Freitag, 2. April 2021

Raya and the Last Dragon

Vor 500 Jahren wurde das Land Kumandra von den Druun heimgesucht, bösen Geistern, die Menschen in steinerne Statuen verwandeln. Doch dank eines letzten Aufbäumens der mächtigen Drachen konnte das Ende der Welt verhindert werden: Sie opferten sich, um eine magische Kugel zu erschaffen, mit denen die Druun gebannt werden konnten. Kumandra war gerettet, nicht aber der Frieden unter seinen Bewohner*innen: Es entbrannte ein Streit um die Drachenkugel, und das Land, das an einem drachenförmigen Fluss liegt, spaltete sich in fünf regionale Stämme auf – Heart, Fang, Spine, Talon und Tail.

Raya (gesprochen von Kelly Marie Tran) ist die Tochter von Benja (Daniel Dae Kim), dem Anführer des Heart-Stammes und Beschützer der Drachenkugel. Als Benja Delegationen aller anderen Stämme zu einem Bankett einlädt, um die 500-jährigen Differenzen endlich beizulegen, verschuldet Raya eine Katastrophe: Sie zeigt Namaari (Gemma Chan), der Prinzessin von Fang, die Kammer, in der die mächtige Kugel aufbewahrt wird; das Artefakt zerbricht in fünf Teile, jeder Stamm reisst sich ein Stück unter den Nagel. Und zu allem Überfluss werden die Druun dadurch von ihrem Bann erlöst und terrorisieren Kumandra von neuem.

Weitere sechs Jahre später befindet sich Raya auf der Suche nach dem sagenumwobenen "letzten Drachen", mit dessen Hilfe sie ihren Fehler ausbügeln und Kumandra einen will. Doch wie sich herausstellt, entspricht dieser Drache nicht ihren Vorstellungen: Sisu (Awkwafina) ist nicht der erhoffte Druun-Schreck, von dem in den Legenden die Rede ist, sondern ein unbeholfener Schussel.

Wer erklären will, worum es in Raya and the Last Dragon geht, braucht einen langen Atem. Der 59. Film aus der Animationsschmiede von Walt Disney Pictures mag, Abspann nicht eingerechnet, keine 95 Minuten dauern – doch das Fantasy-Epos von Don Hall (Big Hero 6) und Carlos López Estrada (Blindspotting) wartet mit so viel fiktivem historischem Hintergrund, so viel Erzählstoff und mythologischen Andeutungen auf, dass es bisweilen wie der Zusammenschnitt einer Disney+-Serie wirkt.

Die Welt ist aus den Fugen – und Raya (Stimme: Kelly Marie Tran) versucht, sie wieder geradezubiegen.
© Disney
Es steht ausser Frage, dass das Drehbuchduo Adele Lim (Crazy Rich Asians) und Qui Nguyen hier konzeptuell Grosses geleistet hat: Mit Kumandra wird hier eine reichhaltige, lebendige Welt geschaffen, die sowohl in den diversen kulturellen, philosophischen und religiösen Traditionen Ost- und Südostasiens verwurzelt ist, als auch in der jüngeren Popkultur, die sich von denselben Quellen hat inspirieren lassen – vom breiten Kanon ostasiatisch geprägter Young-Adult-Fiction bis hin zum Nickelodeon-Serienhit Avatar: The Last Airbender (2005–2008).

Doch diese Welt erhält keinen Platz, um sich zu entfalten: Raya and the Last Dragon erzählt eine videospielähnliche Item-Sammel-Geschichte nach Schema F: Raya und Sisu reisen von liebevoll ausgearbeitetem Ort zu liebevoll ausgearbeitetem Ort und nehmen es dort in knapp gehaltenen zehnminütigen Sequenzen mit Gegenspieler*innen mit regionsspezifischen Fähigkeiten auf, um schliesslich ein weiteres Stück Drachenkugel zu ergattern. Zeit, um die Lokalitäten etwas näher kennenzulernen, bleibt kaum je, denn es wartet stets schon die nächste Destination.

Raya bittet Sisu (Awkwafina), den letzten Drachen, um Hilfe.
© Disney
Neu ist diese Erzählstruktur nicht, schon gar nicht im Animationsfilm. Allein 2020 folgten sowohl das DreamWorks-Sequel Trolls World Tour als auch die chinesisch-amerikanische Produktion Over the Moon einer ähnlichen Handlung; das Gleiche gilt für einige der besten Werke der jüngeren US-Animation. Doch ein Coraline (2009) oder ein Inside Out (2015) verstanden es, ihre Schauplätze überschaubar und der Filmlänge angemessen zu halten. Wo es sich jene Filme erlaubten, näher auf Figuren, Konflikte und thematische Motive einzugehen, rennt Raya unerbittlich seinem Plot hinterher, auf Kosten der Figurenzeichnung: Die Titelheldin ist eine farb- und tiefenlose Protagonistinnen-Schablone, deren einzige erkennbare Charaktereigenschaft der Wille ist, die ihr vom Skript zugedachte Mission zu erfüllen. Und auch die Mitstreiter*innen, die Raya auf ihrer Reise begegnen – darunter ein einsamer Krieger (Benedict Wong) und eine Baby-Meisterdiebin (Thalia Tran) – dienen vorab als Mittel zum Zweck oder scheinen als kalkulierte Publikumslieblinge mit Aussicht auf eine Spin-off-Serie gedacht zu sein.

Auf der Suche nach den Bruchstücken der magischen Drachenkugel kommt Raya die gewiefte Namaari (Gemma Chan) in die Quere.
© Disney
Das ohnehin schon überladene Fantasy-Actionabenteuer tut sich auch keinen Gefallen damit, seine mythologisch-historischen Versatzstücke mit zeitgenössischen komödiantischen Einlagen "anzureichern", ausgehend von Awkwafinas Casting als Sisu. Die New Yorker Schauspielerin, Komikerin und Rapperin, die vor allem für ihre urkomischen Leistungen als Charakterdarstellerin in Ocean's Eight (2018) und Crazy Rich Asians (2018) bekannt ist, spielt hier weniger eine klar definierte Rolle, als dass sie eine Leerstelle im Drehbuch mit ihrer eigenen Comedy-Persona ausfüllt – was nach ihrer grossartigen dramatischen Darbietung in Lulu Wangs wunderbarem The Farewell (2019) besonders enttäuschend ist. "I'm not the best dragon", warnt Sisu Raya bei ihrem ersten Treffen. Warum genau, bleibt weitgehend ein Rätsel – ausserhalb der Tatsache, dass Sisu, wie die meisten von Awkwafinas Film- und Bühnenfiguren, ein ungelenkes Plappermaul mit akuter Witzelsucht ist.

Es ist diese fehlgeleitete Kombination aus oberflächlich erzähltem Epos und einer familienfreundlichen Version linkischer Impro-Comedy Marke Judd Apatow (Trainwreck, The King of Staten Island), wo Sprüche über Gruppenprojekte geklopft und Meta-Kommentare über peinliche Situationen gemacht werden, an welcher der Film letzten Endes zerbricht. Raya and the Last Dragon wirkt nicht wie eine kohärente Vision, sondern wie eine Sammlung einfach zu vermarktender Einzelteile, die in einem Disney-Marktforschungslabor zu einem franchisentauglichen Monstrum zusammengepappt wurden.

★★

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