Freitag, 6. Januar 2012

Poulet aux prunes

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud verfilmen nach dem begeisternden Persepolis (2007) erneut einen von Satrapis Comics – Poulet aux prunes –, diesmal als Realspielfilm. Dieser ähnelt seinem Vorgänger zwar in diversen Punkten, ist aber noch assoziativer und verträumter. Ein Hochgenuss.

"Yekii boud, yekii naboud". Es war einmal, es war keinmal. So beginnen im persischen Sprachraum die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Und als solches präsentiert sich auch Poulet aux prunes, die Geschichte von Nasser-Ali (Mathieu Amalric, der seine grossen, traurigen Augen optimal einzusetzen weiss), des begnadetsten Geigers seiner Zeit. Nach jahrelangem Umherstreifen in der Welt hat er sich, auf Drängen seiner Mutter (Isabella Rossellini) hin, mit Faranguisse (Maria de Medeiros) in Teheran niedergelassen und lebt nun mit ihr und den beiden gemeinsamen Kindern das Leben des iranischen Mittelstandes der 1950er-Jahre. Doch als Faranguisse seine Geige irreparabel zerstört und ihn überdies seine alte, wahre Liebe Irâne (Golshifteh Farahani) nicht mehr erkennt, beschliesst Nasser-Ali, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und darauf zu warten, dass ihn der Todesengel Azraël (Edouard Baer) ins Jenseits mitnimmt.

Was die Form angeht, so besteht der grösste Unterschied zwischen Poulet aux prunes und Persepolis im jeweiligen Fokus: Während Letzterer sich ganz und gar auf das Leben seiner Protagonistin konzentriert – es ist immerhin Marjane Satrapis Biografie –, ist das Motiv des Ersteren eindeutig der Tod. Nicht die Hauptfigur ist dieses Mal der Erzähler, sondern gleich Azraël selbst. Und dieser lässt auch gar keine Zweifel am Ausgang der Geschichte aufkommen; Nasser-Ali erwartet das Ende seines Daseins, welches nach acht Tagen auch wahrhaftig eintritt. Doch wesentlich ist nicht, was die Aussenwelt sieht; im Kopf von Nasser-Ali spielt sich noch einmal sein Leben ab, während der Todesengel einen Blick hinter die Kulissen wirft und verrät, was aus den Kindern des Geigers wird, ob Irâne sich wirklich nicht an ihn erinnert und was es eigentlich bedeutet zu sterben. So entsteht ein faszinierender Bewusstseinsstrom, der nicht linear verläuft, sondern sich an den zufälligen Assoziationen Nasser-Alis orientiert.

Heirat wider Willen: Stargeiger Nasser-Ali Khan (Mathieu Amalric) ehelicht Faranguisse (Maria de Medeiros).
Im Verlauf des Films wechseln sich dementsprechend die Trauer des Protagonisten über seine verflossene Liebe mit den wissenden Kommentaren Azraëls ab. Dazu passen natürlich jene herrlich schwarzhumorigen und skurrilen, ja fast schon surrealen Einschübe, die Satrapi so herausragend beherrscht, und die man auch in Poulet aux prunes nicht vergebens sucht. Diese mögen zwar in gezeichneter Form etwas besser funktionieren (auch wenn hier Panoramen und Hintergründe gezeichnet sind) – man denke an das himmlische Zusammentreffen von Gott und Karl Marx in Persepolis. Doch etwaige Einwände dürften sich spätestens nach der "amerikanischen" Szene – einem veritablen Kulturschock, auch fürs Publikum – verflüchtigt haben.

Aber trotz aller Komik ist Poulet aux prunes primär ein todtrauriges, wunderschönes und subtil-poetisches Märchen, wie man es tatsächlich aus Tausendundeiner Nacht zu kennen glaubt. Nach dem stark politischen Persepolis laden Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud zur orientalischen Traumstunde. Es lohnt sich, der Einladung Folge zu leisten.

★★★★★

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