Mittwoch, 20. März 2013

Detachment

Kontroversen, Pech und vor allem Widersprüche prägen die Filmkarriere des britischen Künstlers Tony Kaye: In eineinhalb Jahrzehnten drehte er nur vier Filme, von denen es einer nicht einmal ins Kino schaffte. Er erntete begeisterte Kritiken und wütende Publikumsreaktionen, drängte sich trotz heftig geführter Debatten nie ins Scheinwerferlicht. In Detachment versucht er nun, Dokumentation und Gesellschaftsdrama zusammenzuführen; er scheitert auf faszinierende Art und Weise.

Der Aushilfslehrer Henry Barthes (Adrien Brody) wird damit beauftragt, an einer New Yorker Problemschule einen Monat lang Englisch zu unterrichten. Dort, wo die Noten tief und die Gewaltbereitschaft hoch ist, treffen resignierte Lehrer auf wütende, frustrierte, desinteressierte und deprimierte Schüler, deren Eltern sich wenig bis gar nicht mit dem Werdegang ihrer Kinder auseinandersetzen. Während seiner Anstellung erlebt Henry, wie sich die Lehrerschaft (bestehend aus Marcia Gay Harden, Blythe Danner, James Caan, Christina Hendricks und der starken Lucy Liu) mit emotionaler Distanz, Psychopharmaka und blankem Zynismus der täglichen Sisyphusaufgabe stellt, und lernt nebenbei die junge Prostituierte Erica (Sami Gayle) kennen.

Tony Kayes Interesse an und Umgang mit Amerikas soziopolitischen Brennpunkten platziert sich irgendwo zwischen (filmischer) Fiktion und Realität; in seinen Werken trifft – und beisst – sich dokumentarische Genauigkeit mit ausschweifender Ästhetik und pointierter Dramaturgie. Zwei Spielfilme hat er gemacht, sie handeln von Neonazis (American History X) und Hurrikan Katrina (Black Water Transit – bis heute nicht fertig gestellt); seine gefeierte Monumentaldokumentation Lake of Fire gilt als unparteiisches Standardwerk zum Thema Abtreibung.

Detachment in dieses Schema einzuordnen, ist schwierig. Freilich, Kaye erzählt, nach einem Drehbuch von Carl Lund, eine gänzlich konstruierte Geschichte, die mit bekannten Schauspielern besetzt ist. Andererseits bedient sich der Film aber auch beim Stil-Katalog des Dokumentarfilms: Der Protagonist gibt einer unsichtbaren Crew ein Interview, in dem er, quasi als Gegenentwurf zu Robin Williams in Dead Poets Society, über das undankbare Leben eines Innenstadt-Lehrers spricht, über die Defizite der US-Bildungspolitik, über das Regierungsprojekt "No Child Left Behind". Detachment ist auch eine Milieustudie, verwandt mit Matthieu Kassovitz' La haine, die einen Blick hinter die Fassade der Vorzeigemetropole New York wirft und dabei aufdeckt, dass sich die Banden- und Drogenprobleme der Achtzigerjahre bestenfalls lediglich verlagert haben, dass im mardoen Bildungssystem derzeit eine neue Generation von perspektivlosen Jugendlichen heranwächst, die ohne enge Zusammenarbeit von Staat, Schulbehörden und Familien bald wieder zu Uzi und Crackpfeife greifen könnten.

Aushilfslehrer Henry Barthes (Adrien Brody) nimmt sich der depressiven Meredith (Betty Kaye) an.
© filmcoopi

Parallel dazu beschäftigen Kaye weitere gesellschaftliche Problembereiche: Henry Barthes' Grossvater (beeindruckend: Louis Zorich) siecht in einem liederlich geführten Pflegeheim vor sich hin; Erica ist, obwohl noch keine 20 (Darstellerin Sami Gayle ist 17 Jahre alt), bereits durch das soziale Fangnetz gefallen und kratzt sich ihren Lebensunterhalt auf dem Strich zusammen, wo aggressive Freier und gefährliche Geschlechtskrankheiten zum Berufsrisiko gehören. Aus diesen Szenen aus dem New Yorker Strassenleben hinter den glitzernden Wolkenkratzern New Yorks, den Einzelschicksalen Henrys und seiner Kollegen sowie den zahlreichen morbiden Kreideanimationen webt Kaye einen Flickenteppich, der letztlich nur ein tristes Fazit zulässt: Das System ist kaputt, korrodiert von den alten Strukturen und Praktiken, die man eigentlich schon überwunden und ersetzt geglaubt hat.

Was Detachment zu sagen hat, ist sicher nicht falsch; wie er das Gesagte präsentiert, ist angenehm experimentierfreudig und würde anderen Filmen mit ähnlicher Mission gut zu Gesicht stehen. Woran der Versuch aber krankt, ist das Wie. Mit hoch erhobenem Zeigefinger dozieren Kaye und Lund über den physischen und ideologischen Zerfall der öffentlichen Institutionen. Ihre Figuren halten lange, bedeutungsschwangere, deklarative Monologe – einer davon wird von einer Rede Adolf Hitlers ergänzt –, in denen sie exakt auflisten, wo die Fehler liegen, wo Verbesserungsbedarf besteht. Anders als etwa David Cronenbergs Cosmopolis, ebenfalls ein erbitterter Rundumschlag, greift Detachment aber nicht Ideen und kulturelle Mentalitäten, sondern konkrete, fassbare Probleme an. Und dort gilt die Maxime, dass mit dem Anprangern allein noch nichts erreicht ist. So zerbricht Detachment an seiner unglücklichen Heuchelei. Es ist ein Film, der sich darüber echauffiert, dass die Mächtigen für die Herausforderungen der Realität nur leere Worte übrig haben. Entgegenzusetzen hat er ihnen aber nur eines: eine wütende, eloquente, aber leider nicht minder leere Tirade.

★★

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