Sonntag, 5. Juli 2015

Men & Chicken

Nachdem Anders Thomas Jensen in Adam's Apples (2005) einen Neonazi zum Protagonisten beförderte, bricht der Däne in seiner neuesten Groteske, dem äusserst treffend betitelten Men & Chicken zu neuen Gestaden des Tabubruchs auf.

Per Videobotschaft erfahren die beiden ungleichen Brüder Gabriel (David Dencik), Schriftsteller und Philosophieprofessor, und Elias (Mads Mikkelsen mit einer einmal mehr hervorragenden Darbietung), ein sexsüchtiger Nichtsnutz, nach dem Tod ihres vermeintlichen Vaters, dass sie mit ihm gar nicht verwandt waren. Ihr leiblicher Vater, mittlerweile fast 100-jährig, lebt auf der abgeschiedenen Insel Ork mit seinen Söhnen Franz (Søren Malling), Josef (Nicolas Bro) und Gregor (Nikolaj Lie Kaas) – Elias' und Gabriels Halbbrüder – in einem verlassenen, zerfallenden Sanatorium, auf dem unzählige Hühner, Schweine, Schafe und Hasen frei herum laufen. Als die beiden Städter dort ankommen, in der Hoffnung, ihren echten Vater kennenzulernen, müssen sie feststellen, dass auf Ork, insbesondere im Sanatorium, ausgesprochen eigentümliche Sitten herrschen und hinter verschlossenen Türen so manches dunkle Geheimnis verborgen liegt.

Eine Frage, die sich nach der Sichtung dieses ungemein originellen, dramatisch vorzüglich aufgezogenen Films geradezu aufdrängt, ist die – denkbar fantasielose – nach der Moral oder, weniger spezifisch gesagt, nach der Botschaft, die hier vermittelt werden soll. Diese rabenschwarze, unverblümt unbequeme Komödie, welche bei der Wahl ihrer Szenarien ebenso sorgfältig wie wirkungsvoll Gebrauch von Horror-Motiven macht, macht es ihrem Publikum nicht leicht, einen expliziten Sinn aus ihr herauszulesen. Zelebriert Jensen, indem er nach und nach bizarre wissenschaftliche Experimente in den Fokus rückt, einen wissenschaftskritischen Kurs? Prangert er den dänischen Umgang mit psychisch Kranken, mit abgelegenen Gemeinden, mit beidem an? Oder bezieht er sich gar auf die Nazi-Vergangenheit seines Landes?

Elias (Mads Mikkelsen, links) und Gabriel (David Dencik) begeben sich auf eine abgelegene Insel, um ihren leiblichen Vater kennenzulernen.
© dcm
Das Sanatorium als Schauplatz wie auch die scheinbare mentale Behinderung gewisser Figuren lassen einen wiederum an Lars von Triers Idioterne (1998) denken, wo sich eine Gruppe von Anti-Bourgeois als geistig Behinderte ausgaben. Doch obwohl Jensen aus dem Dunstkreis der dänischen Dogme-95-Bewegung stammt – er arbeitete an den Drehbüchern zu Mifune's Last Song und The King Is Alive mit –, will die Assoziation letztlich nicht aufgehen. Zu ironisch, aber zugleich wohlwollend, ist sein Umgang mit den Figuren; zu abseitig sind ihre Taten – es kommt regelmässig zu Schlägereien, in denen ausgestopfte Tiere als Waffen benutzt werden –, um mit satirischem Unterton zu "edlen Wilden" verklärt zu werden; zu wenig interagieren sie mit der normativen Gesellschaft, um allfällige Scheinheiligkeiten des Bürgertums zu entlarven. (Die Darstellung der Figuren gehört allerdings auch zu den Schwächen des Films, der sie von Anfang an als sympathischer und nachvollziehbarer einzustufen scheint, als sie es jemals sind.)

Nein, Jensen folgt hier einer Moral, die bei allen symbolischen Möglichkeiten – der Nachname von Gabriels und Elias' leiblichem Vater ist Thanatos, nach dem griechischen Dämon des Todes – ebenso simpel wie subversiv ist: Der stimmungsvoll inszenierte Men & Chicken – das Sanatorium allein ist ein filmarchitektonisches Meisterstück – ist auf seine eigene, mitunter verstörende Art und Weise eine Ode an die Menschlichkeit und die Toleranz. Nachdem Herr Thanatos' geheimnisvoller Keller seine Mysterien endlich preisgegeben hat, weigert sich der Film partout, die eigentlich schockierenden Enthüllungen in einem negativen Licht zu präsentieren. Wer niemandem schadet, verdient keine moralische Verurteilungen; Ehre sei dem, der mit sich, seiner Herkunft und seinem Leben im Reinen ist.

★★★★

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