiki" verlassen Peru in Anzug und Krawatte und erreichen das polynesische Raroia-Atoll gebräunt, gekleidet in schmutzigen Fetzen, ausgestattet mit langen, wilden Wikinger-Bärten. Dazwischen haben sie Haie bekämpft, Stürmen getrotzt, bizarre Meeresbewohner beobachtet, einen Walhai bestaunt, ihn attackiert und sich darob Vorwürfe gemacht. Kon-Tiki erzählt die Geschichte vom Menschen und seinem Kampf, seinen Platz in der Natur und seine Einstellung ihr gegenüber zu finden. Die kathartische Lösung dieses Dilemmas, die Erfüllung des unmöglichen Traumes der Menschheit, gewähren Rønning und Sandberg ihren Helden in einer der berückendsten Szenen des Films, einem atemberaubenden CGI-Schwenk über die Erdatmosphäre. Die sechs Skandinavier liegen auf ihrem Floss und konstatieren, mit sich und der Welt im Reinen: "Maybe nature has just accepted us as a part of itself".

★★★★

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