Donnerstag, 23. Juni 2011

Un homme qui crie

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Passend zum anhaltenden "Arabischen Frühling", ist nun im Kino Mahamat-Saleh Harouns Un homme qui crie angelaufen; ein introspektiver Kriegsfilm, der die eigentlichen Kampfhandlungen ausklammert und anhand des Schicksals eines einzelnen Mannes eindrücklich den Bürgerkrieg im Tschad porträtiert.

Adam (Youssouf Djaoro) ist seinem Quartier in N'Djamena, der Hauptstadt der Sahararepublik Tschad, eine kleinere Berühmtheit; 1965 gewann er die zentralafrikanische Schwimmmeisterschaft, was ihm den Spitznamen "Champion" einbrachte. Nun ist er 55 Jahre alt und arbeitet als Bademeister in einem Luxushotel – ein Traumjob. Gemeinsam mit seinem 20-jährigen Sohn Abdel (Diouc Koma) kümmert er sich um die Sauberkeit des Swimmingpools, sammelt gebrauchte Badetücher ein und erteilt Kindern Schwimmunterricht. Aber mit der neuen Chefin des Hotels brechen andere Zeiten an: Die alteingesessenen Mitarbeiter werden entweder entlassen oder, in Adams Fall, versetzt. Abdel ist nun alleiniger Bademeister, während sein Vater an der Verkehrsschranke des Hotels ein tristes Dasein fristet, seines Lebensinhaltes – des Pools – beraubt. Währenddessen kämpft das tschadische Militär gegen Rebellen, die die Landeshauptstadt einnehmen und die Regierung stürzen wollen. Jeder Bürger ist dazu aufgerufen, die Soldaten zu finanzieren oder sonstwie zu unterstützen, woran der Quartierboss (Emil Abossolo M'bo) Adam nur zu gern erinnert. Doch "Champion" hat kein Geld zur Verfügung, sondern nur seinen Sohn, der ihn aus seinem Beruf gedrängt hat.

Un homme qui crie ist ein Kriegsfilm der besonderen Art. Für das Genre typische Bilder wie dramatische Schusswechsel oder unmenschliche Gräueltaten sucht man, abgesehen von sporadisch auftauchenden Fernsehberichten, vergebens. Selbst der im Titel vorkommende Schrei wird dem Zuschauer vorenthalten. Dergestalt melodramatische Elemente wären in Mahamat-Saleh Harouns neuem Film auch komplett fehl am Platze. Vielmehr zelebriert der Regisseur und Autor eine elegante, an Stoizismus grenzende, melancholische Ruhe, die nicht einmal in den tragischsten Momenten gebrochen wird. Er geht ohne theatralisches Getue und erzwungenen Schwermut auf Schuld, Sühne und (mögliche) Erlösung seiner Hauptfigur ein und schafft so eine ergreifende und vielschichtige Charakterstudie. Und obwohl der Gewissenskonflikt im Zentrum von Un homme qui crie den tschadischen Bürgerkrieg in vielerlei Hinsicht widerspiegelt, fühlt sich der Film niemals wie ein Lehrstück über Sinn oder Sinnlosigkeit der Rebellionsbewegung im Tschad an, sondern stets wie ein intimer Blick in die persönliche Tragödie eines normalen Menschen – eine Tragödie, die durch die Bedrohung des Krieges letztendlich ins Rollen gebracht wird. Das Drama um Adam – oft verglichen mit dem Protagonisten (Emil Jannings) in F. W. Murnaus Stummfilmklassiker Der letzte Mann (1924) – ist das des alternden Menschen, der sich mit seiner eigenen Ersetzbarkeit konfrontiert sieht und nichts unversucht lässt, diese Entwicklung aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen, selbst wenn dabei die eigene Familie zerstört wird. Haroun beschreibt diese Tragik ohne Wertung oder Verurteilung, sondern mit einfühlsamer Zurückhaltung, wodurch Adams Taten immer ein Stück weit nachfühlbar bleiben.

Neuigkeiten von der Front? Bademeister Adam (Youssouf Djaoro) sorgt sich um seinen Sohn, den er aus Geldnot in die Armee geschickt hat.
Überhaupt erweist sich Haroun als äusserst sorgfältiger Regisseur mit einem beeindruckenden Sinn fürs Detail, im zeitgenössischen Kino vergleichbar mit dem Franzosen Stéphane Brizé (Je ne suis pas là pour être aimé, Mademoiselle Chambon). Viele Szenen sind fast gänzlich stumm; lange Einstellungen (mit wunderschönen Bildkompositionen von Laurent Brunet) herrschen vor; und ein Grossteil der filmischen Ausdruckskraft stammt von den Gesichtern der Schauspieler. In dieser Beziehung überzeugt vor allem der fantastische Youssouf Djaoro, der dem wortkargen Adam allein durch seine Mimik schon sehr viel Tiefe verleiht.

Mahamat-Saleh Haroun präsentiert mit Un homme qui crie ein eindringliches Drama, das im Stile einer griechischen Tragödie unaufhaltsam auf die finale Katastrophe zusteuert, seiner gebrochenen Hauptfigur am Ende jedoch die Möglichkeit der Katharsis offenlässt. Adams Geschichte ist sowohl isolierte Erzählung, als auch Parabel auf die momentane Lage im Tschad; der titelgebende Schrei ist ein innerliches, nicht geäussertes Bekenntnis der Verzweiflung, welches Inhalt und Subtext miteinander verbindet. So ist Un homme qui crie ein Kinoerlebnis mit einer politischen Dimension, das sich aber nicht als solches gebärdet – eine stille, in sich gekehrte Alternative zu Hollywoods Kriegsfilmen.

★★★★★

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